"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Zwei Nationalfeiertage -

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Die am Sonntag zu Ende gegangene Internationale Buchmesse in Lima verzeichnete mit über 500'000 Personen einen neuen Besucherrekord. Auch die Verkaufszahlen fielen so hoch aus wie noch nie. Die Rangliste der Bücherverkäufe sieht auf dem ersten Platz «La distancia que nos separa» von Renato Cisneros, von dem 3000 Exemplare über den Tisch gingen, gefolgt von «La rebellón de Túpac Amaru» des US-Schriftstellers Charles F. Walker und «Internet según el Mox» von José Romero.
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10:32 min, 12 MB, mp3
mp3, 160 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 04.08.2015 / 10:18

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Umwelt, Wirtschaft/Soziales
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 04.08.2015
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Dann kommen noch «Maravillosamente imperfecto, escandalosamente feliz» des Italokolumbianers Walter Riso sowie die unvermeidlichen, immer wiederkehrenden «Cuentos de los Andes», diesmal verfasst von Maria Rostworowski.

«La distancia que nos separa» erzählt von einem Autor, der den Gemeinsamkeiten mit seinem Vater nachgeht. Ohne das Buch gelesen zu haben, darf ich vermuten, dass es sich in die Reihe jener Publikationen eingliedert, in welchen die jeweiligen Schrifsteller/innen über eine/n Schriftsteller/in schreiben, die oder der sich aufs Land zurückzieht, um ein Buch zu schreiben oder der oder dem der Stoff ausgegangen ist usw. usf., kurz: Selbstliteratur ohne weitere belletristische Substanz. Darauf verweisen auch die Aktivitäten und die bisherigen Publikationen des 39-jährigen Renato Cisneros, die hauptsächlich auf seinen Kolumnen für verschiedene Zeitungen und Internetpublikationen beruhen. Daneben hat er auch für verschiedene Radiostationen und auch für das TV als Moderator gearbeitet, und im Jahr 2010 machte ihm die Zeitung La República ein durchaus zwiespältiges Kompliment, indem sie ihn als literarisches Geländefahrzeug bezeichnete. Sein Vater, übrigens, war mal Minister irgendeiner Regierung.

Immerhin verweisen jene zwei frühen Gedichte, die ich von ihm gelesen habe, doch auf ein gewisses Talent: «Descalza tu pie / dios de la tarde / camina en puntas / sobre el lago de mi espalda / y que una gota de sangre sea el inicio / de una larga y hermosa conversaciòn», was auf Deutsch ungefähr ergibt: «Zieh die Schuhe aus, Gott des Abends, und schleiche auf Zehenspitzen über den See meines Rückens – dann soll ein Blutstropfen der Beginn sein einer langen und tiefen Unterhaltung.» Das ist tatsächlich eine eigenartige und vorsichtige Wanderung auf Zehenspitzen vom symbolischen Abendgott über den symbolistischen Schultersee bis zur intellektuell-emotio­nalen Vertiefung in ein intimes Gespräch. Hat vielleicht auch nicht den Tiefgang eines Forschungs-U-Bootes, aber hübsch dünkt mich so was trotzdem. Und das zweite: «Nunca te he dicho. / Pero yo soy el ave que te espìa cada tarde / (detràs de las ojas) / y que canta atolondradamente / a la hora en que tu risa / se quiere derrumbar», auf Deutsch: «Ich habe es dir nie erzählt, aber ich bin jener Vogel, der dich jeden Abend zwischen den Blättern verfolgt und leichtsinnig zwitschert zu jener Stunde, da du nicht mehr lachen magst.» Der Blogger Pedro Granados zieht übrigens Parallelen zu Eielson, Heraud, Hernàndez, Di Paolo und vor allem José Marìa Eguren, während ich mich zurückziehe auf den sicheren Boden der peruanischen Aktualität, zum Beispiel mit der Angabe, dass die Inflation gegenwärtig unter 4% liegt.

