"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - AIIB -

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So ganz sicher ist es nicht, ob die Einschätzung des früheren Finanzministers Larry Summers wirk­lich zutrifft. Er meint, dass der Juni 2015 in die Geschichte eingehen wird als jener Monat, in wel­chem die Vereinigten Staaten ihre Rolle als wichtigster Akteur des Weltwirtschaftssystems ein­ge­büßt hätten.
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09:58 min, 23 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 14.07.2015 / 12:50

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Umwelt, Wirtschaft/Soziales
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 14.07.2015
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Wir hier in der neutralen Schweiz hegen da vorderhand noch eine gewisse Skep­sis, denn die globale Vormachtstellung der USA beruht schon seit mehreren Jahren nicht mehr auf der Wirt­schaftskraft, sondern vielmehr auf der Militärmacht. Ihr erinnert Euch vielleicht noch an die Dis­kus­sio­nen im US-Kongress darüber, wie viele Regionalkriege die USA gleichzeitig zu führen imstande sein müsse und welches Militärbudget zu diesem Behufe aufrecht zu erhalten sei. Bei anderen Ländern, zum Bei­spiel bei Russland, würde man schon längstens von drohendem Ruin sprechen; aber es ist nun mal einfach so, dass man sich gar nicht zutode rüsten kann, wenn man mit den richtigen Waf­fen­systemen auf irgend eine Hundsart die Verbündeten und sowieso die nicht verbündeten Staaten dazu anhalten kann, die eigene Wirtschaft und damit namentlich die eigene Rüstungs­indus­trie zu finanzieren. Ich benutze die Gelegenheit, um wieder mal ein paar Zahlen aus dem großen Fakten­buch der CIA fallen zu lassen: Das Bruttoinlandprodukt betrug kauf­kraft­be­reinigt im Jahr 2014 etwa 17.5 Billionen US-Dollars, also, um das wegen der frühmodernen Sprach­ver­schiebung gleich zu klären, 17.5 trillions oder 17'500 billions US-Dollars, was auf Deutsch 17'500 Milliarden US-Dollar wäre. Die Militärausgaben lagen bei knapp 5% des Brutto­inlandprodukts, also bei etwa 8 Billionen; die Exporte machten 1.61 Billionen aus und die Importe 2.33 Billionen.

Wovon sprach also Larry Summers? Der tiefere Grund für seine Feststellung war sicher die ein Jahr zuvor eingetretene Lage, dass die USA bezüglich des kaufkraftbereinigten Bruttoinlandsprodukts pro Kopf zum ersten Mal seit vollen einhundert Jahren weltweit nicht mehr die Spitzen­posi­tion bekleideten, sondern von China überholt wurden. Nominal stehen die Vereinigten Staaten mit 54'800 US-Dollar pro Kopf immer noch weit vor China mit rund 13'000 US-Dollar, aber eben. Den konkreten Anlass bot jetzt die Gründung der Asiatischen Infrastruktur-Investitionsbank am 29. Juni in Peking, der gegenwärtig 57 Länder angehören, unter anderem Israel und der Iran, Luxemburg, Deutschland, Katar, die Schweiz, Russland und so weiter, nicht aber die Vereinigten Staaten. Die AIIB soll eine Alternative zur Asiatischen Entwicklungsbank werden, in welcher angeblich Japan den Ton angibt, dessen Nationalflagge man unter den AIIB-Gründungsmitgliedern ebenso wenig findet wie jene der USA, und die Chinesen entschlossen sich zu dieser Gründung, als das US-amerikanische Parlament sich immer wieder weigerte, ihnen im Rahmen des Internationalen Währungsfonds mehr Kompetenzen und mehr Stimmrechte einzuräumen; die AIIB ist geplant als Konkurrenz-Institution zu den Bretton-Woods-Institutionen, und der ehemalige US-Finanzminister Summers scheint davon überzeugt zu sein, dass inskünftig Großprojekte auch ohne die Zustimmung der Vereinigten Staaten von Amerika realisierbar werden. Larry Summers stellt hiermit indirekt ein weiteres globales US-amerikanisches Machtinstrument vor, nämlich die Bestimmungshoheit in den jeweiligen globalen Finanzinstitutionen.

