"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Sommerabendgespräche -

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Eine Folge des Klimawandels ist die steigende Anzahl an lauen Sommerabenden, was die Aus­brei­tung von Gesprächskulturen aller Art befördert, zum Beispiel mit Flüchtlingen, wobei der dumpf nationalistische Teil der Bevölkerung für seine Sorte an Dialog am liebsten ein Feuerchen entfacht und sich gerne mit Brandsätzen äußert oder allenfalls mit Massen-Brunzlauten aus einer Zeit, die man untergegangen glaubte.
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09:55 min, 23 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 01.09.2015 / 17:38

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Kultur, Umwelt, Internationales, Wirtschaft/Soziales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 01.09.2015
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Jedenfalls können FilmkritikerInnen aus der ganzen Welt hier beob­achten, wo die Zombie-Streifen ihre Motive her holen. Gruselig ist das. Und dann kommt noch der Verfassungsschutz und vermutet, dass all diese Gesprächsinitiativen auf ein rechtsextremes Netz­werk zurückgehen – in der neutralen Schweiz war man ganz einfach und naiv davon ausgegangen, dass ein zunehmender Teil der deutschen Bevölkerung sich wieder einmal die typisch deutsche Ausformung des Nationalismus erlauben möchte, etwas Spaß muss doch sein, und dass zumal die Rechtsextremen in Dresden sich darauf vorbereiten, in rund dreißig Jahren ihre Liebfrauenkirche erneut aus den Trümmern aufzubauen. So etwas nennt man dann einen Naturzyklus.

Die meisten Gespräche an lauen Sommerabenden sind aber ganz anderer Natur. Ich selber hatte zum Beispiel am letzten Freitag Anteil an einer Gruppe, welche sich mit dem arabischen Frühling befasste. Eine Kollegin referierte darüber anhand einer Reihe von Comics, welche die unter­schied­lichen Entwicklungen in den einzelnen Ländern zum Thema haben. Ein anderer hat kürzlich ein halbes Jahr in Kairo zugebracht, und er hob neben den Unterschieden wiederum die gemeinsame Religion hervor. Eine dritte ist mit einem Algerier verheiratet, der eine eher skeptische Sicht auf die aktuelle Situation in seiner Heimat hat, dafür aber ein gewisses Verständnis für den syrischen Staats­chef al Assad. Die Diskussion wogte hin und her und umspannte natürlich auch die Aus­ein­an­der­setzung zwischen Schiiten und Sunniten, die zwar in Nordafrika gar nicht stattfindet, dafür den Nahen Osten prägt, und wir tummelten uns freundschaftlich auf diesem Themenfeld, vom Sturz des iranischen Premierministers Mossadegh durch den englischen und den US-ameri­ka­ni­schen Geheimdienst über die arabischen Sozialisten in der Baath-Partei, die jüdischen Sozialisten in Israel, die Russen und immer wieder die US-Amerikaner und seit 40 Jahren die Familie Bush als treue Vertreter der Erdölinteressen mit dem Vater, der als CIA-Chef und dann als Außenminister unter Ronald Reagan den irakisch-iranischen Krieg alimentiert und begleitet hat, welcher den Erzfeind Khomeini im Mark schwächen sollte, wofür die US-Amerikaner sowohl Saddam Hussein als treuen Alliierten unterstützten als auch im Geheimen den Erzfeind Iran; und als Saddam Hussein nach Ablauf dieses Krieges den Hals nicht voll kriegte und sich Kuwait in die Tasche stecken wollte, stellte ihn Vater Busch im ersten Golfkrieg in den Senkel, ohne ihn aber zu beseitigen. Diese ehrenwerte Aufgabe fiel dann seinem Sohn, dem Tölpel Wilhelm Bush zu, welcher unter fadenscheinigen Vorwänden in den Irak einmarschierte, angeblich, um die Unterstützung durch Saddam Hussein für die religiösen Fanatiker zu kappen, während diese Unterstützung in der Praxis immer von Seiten der treuen Alliierten in Saudiarabien geflossen war, und der Sturz von Saddam Hussein führte zunächst nur zur erstmaligen Bildung einer Al-Kaida-Gruppe im Irak und anschließend wegen der katastrophalen Besatzungspolitik zur Gründung des Islamischen Staates durch die ehemaligen Kader von Saddam Hussein, mit dem ganzen Salat, den wir jetzt dort haben; wir rätselten über die Türkei, welche angeblich den IS bekämpft, in Tat und Wahrheit aber nur die Schwächung der kurdischen Organisationen zum Ziel hat, was ebenfalls niemand begreift, weil ja der politische Dialog mit den Kurden eigentlich auf guten Wegen schien, aber vermutlich gehen die Interessen der Türkei über die Kurdenfrage hinaus und zielen auf eine möglichst optimale Stärkung der türkischen Position im gesamten Nahen Osten, weshalb die vermutlich auch so spitz sind auf den Bashir al Assad und seit Jahren ums Verrecken seinen Kopf wollen.

