Rezension "Blumen für Otello" von Esther Dischereit

ID 69964
 
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Rezension zum Buch "Blumen für Otello", die am 18. Februar im Rahmen der BücherLese im SR lief.
Das Buch von Esther Dischereit thematisiert die Verbrechen des NSU mit Klageliedern für die Ermordeten und literarischen Stilmitteln wie fiktiven Fakten über die Aktenschredderungen und szenischen Literarisierungen über das Mördernetzwerk. Es enthält einen Übersicht über die Morde und Banküberfälle und einen Anhang mit Interviews von Leuten, die Aufklärung wollen.
"Medial dominierten diese Killer. Ich wollte die Betroffenen und Getöteten sichtbar werden lassen." (Esther Dischereit)

Esther Dischereit: Blumen für Otello. Über die Verbrechen von Jena. Aus dem Deutschen übersetzt ins Türkische von Saliha Yeniyol. Secession Verlag Zürich 2014
Audio
09:22 min, 17 MB, mp2
mp2, 256 kbit/s, Stereo (48000 kHz)
Upload vom 15.04.2015 / 10:22

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Klassifizierung

Beitragsart: Rezension
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Kultur, Politik/Info
Entstehung

AutorInnen: Jenny Warnecke
Radio: RDL, Freiburg im www
Produktionsdatum: 15.04.2015
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Esther Dischereit: „Blumen für Otello“
Manuskript: Jenny Warnecke
Anmod:
Das Buch „Blumen für Otello“ der deutsch-jüdischen Autorin Esther Dischereit thematisiert die Verbrechensserie des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrunds und erschien 2014 im Secession Verlag für Literatur in Zürich. In unterschiedlichen Textformen wie Prosagedichte zu Ehren der Toten, szenisches Schreiben als Anklage gegen die Mehrheitsgesellschaft und „dokumentarischer Fake“ und Übersichten der journalistischen Recherche über die rassistisch motivierten Verbrechen entsteht ein offenes Buch über die politische Jetztzeit in Deutschland. Esther Dischereit widmet den Familien der Ermordeten zärtliche Aufmerksamkeit, um ihr Fremdsein in den Hintergrund treten zu lassen.

