How to fight back and where

ID 71239
1. Stunde (Hauptteil)
recycling Studiogepräch mit Hans Joachim Lenger (agoradio) auf der Grundlage seines transmitter Artikels "Dritte Ökonomie" - Verteidigung ist nicht konservativ.
Audio
59:36 min, 55 MB, mp3
mp3, 128 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 23.06.2015 / 15:13

Dateizugriffe: 198

Klassifizierung

Beitragsart:
Sprache:
Redaktionsbereich:
Entstehung

AutorInnen: Redaktion 3 - recycling
Radio: FSK, Hamburg im www
Produktionsdatum: 22.06.2015
Folgender Teil steht als Podcast nicht zur Verfügung
2. Stunde
Audio
01:00:53 h, 56 MB, mp3
mp3, 128 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 23.06.2015 / 15:25
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Eine „dritte Ökonomie“



Der Bettler, der auf der Straße seinen Plastikbecher hinhält; der Obdachlose oder Rentner, der Mülleimer nach Flaschen durchwühlt; Menschen, die an öffentlichen „Tafeln“ um Lebensmittel anstehen, deren Verfallsdatum überschritten ist; oder Sammelstellen, die Bekleidung oder Möbel umsonst oder für ein geringes Entgelt abgeben – in ihnen kündigt sich seit langem an, was als „dritte Ökonomie“ zusehends an Bedeutung gewinnen wird. Diese Ökonomie führt Dinge des alltäglichen Gebrauchs in einen Kreislauf des Nutzens zurück, die andernfalls zum „Abfall“ gehören würden.
Was in südeuropäischen Ländern – vor allem Griechenland – als Eskalation des Elends längst zum Alltag Hunderttausender wurde, zeigt sich zumindest rudimentär auch in den wirtschaftlich noch konsolidierten Gesellschaften des europäischen Nordens an. Kaum dürften Zweifel daran bestehen, dass sich auch hier Phänomene einer Verelendung rapide verschärfen. Die wuchernde Kinderarmut, die bevorstehende Altersarmut, das Anwachsen sogenannter Niedriglohnsektoren lassen absehen, was bevorsteht. Die Auswirkungen jener Demontage des Sozialen, die seit Jahren betrieben wird, werden sich erst in Jahren herausstellen. Sie werden umso drängender machen, was als „dritte Ökonomie“ einer „Subsistenzwirtschaft“ bezeichnet werden könnte.
Bekanntlich endet das ökonomische Verhältnis in der „ersten Ökonomie“ an der Kasse eines Geschäfts oder Supermarkts. Hier werden Wert und Mehrwert realisiert. Hier ist die letzte Station, an der die Produktion und Zirkulation von Gütern einen ökonomischen Ausdruck findet. Geld wird gegen Ware getauscht. Deren weitere Schicksale im Gebrauch bleiben dann ökonomisch gleichgültig. Der Begriff des „Verbrauchers“ bezeichnet dies recht gut. Sobald er bezahlt und den Supermarkt verlassen hat, verliert sich seine Spur im Privaten, Unbestimmten, Beliebigen. Wie ein Enddarm der Gesellschaft vernutzt er, was ihm zugeführt wurde. Was er schließlich ausscheidet, wird dem „Müll“ zugestellt.
Die „dritte Ökonomie“ eröffnet an diesem Punkt neue Strukturen. Sie macht sich an dem fest, was zuvor ohne Bedeutung, weil bloßer „Abfall“ war. Auf ihre Weise schlägt sich in dieser Ökonomie nieder, dass die politische Caritas, die Sozialhilfe, einer Verelendung nur unzureichend begegnen kann, die zusehends um sich greift. Mit ihr hatten staatliche Systeme Strukturen einer „zweiten Ökonomie“ geschaffen, um die Risse abzudichten, die den Kapitalprozess als „Krise“ heimsuchen. Doch zusehends überfordert diese Krise die Fähigkeiten dieser Sozialsysteme, das Gesamtsystem stabil zu halten und seine eklatanten Risse zu schließen. Die Demontage des Sozialen durch die rot-grüne Regierung, das Hartz-4 genannte Programm einer Zerrüttung öffentlicher Fürsorge, zeigt unübersehbar an, was bevorsteht. Denn denkt man an grassierende Forderungen einer „Agenda 2020“, die mittlerweile erhoben werden, so ist ein Ende nicht abzusehen.
Nicht weniger bedrohlich als die ökonomische ist die kulturelle Dimension dieser Entwicklung auch psychodynamisch. Die Erfahrung tiefgreifender Ohnmacht, eines Ausgeliefertseins greifen als Resignation, Gleichgültigkeit und Apathie um sich. Die Zahl depressiver Erkrankungen schnellt in die Höhe, psychotische Schübe werden zum Alltag. Angstattacken greifen um sich, denen die Einzelnen hilflos ausgeliefert bleiben. Wirkt das eine lähmend auf die Affektlagen der Unterworfenen ein, so zerstören psychotische Abstürze zusehends deren Fähigkeit, biografische Perspektiven zu konstruieren, die so etwas wie Kontinuität erzeugen könnten. Hier zeigen sich die medizinischen Apparate nicht weniger überfordert als die des Sozialen. Nur mit großer Mühe und Geduld sind noch Termine in Ambulanzen und bei Therapeuten zu bekommen, und weil die Krankenkasse immer weniger zahlt, zieht sich das psychische Elend in die Refugien einer Privatsphäre zurück, die zusehends ortlos wird.
