"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Die ganze Welt -

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Fassen wir zur Abwechslung wieder mal die große Welt ins Auge anstelle der Flüchtlingsfrage, in welcher die meisten von uns hin und her gerissen sind zwischen mehr oder weniger noblen Grundsätzen ...
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11:50 min, 27 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 03.11.2015 / 10:32

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Kultur, Internationales, Wirtschaft/Soziales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 03.11.2015
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
... – sie sind übrigens durchaus nicht nobel, diese Grundsätze, sondern bloß konstitutiv für all das, woran wir uns täglich erfreuen oder worüber wir uns täglich aufregen, nämlich den aktuell vorhandenen Grad an Wohlstand und sozialer Gerechtigkeit, aber dieser Hinweis nur am Rande – und auf der anderen Seite der Erkenntnis, dass es wohl kein produktiver Weg ist, das Wohlstandsgefälle auf dem Globus dadurch auszugleichen, dass sich die ganze Weltbevölkerung in Europa, genauer in Deutschland und konkret in München niederlässt. Das muss man sich mal vorstellen, München als eine Stadt mit 7 Milliarden Einwohnern! – Wenn der Seehoferhorsti an eine solche Perspektive denken täte, dann würde seine Haltung in der Flüchtlingsfrage anders lauten, denn dann hätte er so viel Macht und Einfluss, da könnten der Uno-Generalsekretär, Barack Obama und Wladimir Putin ihm nicht mal mehr den Arsch abwischen, so mächtig wäre er, der Seehofer, also vielleicht zwar noch vor ihm der Münchner Oberbürgermeister Reiter, was auch wieder so ein Sozi ist wie diese CDU-Bundeskanzlerin Merkel, der würde ihm seine Sonne möglicherweise noch etwas verfinstern, und vielleicht ist der Seehofer aus diesem Grund eben gegen das sprunghafte Wachstum der Sozialdemokratenhochburg München.

Davon abgesehen aber also stellen wir fest, dass sich auf der Welt in der Zwischenzeit nicht absonderlich viel verändert hat. Der Römer Bürgermeister Ignazio Marino musste zurücktreten, weil er in einem Jahr 30'000 Euro an Amtsspesen aufgewendet hatte, was natürlich ein enormes Verbrechen ist im Vergleich zu den Mafiastrukturen, welche er in der italienischen Hauptstadt zu bekämpfen versucht. Unterdessen hat er sich diesen Rücktritt wieder überlegt und will jetzt doch weiter regieren, aber niemand weiß so genau, wie er die Verwaltung denn konkret säubern will ohne Werkzeug und Rückhalt in der Politik. Insgesamt aber stößt der italienische Premierminister Renzi auf ein zunehmend begeistertes Echo, weil er sich zwar ähnlicher Kommunikations- und Taktiermethoden bedient wie sein Vorgänger, der Priapenclown und multiple Verbrecher Berlusconi; aber im Gegensatz zu Berlusconi fällt bei Renzi nebenbei tatsächlich noch Politik ab, es bewegt sich etwas in Italien, die Lähmung, für welche durchaus nicht nur Berlusconi stand, aber gegen welche Berlusconi einfach nie etwas unternommen hatte, weil ihn nur eines interessierte, nämlich er selber und seine Straffreiheit und seine Unternehmen, diese Lähmung scheint abzuklingen, und das ist schon mal erfreulich. Grundsätzlich erfreut zeigt sich die Gemeinschaft der Weltbetrachter auch in Bezug auf Afrika, wenn auch immer mit den angebrachten Vorbehalten; aber insgesamt macht dieser Kontinent auf dem Weg einer Ansammlung von Stein­zeit­gesell­schaf­ten zwischen Süd- und Nordafrika offenbar riesige Fortschritte, auch wenn die Begleit­er­schei­nun­gen, vor allem in der Form von Mord, Totschlag und Bürgerkrieg, nach wie vor existieren beziehungsweise zwischenzeitlich sogar zunehmen, wie sich dies nun mal für eine solche gewaltige Entwicklung gehört. Dafür ist in Südafrika die ehemalige Befreiungsbewegung ANC daran, das Land am Beispiel des Nachbarstaates Zimbabwe auszurichten und ein gigantisches Korruptions­system zu etablieren, welches die sizilianische Mafia bloß insofern übertrifft, als die Mafia doch auch eine soziale Organisationsform darstellt, wenn auch eine schlechte und unmoderne; vom ANC habe ich noch nichts derartiges gehört.

Wachstum dank hoher Weltmarktpreise für Rohstoffe und insbesondere Erdöl ist im Moment nicht en vogue, aus welchen Gründen auch immer, ob es sich um ein Erdöl-Überangebot wegen des US-amerikanischen Fracking handelt, um einen Angriff der US-Amerikaner auf die russische Volkswirtschaft, die vor allem vom Erdöl- und Erdgasexport lebt oder tatsächlich um eine Auswirkung der Förderung alternativer Energien, welche den Rohölverbrauch spürbar senken, kann ich nicht sagen, und in Bezug auf das Wachstum der Schwellen- und Entwicklungsländer ist das auch nicht so wichtig, jedenfalls brechen vor allem in Brasilien Konflikte auf, welche man in früheren Jahren leicht mit ein paar Erdöl-Korruptionsmillionen übertünchen konnte, während diese Knete jetzt fehlt. Der Chinese hat sich darauf kapriziert, im südchinesischen Meer künstliche Inseln anzulegen und diese mit nationalen Eigenschaften auszustatten, wodurch er plötzlich auch einen territorialen und damit seerechtliche Ansprüche auf die in der Region liegenden Rohstoffvorräte erheben kann – ein schlaues Bürschchen, der Chineserer, das muss man ihm lassen, und man sieht wohl von Seiten der Weltgemeinschaft aktuell kein Mittel, ihn bei diesem Vorgehen zu hindern, ganz wie anno dunnemals bei der Annexion des Sudentenlandes durch Deutschland. Die Nachbarn sehen das verdattert und verbittert und sind wohl nicht zu viel mehr in der Lage, als das Vorgehen in sich hinein zu fressen und im kollektiven Bewusstsein so zu verstauen, dass es dann in zwanzig oder fünfzig Jahren zu antichinesischen Revolten kommen wird. Das lässt allerdings die heutige chinesische Führung ziemlich kalt. Vielleicht gibt es aber eine andere Entwicklung, zum Beispiel die Gründung einer Wirtschafts- und Zollunion mit China, Vietnam, Laos, Thailand und Myanmar, wenn dieses Land dann immer noch so heißt, und mit den Inselstaaten Indonesien, Malaysia und den Philippinen. In einem solchen Prozess könnte die Volksrepublik China gewisse Zugeständnisse machen im südchinesischen Meer, und alle wären zufrieden. Die entsprechende Regionalbank wurde jedenfalls kürzlich gegründet.

