"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Ärztezeitung -

ID 70442
 
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Zugfahren bildet. Naja, Autofahren auch. Autofahren vielleicht noch mehr, denn Autofahren ist auch fortwährende zwischenmenschliche Kommunikation. Im Zug und vor allem mit dem Zug wird kaum kommuniziert, wenn man mal vom höflichen Informationsaustausch beim Ein- und Aus­steigen absieht. Eine Automobilistin dagegen macht ununterbrochen Mitteilungen, sie stellt den Blinker, sie fährt langsam oder schnell an, sie zeigt ihre Toleranz, indem sie keine Radfahrer und Fußgänger überfährt und so weiter.
Audio
11:49 min, 14 MB, mp3
mp3, 160 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 12.05.2015 / 10:11

Dateizugriffe: 612

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Umwelt, Wirtschaft/Soziales
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 12.05.2015
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Mit dem Auto kommt man auch in Gegenden, in welche ein Zug nie fahren würde, vom Alpenpass bis hin zu den Vorstädten, insofern ist das Auto also eine echte Volkshochschule. Und allein das Erlernen der Fahrtechnik mit Gas- und Bremspedal und Kupplung, das Schalten und Walten mit und ohne Automatik und das Berücksichtigen der Verkehrsregeln stellt das hohe Lernniveau der Verkehrsteilnehmerinnen täglich, stündlich, minüt­lich unter Beweis. Da muss sich der Zug natürlich hinten anstellen mit seinen ein­dimen­sio­nalen Passiv-Sitzplätzen. Und trotzdem bildet auch Zugfahren. Neulich fiel mir zum Beispiel eine Aus­gabe des deutschen Ärzteblattes in die Hände, deren Haupttitel hieß: «Branding im Kran­ken­haus». Ausprägung von Markennamen im Spital – wie darf ich mir so etwas vorstellen? Stefan Bär, der Autor des Beitrages, schildert einleitend die Problematik wie folgt: «Die Veränderungen der Krankenhauslandschaft haben einen Druck erzeugt, sich auf dem Markt zu positionieren, welcher zumindest semantisch im Bereich der Gesundheitsversorgung längst etabliert ist.» Ein erstes Grundproblem identifiziert er im Widerstand innerhalb des Sektors, sich als Dienstleister zu gebären, und zwar wie folgt: «Mediziner orientieren ihr Tun in erster Linie an den professionellen Standards und nicht an den Wünschen ihrer Patienten.» - Ja Donnerwetter nochmal, das stimmt! Und da stößt dann die Markenbildung rasch an ihre Grenzen. Ein Krankenhaus kann sich selber hundert Mal als das beste Krankenhaus in, was weiß ich, Leipzig Süd anpreisen, das medizinische Personal darin wird trotzdem weiter behandeln, operieren, Medikamente abgeben, Verbände wechseln und so weiter und so fort. Stefan Bär gibt zu bedenken: «Patientenbefragungen zeigen empirisch, dass Qualität als selbstverständlich vorausgesetzt, also gar nicht infrage gestellt wird. Es herrscht hier eine Art Urvertrauen in die Medizin und ihre Qualität. (...) Es ist die im medizinischen System institutionalisierte Expertise, in die Vertrauen besteht, und die Medizin selbst besitzt bereits so viel symbolisches Kapital, dass Qualitätsparameter keinen zusätzlichen Reputationsgewinn bedeuten.» Und das ist ein echtes Problem für die Markenbildung, für das Branding von Kranken­häusern insgesamt. Soweit es sich allein um Schönheitskliniken und andere Spezialkliniken handelt, trifft dies natürlich nicht zu, aber davon spricht Stefan Bär nicht, sondern von gebotener Vorsicht und von Schwierigkeiten bei der Übertragung ökonomischer Annahmen auf das Gesund­heits­system und auf das Subsystem Hospital, und ich für mich ziehe das Fazit : Dann lassen wir das mal schön bleiben.

Im medizinischen Teil findet sich eine erstmalige Analyse zur Abgabe nutzloser Medikamente an ältere oder alte Menschen, welche in dieser Studie beziehungsweise im Fachjargon PIM genannt werden, potenziell inadäquate Medikation. Fassen wir die Zusammenfassung zusammen: Von knapp über 800'000 älteren PatientInnen erhielten knapp über 200'000 Personen im Jahr 2007 mindestens eine PIM-Verordnung, Frauen mehr, Männer weniger. Ein Viertel also, immerhin, und in der Schlussbilanz sprechen die Autoren sogar von einer Verordnungsprävalenz von PIM bei älteren Menschen von 28.3%. - Das heißt allerdings noch nichts über allfällige Kontraindikationen, diese PIMs werden in aller Regel zunächst nur nutzlos sein; sie haben die Tendenz, das UAW-Risiko zu steigern, also das Auftreten Unerwünschter Arzneimittelwirkungen, und diese Abkürzung ist kein Scherz, die steht ebenso im Ärzteblatt wie die Abkürzung PIM. Zuoberst auf der Rangliste figurieren bei den PIM übrigens Psycholeptika und Psychoanaleptika. Weitere Schluss­folge­run­gen, zum Beispiel zu den Gründen für die Verschreibung, lassen sich aus dieser Studie noch nicht ziehen, und das wäre ja auch noch interessant, weil nämlich meines Wissens ältere PatientInnen gerne mal selber auf die Verschreibung eines Medikamentes drängen.

