In Ungarn wenden sich Anwältinnen und Anwälte gegen die Asylgesetzgebung

ID 72792
 
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Mit einem Offenen Brief haben sich ungarische Anwälte gegen die neuen Asylgesetze gewendet. Die Online-Zeitung Pester Lloyd zitiert das Protestschreiben der Anwältinnen und Anwälte folgendermaßen: "Die jetzt verabschiedeten Rechtsvorschriften (Notstandsgesetze) verstoßen gegen alle von Ungarn unterzeichneten völkerrechtlichen Abkommen, das in Ungarn unmittelbar geltende europäische Gemeinschaftsrecht, das ungarische Grundgesetz und allgemeine Rechtsgrundsätze." - Wir haben mit einer der Anwältinnen gesprochen. Dr. Fanni Hahn ist Rechtsanwältin in Budapest.
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10:28 min, 24 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 25.09.2015 / 16:19

Dateizugriffe: 662

Klassifizierung

Beitragsart: Interview
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Wirtschaft/Soziales, Internationales, Politik/Info
Serie: Widerhall Radio Corax
Entstehung

AutorInnen: tagesaktuelle Redaktion
Radio: corax, Halle im www
Produktionsdatum: 25.09.2015
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Der Offene Brief in der deutschen Übersetzung:


Wir, Rechtsanwälte, die den vorliegenden offenen Brief unterzeichneten, sind wir uns darüber vollkommen im Klaren, wie schwierig Ungarns gegenwärtige Lage ist, wie große Aufgaben die Versorgung und Aufnahme
von mehreren Tausenden Flüchtlingen, die täglich an der ungarischen Grenze ankommen, bedeuten. Die Lösung dieses komplexen Problems liegt im Bereich der Fremdenpolizei, der Logistik, humanitärer Hilfe, und nur zum Teil geht es hier um eine juristische Frage.
Man kann nämlich mit juristischen Mitteln keinen Zauber treiben. Die juristischen Instrumente, die die Regierung für eine Lösung anzuwenden beabsichtigt,
werden nicht helfen können. Das ungarische Justizwesen
ist keine Flüchtlingsorganisation, es ist nicht in der Lage binnen der vorgegebenen kurzen Zeit die Sache von so vielen Menschen wirklich gesetzmäßig und gerecht zu beurteilen und Beschlüsse zu fassen, weil dies einfach nicht möglich ist. Die jetzt verabschiedeten Rechtsvorschriften verstoßen nämlich gegen alle von Ungarn unterzeichneten völkerrechtlichen Abkommen, das in Ungarn unmittelbar geltende europäische Gemeinschaftsrecht, das ungarische Grundgesetz und allgemeine Rechtsgrundsätze. Diese Rechtsvorschriften beantworten darüber hinaus keine Fachfragen oder sie
bieten keine Hilfe in einzelnen rechtlichen Situationen im engeren Sinne, die in den eingeleiteten
Verfahren ganz vorkommen werden, dadurch entstehen Situationen, die rechtmäßig nicht gelöst werden können.
Gesetzwidrig und ungerecht ist, dass minderjährige Angeklagte nicht den gleichen Schutz bekommen, wie das allen anderen minderjährigen Personen vor einem ungarischen Gericht zusteht, der Angeklagte die gegen ihn erhobene Anklage und das gefällte Urteil nicht
in seiner Muttersprache lesen kann, obwohl das gesetzlich jedem und in jedem Rechtsstaat vor dem Gericht zusteht, "ein Hausarrest" für die Belasteten in einem Lager oder einer Unterkunft angeordnet wird, wo sie nicht einmal von den Rechten Gebrauch machen können, die jeder Person, die festgenommen wurde, zustehen (Gespräch mit einem Strafverteidiger, Telefonat), die Gerichte in Sachen von Personen mit nicht geklärter Identität vorgehen werden, die Zustellung durch den Strafverteidiger erfolgen würde, so kann die Person, die sich an einem unbekannten Ort aufhält, keine Chance haben, Informationen über den Ausgang des Verfahrens gegen sie in irgendeiner Form zu erhalten, in Sachen, in denen immer ein Gerichtssenat vorgehen würde, werden Einzelrichter Urteile fällen, der Tatverdächtige sein Recht auf ein ordentliches Asylverfahren verliert, ohne das ein Gericht ihn verurteilt hätte. Wir erwarten von diesen Menschen, dass sie „unsere Gesetze“ einhalten, ohne ihnen den Schutz „unserer Gesetze“ zu gewähren. Deshalb fordern wir die Regierung Ungarns auf, dem Parlament Vorschläge vorzulegen, die den fundamentalen Grundsätzen des Rechts und der Rechtssetzung, dem gesetzten EU-Recht und den ungarischen Rechtsvorschriften gerecht werden. Wir bitten unsere Kolleginnen, Kollegen Richterinnen, Richter und Staatsanwältinnen, Staatsanwälte, dass sientsprechend ihrem Amtseid ihren Pflichten als Juristen nachkommen, und sie nicht nur das Recht pflegen, sondern diesen Menschen Gerechtigkeit zuteil werden lassen. Sie sollten die Gesetzwidrigkeiten, die in den neuen Rechtsvorschriften Gesetzeskraft erhalten haben, und deren Anwendung zu krassem Unrecht führt, feststellen, und die Sachen, die ihnen vorgelegt werden, dem Ungarischen Verfassungsgericht und dem Gerichtshof der Europäischen Union vorlegen. Kolleginnen und Kollegen
Richterinnen, Richter und Staatsanwältinnen, Staatsanwälte, wir sind überzeugt, dass die Verfahren und Urteile, die aufgrund dieser Regelung geführt und gefällt werden, nicht mit der Würde unseres Berufstandes zu vereinbaren sind. Es ist einfach unmöglich, das Ansehen der ungarischen Justiz zu bewahren, und in diesen Verfahren begründete Urteile zu fällen. Und was die Strafverteidiger angeht: die Aufgabe der Rechtsanwälte besteht darin, die Rechte der Angeklagten, egal woher sie kommen und was sie begangen haben, mit allen Mitteln des Rechts zu verteidigen. Und nun soll hier ein Zitat von Károly
Eötvös stehen: „Der Angeklagte braucht einen Strafverteidiger“. Und der Verteidiger hat seinen Pflichten nachzukommen. Unabhängig von den Aspekten der Tagespolitik. Wir bitten unsere Kollegen darum.

Ungarn, 15. September 2015

Kommentare
29.09.2015 / 07:43 hikE, Radio Unerhört Marburg (RUM)
in Frühschicht 29.9.2015
gesendet. Danke!