Man weiß um die Virulenz, die von diesen Ortlosigkeiten einer Ent-Ortung ausgeht. Ende der 20er, Anfang der 30er Jahre waren die Sturmlokale der nationalsozialistischen SA nicht nur Ausgangspunkt des Terrors. Mehr noch boten sie den ortlos Gewordenen eine „Heimat“ – zunächst durch Kleidung und Essen, dann durch Strukturen einer Führung, die bedingungslose Gefolgschaft verlangte. Umso fanatischer unterwarfen sich die psychisch Depravierten deren Versprechen, im Terror zu neuem Glück, zu neuer Größe zu finden. Zwar steht nicht zu erwarten, dass eine erneute Formierung der ortlos Gewordenen erneut diese Gestalt annehmen wird. Deren neue Mobilmachung dürfte eher die Physiognomie der Wohlmeinenden, der Sittsamen und Ordnungsliebenden annehmen, die – technologisch hochgerüstet – den Apparaten der Unterwerfung überall zur Hand gehen werden, wo sie überfordert sind. Wer also prägt den „Geist“, der aus den Ent-Ortungen aufsteigt?
Längst finden verschwiegene Auseinandersetzungen darüber statt, welche Kräfte Hegemonie über diese „dritte Ökonomie“ erlangen werden, die Strukturen einer Subsistenzwirtschaft im Innern hochentwickelter Kapitalismen wiederkehren lassen. Denn diese Strukturen entziehen sich den Regeln des Normalen; mehr noch: sie tragen subtil anarchischen Charakter. Denn, wie selbst Niklas Luhmann feststellt. „Eine solche Wirtschaft läuft ohne nennenswerte monetäre Vermittlung ab. Ihr fehlt daher die über den Geldmechanismus laufende Zentralisierung, und ihr fehlt vor allem das durch Preise ermöglichte Beobachten des Beobachtens. Die Bedürfnisse lassen sich mehr oder weniger durch eigene Aktivitäten des Bedürftigen bzw. ‚im Hause’ befriedigen.“ (Die Wirtschaft der Gesellschaft, S.97)
In diesen Ökonomien kehrt – unter Bedingungen eines entwickelten Kapitalismus – der Ausnahmezustand in Gestalt einer Alltagsnormalität wieder, die sich von den Systemen einer ersten und zweiten Ökonomie losgelöst hat. Vor allem die Stadtteile werden hier zum Schauplatz von Auseinandersetzung darum, welcher Logik diese „dritten Ökonomien“ folgen, welche Richtung sie einschlagen werden. Wer etwa hält ein Minimum an medizinischer Versorgung aufrecht, wenn die Versicherung ausfällt? Wer garantiert, dass Kinder nicht hungrig zur Schule gehen müssen? Dass Familien zu essen und ein Dach über dem Kopf haben? Wie lassen sich psychische Zusammenbrüche der Einzelnen auffangen? Wie bilden sich Strukturen einer Öffentlichkeit, in denen die Ent-Orteten andere Orte finden, die ihnen ein Minimum an Halt gewähren, und sei es nur einer Kneipe? Wie also lässt sich verhindern, dass sich ganze Segmente des Lebens in individuelle Agonien zurückziehen, um zum passiven Spielball der Mächte zu werden oder sich in vielerlei Art reaktionären Mobilmachungen zu öffnen? In weiten Bereichen wird eine Beantwortung solcher Fragen offenbar „zivilgesellschaftlichen“ Charakter tragen, wird sie sogar Züge des Karitativen annehmen. Doch weil hier alle Probleme um Strukturen auftauchen, die den Ausnahmezustand zur Alltagsnormalität werden lassen, tragen mögliche Antworten mehr noch politischen Charakter.
„In Verteidigung der Gesellschaft“ – dieser Titel, den Michel Foucault in anderen Zusammenhängen benutzte, dürfte zusehends ins Zentrum der Frage nach einer „dritten Ökonomie“ führen. Denn die Logik, mit der sich der neueste Kapitalismus durchsetzt, ist die der blitzartigen Zertrümmerung tradierter Strukturen. Was Naomi Klein die „Schock-Strategie“ nannte, folgt immer demselben Muster. Überfallartig bemächtigen sich die ökonomischen, politischen und militärischen Apparate gesellschaftlicher Strukturen, die bislang noch ein Minimum an Sicherheit versprachen. Wie in Blitzkriegen durchlaufen die Reformer, die Experten, die Evaluatoren der Sozialtechnokratien diese Strukturen, um sie in Fragmente zu zerstäuben und diese Fragmente im Namen kalter Effizienz neu zu montieren. Was in der ultraliberalen Zerstörung jedweder Reste einer Kontinuität resultiert, was sich in der Unmöglichkeit eines biografischen Entwurfs, im Verlust jedes sozialen und kulturellen Halts niederschlägt, als Ausnahmezustand der Verzweiflung, der Depression und Angst in den psychischen Verfassungen der Einzelnen wiederkehrt, ist notwendige Folge solcher Blitzkriege.
Die Frage nach möglichen Strukturen einer „dritten Ökonomie“ dürfte hier unerlässlicher Bestandteil aller Strategien sein, die nach einer „Verteidigung der Gesellschaft“ fragen. Denn diese Verteidigung trägt keinen konservativen Charakter. Sie konstatiert, dass die herrschenden Mächte der Ökonomie begonnen haben, alles preiszugeben, was gesellschaftlichen Charakter trüge. Umso virulenter lässt dies die Frage nach einer „kommenden Gesellschaft“, einer „kommenden Demokratie“ oder einer „kommenden Ökonomie“ werden. Welchen Verlauf die kommenden Revolten auch nehmen werden, die sich dieser Frage verschreiben – sie werden ohne das „Hinterland“ einer „dritten Ökonomie“ nicht auskommen. Hier endlich schließen Fragen nach der Zivilgesellschaft und einer kommenden Militanz unauflösbar aneinander an, indem sie das Zivile selbst erfasst.

Hans-Joachim Lenger