Wie gesagt, ist es noch absolut nicht sicher, ob diese Bank mit einem vorderhand relativ beschei­de­nen Eigenkapital von 50 bis 100 Milliarden US-Dollars tatsächlich ihren historischen Auftrag im Sinne der Erfinder und Gründerinnen ausüben kann, oder ob sie am Schluss nur als taktisches Ma­nö­ver in die Geschichte der globalen Institutionen eingehen wird. Aber auf jeden Fall stellt die Schaffung dieser kleinen unabhängigen Weltbank-Schwester einen weiteren Schritt dar bei der Entwicklung Chinas zur Weltmacht. Und vergessen wir nicht: Auch die Schweiz ist Gründungs­mitglied der AIIB.

Ein immer lauter knarrendes Begleitgeräusch der Globalisierung besteht in den Anstrengungen zur Zivilisierung der zivilisierten Nationen, nach wie vor im Rahmen der politischen Korrektheit. Wir sind heute Welten entfernt von den Frei- und Frechheiten, welche sich gewisse Kreise noch vor vierzig Jahren heraus nahmen. Letzthin habe ich ein Minimal-Music-Konzert gehört für vier Klaviere, das im Jahr 1979 von einem Schwarzen geschrieben wurde, der später drogensüchtig und verarmt und vereinsamt starb, und das schöne Stück heißt nicht anders als «Evil Nigger». Heute würde sich niemand mehr getrauen, eine E-Musik-Komposition so zu nennen. Und wenn man gar in jene Publikation blickt, welche als Vorläufer von Charlie Hebdo gelten kann, nämlich in das französische Comic-Strip-Magazin Hara-Kiri, dann bleibt einem doch tüchtig die Spucke weg, nämlich wenn man sich vorstellt, dass man so etwas heute publizieren würde. Im deutschen Sprachraum wurde in den 1980-er Jahren vor allem der Hara-Kiri-Zeichner Jean-Marc Reiser bekannt, dessen Hauptfigur der «Gros Dégueulasse» war, zu Deutsch der «Schweineprieser», ein ultimatives Ekelpaket, das im Alter von dreißig Jahren immer noch mit nichts als mit einer Windel bekleidet herum läuft, und diese Windel trägt er nicht etwa, weil er inkontinent wäre, sondern weil er hineinkacken und -pissen will, sozusagen als ultimativer Nonkonformist. Der ist er dann zwar auch wieder nicht, denn ein ultimativer Nonkonformist würde wohl gar keine Windeln mehr tragen, der Schweinepriester ist verhindert am ultimativen Nonkonformismus. – Nicht, dass sich die Autoren von Hara-Kiri von irgendwelchen Hemmungen hätten bremsen lassen, neben Fäkalien waren auch alle anderen Tugenden wie Mord, Leichenschändung, Rassismus, Antisemitismus und was das Herz sonst noch so begehrt, gängige Münze. Nicht als Glaubensbekenntnis, bewahre, sondern als pure Provokation, als Verstoß gegen alle Konventionen; man hatte immer den Eindruck, dass die Autoren am liebsten selber in de- n Parc des Princes geeilt wären, um zu kotzen, zu scheißen, zu vögeln; zu morden dann vielleicht doch etwas weniger. Aber jedenfalls ging es in diesen Zeiten und Zeitungen in aller Öffentlichkeit zu und her in einer Weise, welche heute sofort die Zensur und vor allem die Legionen der Politischen Korrektheit auf den Plan rufen würde.

Vielleicht waren ja nicht einfach die Zeiten einfacher, damals, sondern vielleicht war der Marktzugang anders geregelt, an den Kiosken hätten in den Siebzigerjahren vielleicht keine Minderjährigen eine Hara-Kiri-Ausgabe erhalten. Trotzdem ist die Radikalität der damaligen Zeit, welche neben diesen eher unappetitlichen auch zu überaus erfreulichen Brüchen mit den Konventionen geführt hat, zumal im Bereich der bildenden Künste, heute wirklich vollständig verschwunden. Ich bin mir nicht sicher, ob zum Beispiel in Erfurt eine Ausstellung über diese Zeit und über die Zeitung Hara-Kiri heute überhaupt möglich wäre.