Dann folgen Reaktionen auf Beiträge zur Vertebroplastie von Wirbelkörperfrakturen, zur Chirurgie der Adipositas beziehungsweise zu den anschließend notwendigen plastisch-chirurgischen Ein­grif­fen, namentlich die Beseitigung überflüssiger Hautlappen und zu einer klinischen Leitlinie zu un­kom­pli­zierten Harnwegsinfektionen. Wir lesen einen Beitrag zu funktionellen Darmbeschwerden bei Erwachsenen, wobei das Humorpotenzial von Fäkalien und Blähungen derart hoch ist, dass ich nicht darum herum komme, aus dem Kasten 6 zu zitieren, in dem medikamentöse Therapieoptionen bei funktionellen Darmbeschwerden aufgeführt werden, eben namentlich zu Blähungen, abdo­mi­na­ler Distorsion und Flatulenz, und zwar: Entschäumer, Phytotherapeutika, Probiotika wie Bifido­bac­te­rium infantis, Bifidobacterium animalis oder Lactobacillus casei Shirota sowie Rifaximin. Um die Angaben zu Diarrhö, Obstipation, Schmerzen und Stuhlunregelmäßigkeiten mache ich jetzt trotz­dem einen Bogen.

Weiter finden sich im Heft eine Abteilung «Politik», unter anderem mit einer Meldung über die Eröffnung einer Bereitschaftspraxis in einem Krankenhaus in Potsdam oder über den Sanitätsdienst der Bundeswehr, wo Personalengpässe die medizinische Versorgung erschweren; die EU-Richtlinie Elektromagnetische Felder scheint Sorgen um die Zukunft der Magnetresonanz-Diagnostik zu wecken, und zwar wird das Problem wie folgt geschildert : «Eine Neufassung der Richtlinie von 2004 beinhaltet derart strenge Grenzwerte, dass die Magnetresonanztomographie MRT nach Meinung von Fachleuten in der Patientenversorgung und in der Forschung kaum mehr zum Einsatz kommen könnte. Die Regelungen sollten im April 2008 in Kraft treten. Um dies zu verhindern, gründeten EU-Abgeordnete, Patientengruppen, Wissenschaftler und die medizinischen Gesell­schaf­ten der europäischen Radiologen und Neurologen 2007 die Alliance for MRD und forderten eine Ausnahmeregelung für den medizinischen Bereich», was wohl eher ein Muster für die Abläufe in Brüssel ist als für das Problem selber. Jedenfalls entschied der für den Arbeitnehmerschutz zu­stän­dige EU-Kommissar Vladimir Spidla im Oktober 2007, die Richtlinie abzuändern. In der Neufassung sollte der Medizinsektor ausgenommen werden; aber eine ganze Reihe von EU-Mitgliedländern, u.a. Deutschland, verweigerte zunächst die Unterstützung von wegen eben Arbeitneh­men­den­schutz und so. Und jetzt lese ich: « Aufgrund der anstehenden Diskussionen mit den Mitgliedstaaten ist davon auszugehen, dass die Beratungen der Richtlinie nicht bis Ende April 2012 abgeschlossen sein werden» - wie jetzt? Ende April 2012? Wir schreiben Mai 2015! - Und da fällt mein Blick auf die Fußzeile: Deutsches Ärzteblatt Jahrgang 109, Heft 5, 3. Februar 2012.

Reisen bildet? Ach woher! Wie soll ich mich denn bilden, wenn die Ärztinnen nicht etwa ihre aktuellen Branchenhefte im Zug liegen lassen, sondern dreijährige Ausgaben? Was würde zum Beispiel der Schaffner sagen, wenn ich eine Fahrkarte aus dem Februar 2012 vorweisen würde? Mit solchen Aktionen gefährden die Ärzte doch genau jene medizinische Grundversorgung, die sie eigentlich sicherstellen sollten. Und wer leidet am Schluss darunter? Ihr, geschätzte Hörerinnen und Hörer, die ihr im Mai 2015 eine Rezension aus längst untergegangenen Zeiten mit einem schwarz-gelben Gesundheitsministerium hört anstelle der aktuellsten Angaben zum Adenokarzinom der Speiseröhre, zur tiefen Thrombose oder zum Plattenepithelkarzinom der Bindehaut – und sogar diese Beispiele stammen noch aus jenem Altpapier, welches die Deutsche Bahn verantwortungslos herum liegen lässt.