Von Nordafrika wiederum sprachen wir weniger über Marokko, waren uns aber über die positive Entwicklung in Tunesien einig, während Algerien eben gewisse Fragen aufwarf, ich äußerte mich optimistischer als der abwesende Ehegatte, weil ich die Mittelmeer-Verbindungen insgesamt viel höher einschätze als die meisten anderen; gerade deswegen überrascht mich die verheerende Lage in Libyen bezie­hungs­weise das umfassende Machtvakuum, das nach dem Sturz von Gaddhaffi dort entstanden ist. Vielleicht hängt es damit zusammen, dass Libyen keine englische und keine französische, sondern eine italienische Kolonie war. Vielleicht hat es damit zu tun, dass Gaddhaffi die Verwaltung vor fünfzehn Jahren komplett dezentralisiert hat. Ganz sicher eine Rolle spielen die Jihadisten, welche sich überall dort festzusetzen suchen, wo keine starke Zentralgewalt besteht. Insgesamt aber hätte man doch vermutet, dass die tendenziell doch moderne Politik unter Gaddhaffi ihre Spuren bei Wirtschaft und Bevölkerung hinterlassen haben. Im Moment hat man den Eindruck, als wäre dies nicht der Fall.

Eines habe ich bei unserer Unterhaltung festgestellt: Wir stützten uns alle zusammen auf ungefähr die glei­chen Informationen und Einschätzungen der Lage in den muslimischen Ländern am Mittelmeer und im Nahen Osten. Und so führten wir das, was man in der Regel ein schönes Gespräch nennt, fast reibungsfrei und ebenso angenehm wie die Abendtemperaturen, und deshalb gehe ich davon aus, dass der Klimawandel im sozialen Bereich positive Auswirkungen haben wird und den ganzen Hass und die ganze Gewalt auf der Welt einfach weg schmelzen wird.

Auch die Wirtschaft spürt den Wandel und macht sich auf die Socken, und zwar in ganz Europa, mit einigen wenigen Ausnahmen. Während wir uns nach wie vor fragen, wie eine postindustrielle Gesellschaft aussehen soll, insonderheit in punkto Arbeitsplätzen und so weiter, gibt uns die Realität verschiedene praxistaugliche Antworten. Offenbar ist der Bereich der Dienstleistungen derart strapazierfähig, dass hier alle Sorten von Tätigkeiten zu geldwerten Aktivitäten werden können, egal unter welchen Titeln; jedenfalls gehe ich nicht davon aus, dass die Automobil­industrie und ihre Zulieferfirmen auf absehbare Zeit hinaus die meisten Menschen in Lohn und Brot halten können. Dagegen muss hier ja nur ausreichend Geld geschaffen werden, welches anschließend auf verschlungenen Wegen in die allgemeinen Lande hinaus fließt, zum Beispiel im Medien- und Kommunikationsbereich, und schon brummt es an all den Hochschulen für angewandte Künste wie in einem Hochspannungslabor, das uns am Laufmeter Kreativität der allerhöchsten Güte auswirft. Egal; solange die allgemeine Stimmung sich etwas aufbessert, sind wir tatsächlich froh um jede Sorte von Aufschwung, und wir gehen davon aus, dass die sozialdemokratische Politik dafür sorgen wird, dass auch die Ärmsten der Armen ein bisschen etwas von der Konjunktur spüren, ganz unabhängig von der Tatsache, dass sie immer ärmer werden.