Ob sie nötig wäre, ist dann wieder ein anderes Kapitel, da gebe ich all jenen Kritikerinnen zum Voraus Recht, die ich schon höre, bevor sie sich gemeldet haben. Ich bin ja selber kein Kot- und Pisse-Anhänger, und darüber, dass Satire wirklich alles können muss bis hin zum Können Müssen, habe ich mich auch schon verschiedentlich geäußert. Ich finde es bloß eigenartig, wie sich die Grenzen der Konvention verschieben und neu bilden, nachdem man sich doch gerade eingebildet hat, dass die moderne freie Konsumgesellschaft mit diesen Konventionen radikal aufgeräumt hätte. Dem ist nicht so, kann ich euch versichern, wir sind drauf und dran, uns wieder in neue moralische Zwangsjacken einzukleiden, ohne dass wir es merken. Und wie es halt so ist mit dem Prozess der Zivilisation, kann man nicht einmal sagen, dass das alles schlecht wäre. Aber merkwürdig ist und bleibt es.

Eine Überlegung muss ich hier noch nachschieben. In den 1960-er und 1970-er Jahren war der Angriff auf die Konventionen grundsätzlich ein Akt der Befreiung aus einem Korsett, das nach dem Zweiten Weltkrieg mindestens im Westen einfach übermächtig geworden war. Wenn man sich die heutigen Konventionsbrüche ansieht, so stehen sie oft im Ruf des Reaktionären, und zwar zunächst ganz einfach aus dem Grund, dass die heutigen Konventionen aus jenem Material sind, das eben seit bald 50 Jahren als fortschrittlich gilt. Es gibt hier noch ein paar Dinge zu bereinigen, wie man in den letzten Jahren erfahren hat, zum Beispiel die freie Liebe, nicht die freie Liebe als solche, sondern jene Teile davon, die sich mit der kindlichen Sexualität befassen, welche vor vierzig Jahren auch in der wissenschaftlichen Literatur ganz und gar anders behandelt wurde als heute, wo man als Päderast gilt, wenn man sich nur schon an das Thema heran macht. Die böse Absicht ist in jedem Fall unterstellt, und Pardon gibt es in dieser Zeit der Kinderverherrlichung sowieso nicht. Das hätten wir also abgeschlossen; aber davon abgesehen gelten Tabubrüche heute als Vor- und Anzeichen für Rückfälle in eine mittelalterliche oder noch ältere, kulturlose oder vorkulturelle Zeit. Ich selber bin da voll dabei in diesem großen Bewusstseinsstrom und könnte zehn, zwanzig und hundert Mal erklären, weshalb ich lieber an einer sauberen, ordentlichen und gut beleuchteten Straße wohne als in einem Slum und weshalb ich Tabuverstöße in der Regel verstehe als Attacke eben des Slums gegen die sauberen Wohnviertel. Ja, so geht das eben mit den Konventionen, und es wäre eigentlich alles in Ordnung, wenn man bloß nicht immer wieder diese Ahnung hätte, dass uns vor lauter zunehmender Zivilisierung am Schluss doch wieder irgendetwas entgeht und dass die Zivilisierung halt doch immer auch die Disziplinierung meint, sie Selbstbestrafung mit dem Mittel des eigenen Überich für Dinge, die man noch nicht mal getan haben muss, sondern die man sich bloß mal erst auszudenken nicht wagen soll. Dabei könnte halt eben doch sein, dass hinter all diesen Tabuzonen nicht nur die inkriminierten und zensierten ekelhaften Vorfälle lauern, sondern trotz allem auch eine Sphäre, in welcher sich Macht und Unterdrückung organisiert.

Aber Schluss damit. Mit diesem Geraune und Gemurmel haben wir Gottseidank vor ein paar Jahren ebenfalls abgeschlossen, und mit etwas Glück und kreativer Energie wird es uns gelingen, unsere Geschicke in die Hände zu nehmen, ohne dass wir dafür die Erwachsenenwindeln montieren müssen wie der Gros Dégueulasse von Jean Marc Reiser.