Präsident ist Ollanta Humala, ein Gegenspieler und Nachfolger von Alan Garcìa, der mit der Partei Apra im Rufe steht, das Land Perù während einer ersten Regierungszeit Ende der 80-er Jahre radikal bürokratisiert, korrumpiert und ruiniert zu haben, aber die Peruaner sind ein großmütiges Volk. Dementsprechend taucht im politischen Kräftespiel seit einiger Zeit auch Keiko Fujimori auf, die Tochter des Nachfolgers von Alan Garcìa, Alberto Fujimori, der 2007 wegen Diebstahls und 2009 wegen des Einsatzes von Todesschwadronen sowie in einem anderen Prozess wegen Korruption zu mehrjährigen Gefängnisstrafen verurteilt wurde, die er meines Wissens gegenwärtig absitzt, wobei ich mir die Haftbedingungen ziemlich angenehm vorstelle. Jedenfalls erinnert Peru in dieser Beziehung stark an die Vereinigten Staaten mit dem Bush- und Clinton-Karrussell. – Nächstes Jahr finden ordentliche Neuwahlen statt, zu denen es Ende 2015 parteiinterne Kandidaten-Vorwahlen gibt. Mögliche Kandidaten sind, neben anderen, Keiko Fujimori, der ebenfalls ehemalige Präsident Alejandro Toledo, erneut Alan Garcìa sowie der ehemalige Wirtschaftsminister Pedro Pablo Kuczynski.

Perus Nationalfeiertag ist übrigens der 28. Juli, dem Tag der Unabhängigkeitserklärung von Spa­nien, die im Jahr 1821 erfolgte. Etwas näher beim Nationalfeiertag der neutralen Schweiz, also beim 1. August, liegt mit dem seinigen der kleine afrikanische Staat Benin, der sein Dasein ein­ge­klemmt zwischen der ehemaligen deutschen Kolonie Togo und der afrikanischen Großmacht Nigeria fristet. Benin ist nicht nur klein, sondern weist auch eine der höchsten Analphabetenquoten der Welt aus mit über 60%, und das erklärt wohl auch den Staatsnamen. Als vor 55 Jahren die Unabhängigkeit von Frankreich besiegelt wurde, und zwar eben justament per 1. August, da nannte sich das Land zuerst Republik Dahomey, und zwar mit Grund, nämlich hatte es an der Küste bis Ende des 19. Jahrhunderts während 250 Jahren ein Königreich mit dem Namen Dahomey gegeben. Erst im Jahr 1975, also vor 40 Jahren, kam man auf die Idee, das Land Benin zu nennen, aber auch hier stand ein Königreich Pate, bloß ein falsches, nämlich jenes, welches ebenfalls bis zum Ende des 19. Jahrhunderts rund 600 Jahre lang Bestand hatte und dessen Kernlande im heutigen Nigeria lagen, wo auch heute noch eine Provinz diesen Namen trägt. Vielleicht erfolgt dann eine Neubenennung, wenn der Alphabetisierungsgrad auf über 80% der erwachsenen Bevölkerung angestiegen ist.

Wie in Peru, finden auch in Benin nächstes Jahr Präsidentschaftswahlen statt; gesucht wird ein Nachfolger für den aktuellen Präsidenten Yayi Boni. Daneben sind nicht alle Daten besonders erhebend: Das Bruttosozialprodukt zu Kaufkraftparität lag im letzten Jahr bei etwas unter 2000 Dollar pro Person, nominell waren es nicht mal die Hälfte. Das Land ist nach wie vor stark landwirtschaftlich geprägt. Die Staatseinnahmen lagen mit knapp 1.9 Milliarden US-Dollar um 150 Millionen Dollar unter den Ausgaben, was einem Budgetdefizit von 2% des BIP entsprach bei einer öffentlichen Verschuldung von 30% des BIP. Der Alphabetisierungsgrad liegt immer noch unter 40%, und das Durchschnitts- bzw. Medianalter beträgt sagenhafte 18 Jahre. Ein echt junges Land! – Und auf jeden Fall gab es hier seit dem Fall der Berliner Mauer keine nennenswerten politischen Unruhen mehr. Und was die Religion angeht, so halten sich unter dem Deckmantel von 43% Christen gegenüber 28% Moslems zur Hauptsache noch Naturreligionen, unter anderem die Voodoo-Religion, zu der sich 17% der Bevölkerung bekennen.