Entschuldigung, Entschuldigung, Entschuldigung. Da greife ich doch lieber nach dem Elite Report extra aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung zur Ausgezeichneten Vermögens­ver­wal­tung, welches mir vielleicht nicht so sehr mit konkreten Anlagetipps unter die Arme greift, ich habe sowieso nichts anzulegen, sondern vielmehr mit kunstvollen Titeln wie «Nur wahre Zuverlässigkeit schützt», «Qualität kann man erkennen», «Mit Kompetenz und Teamwork zum Erfolg», «Die konservative Mischung macht's », «Risikolos war gestern, heute müssen Risiken gemanagt wer­den», «Ein Plädoyer für die Aktie», «Vermögen zukunftsfähig gestalten», «Die gute Durch­mi­schung unterschiedlicher Vermögensklassen ist entscheidend», «Aktien sind Pflicht – Absicherung ist die Kür» und so weiter. Das Ganze wird noch garniert von vielen Bildern mit Pferden und Kut­schen. Unter einem besonders schönen Gespann lässt sich die Fürst Fugger Privatbank vernehmen zur Frage: «Vermögensverwaltung – quo vadis?» – Und an dem Punkt ist es klar, wohin es geht mit dem Elite Report, nämlich in den Papierkorb.

Wenden wir uns den wirklich wichtigen Dingen zu. Was hat der Bahnstreik denn nun eigentlich ge­bracht, dem Land und seinen Lokomotivführerinnen? Für mich war es zunächst mal, abgesehen von den unangenehmen Nebenwirkungen für Menschen, die auf die Züge angewiesen sind, eine durch­aus erfrischende Erfahrung, dass es nach wie vor Berufsgruppen gibt, die noch streiken wollen und können. In einem Zeitalter, da die Argumentation rund um Arbeitsplätze und so weiter zu­neh­mend oder nur noch national geführt wird, gilt ja ein Streik im Normalfall als schädlich für den Standort und damit fürs Bruttoinlandprodukt und damit eben für die ganze Nation. Für einen ordentlichen Streik muss man sich also schon auf ausgewählte Sektoren kaprizieren, Bereiche, die man nicht sofort auslagern kann oder wo die internationale Konkurrenz nicht umgehend Marktanteile weg­schnappt, und hier eignet sich die Eisenbahn natürlich durchaus. Insgesamt war es also ein willkommenes Lebenszeichen einer Arbeiterklasse, welche vermutlich in ihrer ursprünglichen Gestalt gar nicht mehr existiert, aber was solls.

Mit letzter Sicherheit war dieser Streik vor allem für die Gewerkschaftsbewegung sehr positiv, auch wenn die Spitzen der großen Gewerkschaften mit dem neuen Tarifvertragsgesetz die kleinen Orga­ni­sationen offensichtlich aushebeln wollen. Sie sollten nicht vergessen, dass ihre eigene Identität nach wie vor zwei Gesichter hat, einerseits als verlässlicher Sozialpartner, welcher selbst­ver­ständ­lich die Interessen der Unternehmen mit berücksichtigt, aber anderseits halt doch als Kampf­orga­ni­sa­tion, welche hin und wieder die Zähne zeigt oder die Ärmel zurückkrempelt oder was weiß ich. Gerade in einem Zeitpunkt, da der ehemalige Vorsitzende der IG Metall zum obersten Chef des 220-Milliarden-Konzerns VW aufrückt, ist es ein echt hygienischer Vorgang für die Gewerkschafts-Identität, wenn die kleine Gewerkschaft der Lokführer mit sehr großer Öffent­lich­keits­wirk­samkeit die andere, sozusagen verborgene und langsam in Vergessenheit geratende Seite dieser Selbst­ver­tei­di­gungs­organisationen aufzeigt. Die Figur Claus Weselsky bietet einen sehr willkommenen Aus­gleich zum kommissarischen VW-Aufsichtsratschef Berthold Huber.

Ob die Aktion für die GdL selber einen greifbaren Nutzen brachte beziehungsweise bringen wird, kann ich nicht beurteilen, aber die großen Gewerkschaften und die Dachverbände müssten sich eigentlich zu gegebener Zeit umfassend, wo nicht sogar auf den Knien bei ihr bedanken.