Der erste Teil des Buches betrauert die Opfer in Form von Klageliedern. Es folgt das Libretto mit dem Titel „Blumen für Otello. Über die Verbrechen von Jena.“ Der dritte Teil zählt die Verbrechen des NSU auf, gefolgt von einem Anhang mit der Auflistung der Prozesstermine gegen Beate Zschäpe und eine fiktive flächendeckende Schredderanweisung, die sich auf echtes Datenmaterial der Autorin stützt. Dazu gibt es Porträts über Menschen, die Aufklärung über die Verbrechen fordern.
Die „Klagelieder“ setzen mit ihrem Fokus auf die Opfer der NSU-Verbrechen einen neuen Schwerpunkt. Nicht nur die Abwesenheit der Ermordeten wird beklagt, sondern auch die Empathieverweigerung der Mehrheitsgesellschaft, die nur zu bereitwillig Unworte wie „Döner-Morde“ in ihren Sprachschatz aufnahm. Esther Dischereit sagt: „Medial dominieren diese Killer. Ich wollte die Betroffenen und Getöteten sichtbar werden lassen.“ So trauern die „Klagelieder“ um unsere Nachbarn und sind ganz nah an der Perspektive der engsten Angehörigen.
O-Ton 1 Esther Dischereit:
„wer die Getöteten sind und es hatte mich auch beschäftigt, dass die Getöteten überwiegend auch als „Arme“ gelabelt worden waren. Stichwort: „Döner-Morde“. Also als Menschen, die in sozial niedrigen Stellungen sich befinden. Das stimmte durchaus nicht immer, zum Beispiel der Blumenhändler Enver Şimşek war ja schon ein Großkaufmann, ein erfolgreicher Business-Man, aber das Sprechen über diese Familien blieb auf dieser sozial niedrigen depravierten Stufe. Das hatte mich eben auch beschäftigt: Wie kann ich diese Menschen, auf die dann so herunter geblickt wird, ins Licht holen, wie kann ich sie so ins Augenmerk bringen, dass sie von der Ehre und dem Respekt, die man Otello auf Grund seiner Stellung zollte, etwas abbekommen können.“
Auf fragile Weise wird die Leerstelle der Toten im Alltag der Angehörigen aufgezeigt. Die Trauer um die Toten, die nicht mehr kommen, wenn die Familie abends um den Tisch versammelt ist: „alle sind gekommen“, heißt es einmal, „/ einer kommt nicht“ (S. 22). Die Erinnerung an den toten Sohn, einen Blumenhändler, der immer die dunkelroten Rosen mitgebracht hat. Oder ein Mädchen mit dem Kamm, dem Zinken fehlen.
Zitat:
„ich kauf dir einen neuen / nein sagt das Mädchen nein / das ist der Kamm, den mir / mein Vater kaufte als ich“ (S. 20)
Die Ermordeten werden in der Auflistung „Die Verbrechen des NSU“ beim Namen genannt. In den Klageliedern werden sie zum Vater oder Bruder, dessen liebevolle Sticheleien schmerzlich vermisst werden:
Zitat:
„jetzt wünschte ich mir, dass du mich ärgerst oder einen Fußball kaufst“ (S. 24).
Die Toten werden teilweise angesprochen und über die Erinnerungen ins Leben geholt. Dabei findet keine Überhöhung statt. Die sprachliche Ebene, auf der die Trauer kommuniziert wird, ist die Auslassung.
Im Libretto erhellt das vielstimmige Buch blitzlichtartig andere Räume, die auf die Recherchen der Autorin und Berichte in Zeitungen und Fernsehen zurückgehen. Esther Dischereit verortet in diesem Teil die Anklage:
O-Ton 2 Esther Dischereit:
„Wo seid Ihr wann gewesen?
Wo ist was unterblieben?
Warum?“
Zeitgleich musste ich Recherchen durchführen, sonst hätte ich auch diese Teile gar nicht schreiben können. Ich musste Akten lesen, ich musste mir Details zusammen suchen…“
Das Buch vermeidet reißerische Details über die Täter, die nur als Kürzel A. und B. in einem nach Sagrotan riechenden Wohnwagen auftreten. Deren Hass wird indirekt transportiert in der Erwähnung von Sonnwendfeiern und auch offen in den NS-Codes des „vorigen Jahrhunderts“, wie Dischereit schreibt.
Zitat:
„Der Herr hatte seinen Unterarm mit der ausgestreckten Hand aufgehoben und verharrte einen Moment in dieser Haltung, die seinen Vortrag unterstrich.“ (S. 38)
In weiteren berichtartigen Texten führt das Libretto die Lesenden in absurd anmutenden Sitzungen ehemaliger V-Leute, sowie Mitarbeiter unterschiedlicher Geheimdienste und der Generalbundesanwaltschaft, und von des Bundeskriminalamt, Bundesamt für Verfassungsschutz‘, Landesamt für Verfassungsschutz‘ und Militärischer Abwehrdienstes, die in „Konversions“-Verfahren nun einer anderen Identität zugeführt werden sollen. Personen streiten über eine verlorene Uniform. Eine andere Szene schildert die Begeisterung quiltender Frauen, die Klu-Klux-Klan-Umhänge ihrer Männer mit der Sticknadel verzieren.