Mich selber interessiert in diesen Tagen, was mich vor zehn Jahren interessiert hat. Wir befanden uns beziehungsweise ihr befandet euch damals im Wahlkampf, auch wenn man den Eindruck hat, das sei schon eine ganze Epoche her und nicht erst zehn Jahre, und am 30. August 2005 hatte ich die folgende Meinung: «Ich begreife die SPD nicht, dass die überhaupt noch Wahlkampf führt; wieso sinken die Politiker nicht ebenso hinter ihren Mikrofonen zusammen wie der Müntefering? Der wichtigste Grund zur Ausschreibung von Neuwahlen war doch der, dass die SPD im Bundestag nicht mehr ankommt gegen die unterdessen etwa hundertzehnprozentige Dominanz der CDU/CSU bei den Vertretungen der Bundesländer. Wie will jetzt diese Neuwahl für die SPD was ändern an dieser Länderdominanz? Die SPD muss verlieren, wenn man ihrer eigenen Logik folgt, und das wird sie denn ja auch folgerichtig und logisch tun; ihr selber ist dabei Glück zu wünschen insofern, als sie sich dann auf die Suche macht nach einem Kurs, den man entfernt wieder sozial­demo­kratisch nennen könnte und der sich dann erst noch von der CDU/CSU abhebt.» – Nun, im Bundesrat sieht die Lage heute durchaus anders aus, vielleicht eben gerade deshalb, weil die SPD die Wahlen dann verloren hat. Davon abgesehen befanden wir uns damals in der Zeit vor der Finanzkrise und wussten bei aller Systemkritik noch gar nicht, welche Erschütterungen da auf uns zu rollen würden. Am 4. Oktober war es dann soweit, dass ich melden konnte: «So, jetzt hat das Theater aber endlich ein Ende, Schluss, fertig, aus, macht sie jetzt endlich fest, eure große Koalition, damit das Schauspiel einer Demokratie endlich weiter gehen kann und nicht weiter von so unwürdigen Anlässen wie Wahlen beeinträchtigt wird.» Dabei sollte es dann ja nochmals vier Jahre dauern, bis die SPD und die CDU/CSU zusammen fanden! Ich hatte aber bereits damals den Vorschlag, «dass die große Koalition konsequent umgesetzt wird, also ich meine, auch die Parteien schließen sich zusammen und nennen sich fürderhin Deutsche Einheitspartei DEP. Besser wäre vielleicht noch Partei der Parteien. Von beleidigenden Namen wie zum Beispiel Partei der rat- und konzeptlosen Mandatträger bzw. Sesselkleber würde ich nur schon aus phonetischen Gründen abraten, wie würde sich das auch anhören: PRKLMTSK.» Nun, bis es soweit ist, muss aus dramaturgischen Gründen noch weiter im bisherigen Rahmen gewurschtelt werden, und im Moment ist man ja ganz froh darum, dass man neben all dem Flüchtlingselend nicht auch noch politische Differenzen austragen muss, die keine sind. Und das hat ja auch den Vorteil, dass sich die deutsche Öffentlichkeit mit der notwendigen Gründlichkeit mit ihren eigenen fremdenfeindlichen Tonlagen beschäftigen kann beziehungsweise muss. Der Deutsche, die Deutsche und das Deutsche sind nach wie vor keine Qualitätsmerkmale, wenn es um Nationalismus und Massenbewegungen geht; hier steht der, die und das Deutsche nach wie vor eher für systematische Verrohung als für irgendwelche fortschrittliche Ansätze. Und eben, wie immer: Die Rettung vor derartigen und auch vor anderen Massenaufläufen liegt immer einzig und allein im Individuum, in der Kraft und im Bewusstsein der Individualität eines und einer jeden Einzelnen. Dass diese Individuen zu bestimmten historischen Anlässen sich auch zusammen tun müssen und rufen: Gemeinsam sind wir stark!, das zählt ebenso zur historischen Notwendigkeit wie zur Ambivalenz der gesamten modernen Menschheitsgeschichte.