Am 28. Juli wehrten sich Vertreter linker politischer Parteien, der Zivilgesellschaft und Gewerk­schaf­terInnen mit einer Erklärung gegen die Vergabe der Konzession für die Eisenbahnlinie, welche von Burkina Faso aus den Niger, die Elfenbeinküste und Benin erschließen soll, an den fran­zö­si­schen Konzern Bolloré, der nach ihren Angaben nicht einmal eine richtige Offerte eingereicht habe und von Präsident Yayi Boni ganz einfach bevorzugt worden sei. Bolloré hatte laut Wikipedia bereits das elektronische Wählerverzeichnis LEPI eingerichtet, welches 200'000 potenzielle WählerInnen von der Präsidentschaftswahl 2011 ausschloss und damit die knappe Wiederwahl von Boni Yayi ermöglichte. Dieser hat nun anlässlich seiner letzten 1.-August-Ansprache nicht nur die Fortschritte gelobt, die das Land während seiner Regierungszeit gemacht hat, sondern auch viel vom Kampf gegen die Korruption erzählt; darin unterscheiden sich die Regierungen heute weltweit kein Jota mehr voneinander. Also in den Ansprachen, meine ich. Man kann nicht einmal mit Garantie sagen, dass, wer gegen die Korruption wettert, selber korrupt ist.

Mit anderen Worten: alles normal. Und mit solchen Kennzahlen kann man davon ausgehen, dass das Land Benin in den nächsten Jahren eine gloriose Entwicklung erleben wird, wiederum abgesehen von den Korruptionszahlungen, die in solchen Ländern in dieser historischen Phase einfach nicht wegzukriegen sind. Im Übrigen kann eine solche historische Phase relativ lange andauern, wie jetzt die jüngsten Enthüllungen über den ehemaligen brasilianischen Präsidenten und halben Heiligen Lula zeigen. Immerhin fällt in seine Regierungszeit eine Phase anhaltenden wirtschaftlichen Aufschwungs, von dem nicht nur die Reichsten der Reichen in Brasilien profitiert haben. Aber dies ist wieder ein anderes Kapitel.

In der Ukraine werden jetzt massenweise Lenin-Statuen vom Sockel geholt, und alle Straßennamen, die auf die eine oder andere Weise an die russische oder überhaupt an eine Revolution erinnern, werden entfernt und durch die Bezeichnung von Friedenstauben ersetzt, Arsenij Jazenjuk-Straße zum Beispiel. Aber das kennt ihr ja schon; bei euch sind bekanntlich vor fünfzehn Jahren flächendeckend sämtliche Helmut-Kohl-Denkmäler gesprengt worden. Für die heutige Bundeskanzlerin dagegen wurden bisher noch keine Monumente errichtet. In letzter Zeit habe ich sogar Stimmen gehört, welche ihr vorwarfen, dass sie sich nicht weit genug nach rechts habe treiben lassen, um den nationalistischen Flugsand zu absorbieren, der sich jetzt in der Alternative für Deutschland angesammelt hat, einmal abgesehen von jenem sächsischen Gesocks, das sich einen Spaß macht aus der medialen und tatsächlichen Hetze gegen die Flüchtlinge aus Eritrea und Syrien. – Übrigens habe ich letzthin mal gelesen, dass die eritreische Regierung bei der Uno Protest eingelegt habe dagegen, dass so viele Menschen aus dem Land fliehen, es sind nach neueren Angaben um die 5000 Personen pro Monat, also 60'000 im Jahr, und die wollen jetzt alle in Felsheim in Sachsen Hartz IV beantragen, wie man hört. Was für ein enormer Blödsinn.

Aber Blödsinn ist so alt wie die Menschheit selber, das sollte man nicht so tragisch nehmen, und insbesondere sollte man solche Erscheinungen nicht etwa verwechseln mit ähnlichen Erschei­nungen in der Geschichte. Der Faschismus wiederholt sich nicht, das ist völlig ausgeschlossen. Nicht auszuschließen dagegen ist, dass sich bei Gelegenheit mal sonst ein Idiot oder sonst eine Idiotin an die Spitze einer Bewegung oder vielleicht sogar eines ganzen Landes setzt. Man hat manchmal den Eindruck, dass die Vereinigten Staaten von Amerika gerade im Begriff sind, so etwas auf die Beine zu stellen, wenn man sich das Kandidatenfeld der Republikanischen Partei ansieht. Aber auch dort wird es nicht bzw. nicht mal dort wird es soweit kommen.