Oder es werden Polizisten gezeigt, die auf einer Raststätte zu Mittag essen, während Polizeiakten über Zwangsprostitution aus dem Kofferraum angeblich „geklaut“ werden. Die unfassbare Tatsache der angeordneten Vernichtung der Akten, die als Beweismaterial dienen könnten, zu dem Zeitpunkt, als der Generalbundesanwalt die Ermittlungen einleitet, führt Dischereit zu einem neuen künstlerischen Zugang:
O-Ton 3 Esther Dischereit
„Das ist sowas wie der „dokumentarische Fake“ oder „dokumentarische Fiktion“ […] Und da habe ich dann zum Beispiel die Form gewählt, mich in die Position des {hier kann ein Versprecher evt. geschnitten werden} Sicherheitsunternehmens zu begeben, das diese Schredderaktion ja dann in großen Umfang auch schlicht zum Erfolg führen muss. Das führt dazu, da müssen ja Anweisungen erteilt worden an Beschäftigte, da müssen Abläufe organisiert werden: „von- bis können sie abholen“ und „danach können Sie auch mit Diskretion rechnen“. Da gibt es einen dokumentarischen Fakt, der ist ganz unbestritten – aber den genauso dokumentarisch aufzublättern machte gar keinen Sinn mehr. Es gab so viele Skandale, dass man über gar keinen mehr erschrecken konnte. Also habe ich diese etwas seltsame Form der dokumentarischen Fiktion gewählt, die immerhin dazu geführt hat, dass viele Menschen gefragt haben, ob ich auch die Genehmigung dieser Firma gehabt hätte.“
Das „Nicht-Wissen“ und „Vergessen-Haben“ wichtiger Zeugen vor dem NSU-Ausschuss im Bundestag wird offen gelegt. Kontrastiert werden diese fiktiven Szenen mit Texten von Transparenten einer Demonstration, die am 4.11.2013 in Berlin stattfand mit der Parole: „Wer schützt uns vor’m Verfassungsschutz?“ und mit Biografien von Menschen, denen die Wahrheit am Herzen lag wie dem Polizisten Mario Melzer, der als Zeuge vor dem Untersuchungsausschuss im Deutschen Bundestag ausgesagt hat. Darauf folgt die Liste mit Namen der Menschen, die in Deutschland zwischen 1990 und 2012 aus rechtsradikalen Motiven umgebracht wurden – insgesamt 152. Die Bundesregierung beziffert die Opferzahl hingegen auf 63. Die Zahl 63 wird zum Symbol für den tiefen Zweifel an dem staatlichen Aufklärungswillen im Bereich rechtsextremistischer Verbrechen. Diese Zahl unterschlägt 89 Menschen, um die nicht getrauert wird. Der mediale Mythos eines „Mörder-Trios“ ist angesichts dieser verzweigten Strukturen nicht haltbar.
Esther Dischereit entwirft eine Begegnung im Jenseits. Der Blumenhändler Enver Şimşek, der als erster innerhalb der Mordserie am 9. September 2000 in Nürnberg erschossen wurde, trifft auf Otello und findet eine Gemeinsamkeit mit ihm: Das beiden von der Mehrheitsgesellschaft angeheftete „Schwarz-Sein“. Es hat sich in die Selbstwahrnehmung eingefressen. Die Zuschreibung des Minderwertig-Seins führt zu einer Stigmatisierung, die zu einem selbstzerfleischenden Zweifel anwächst, zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung des Verraten-Werdens. Aus dem Bild, das die weiße Mehrheitsgesellschaft zeichnet, die mit dem weißen Finger auf die dunkle Haut zeigt, gibt es kein Entrinnen. In der Sprache des Dramas sprechen sie von Feldherr zu Großhändler und trinken einen Tee zusammen. Im vollen Bewusstsein ihrer Verwundbarkeit innerhalb der Mehrheitsgesellschaft analysieren sie ihre Situation. Enver schildert Otello, wie ein Polizist seine Frau verhörte:
Zitat:
„Er ging zu meiner Lieben, der Mutter meiner Kinder, / und zeigte ihr das Foto einer Frau: „Sie sehen hier / die Geliebte Ihres Mannes. Er war ihr verfallen, um / ihrer goldenen Haare willen.“ / Meine Frau wurde ohnmächtig.“ (S. 74)
Enver und Otello eint auch die Trauer um ihre verratenen und hinters Licht geführten Frauen. Während die zwei Mörder auf dem Floß mit ihrem Mordwerkzeug in ihrem Hass verbrennen wie in Dantes Höllenfeuer, schenkt Enver Otello seine Blume, die er in der Hand hielt, als er starb.
Esther Dischereit spricht nicht im Namen der Opfer. Aber, so ihr Anspruch, die Texte müssen vor den Betroffenen Bestand haben. Das Buch ist konsequent zweisprachig: deutsch und türkisch in der Übersetzung von Saliha Yeniyol. Die Lesungen, die Esther Dischereit zusammen mit DJane IPEK macht, werden zum großen Teil in türkischen Gemeinden durchgeführt und finden großen Anklang.

Esther Dischereit: „Blumen für Othello. Über die Verbrechen von Jena“
Secession Verlag für Literatur, 214 Seiten, 29,95 €