Daneben bereitet sich China offenbar auf die bevorstehenden demografischen Veränderungen vor, die sich zwangsläufig ergeben aus dem steigenden Lebensstandard, also der rapiden Zunahme der durchschnittlichen Lebenserwartung, und der Ein-Kind-Politik, welche die Reproduktionsrate theoretisch auf unter eins hätte senken müssen; in der Praxis liegt sie heute bei 1.7, jede Frau gebärt also 1.7 Kinder, und wer nicht weiß, wie so was gehen soll, ein 0.7-Kind zu gebären, der soll sich beim statistischen Bundesamt erkundigen. Damit liegt China zwar noch vor Ländern wie Luxemburg und Norwegen und Dänemark, aber hinter dem Rest Europas, die alle deutlich tiefere Fertilitätszahlen aufweisen, am niedrigsten sind sie übrigens lustigerweise in Europa in der Ukraine, in Litauen, der Tschechischen Republik und in Bosnien-Herzegowina, in Slowenien, Polen und Lettland, also in Osteuropa. China aber hat seine 1-Kind-Politik jetzt abgeschafft, vermutlich vorausschauend im Hinblick auf die künftigen Altersrentensysteme.

In Russland bestimmen nach wie vor die politischen und sozialen Auswirkungen des Drucks, welchen der ehemalige Westblock ausübt, das Klima im Land. Wenn sich hier etwas verändern soll, sagen wir mal: im sozialdemokratischen Sinne, dann muss man einen Weg finden aus den Sank­tio­nen heraus und wieder zu einer Handels-Normalität zurückfinden. Die Auseinandersetzungen in der Krim und in der Ukraine können nicht im Ernst einen anhaltenden Wirtschaftskrieg begründen. Die erwähnten Manöver von China würden einen viel stärkeren Grund liefern für internationale Maßnahmen als jene Auseinandersetzungen, welche letztlich doch Ausläufer der Auflösung der Sowjetunion sind und bei der genaueren Absteckung des Einflussbereichs Russlands anfallen, was man für verwerflich halten kann oder für verständlich, aber letztlich sind das Kinkerlitzchen. Hier gehört ein dicker Schlussstrich drunter, nicht zuletzt, nachdem man jetzt deutlich sieht, wie die vermeintlich prowestlichen Geldsäcke, die gegenwärtig die ukrainische Regierung stellen, genauso korrupt sind wie ihre prorussischen Vorgänger. Das geht die Vereinigten Staaten nichts an, und die Europäische Union sollte sich hüten, hier Partei zu ergreifen, wie sie dies leider unter dem kleinen dicken Barroso getan hat. Auch die Nato darf ihr Gerassel und das Geifern jetzt wieder einstellen.

Russland kann man nicht aushungern, beziehungsweise und korrekter: Russland soll man nicht auszuhungern versuchen; man braucht sich bloß vorzustellen, was die Folgen davon wären, wenn es tatsächlich gelänge. Nein, der richtige Weg besteht in möglichst vernünftigen Wirtschafts­bezie­hun­gen, im Austausch. Ein schöner Teil der gegenwärtigen Probleme, die autoritäre Regierungsweise ebenso wie die haarsträubenden politischen Morde und die reaktionären und nationalistischen Propaganda­kampagnen, sind indirekte Folgen des westlichen Drucks.

Die Vereinigten Staaten wiederum, die unumstrittene Weltmacht, geben im Inneren ein widersprüchliches Bild ab, ganz abgesehen von den unerträglichen Wahlkampfkampagnen der Republikaner. Einerseits gehen dem Land offensichtlich massenhaft Mittel ab, um die überfälligen Infrastruktur-Ausbauten und die Erneuerung der bestehenden Werke zu erledigen, die soziale Frage ist nach wie vor eine offene Wunde, und die Immigration aus dem Süden bleibt ein Problem, das zwar mit einer Mauer vorderhand einigermaßen gestoppt wurde, was aber auf der latein­ame­ri­ka­nischen Seite der Mauer zum Zerfall großer Teile der staatlichen Strukturen und Institutionen geführt hat. Auf der anderen Seite ist in den USA nach wie vor das Zentrum der Innovation auf allen Ebenen. Bei allen Stänkereien, nicht zuletzt gegen das eigenartige Rechtssystem, muss man einfach festhalten, dass die Jungs und Mädels nicht alles falsch machen.

Zum Nahen Osten schließlich braucht man nicht viel zu erzählen. Syrien ist zu einem gewaltigen Testgelände für die internationale Waffenindustrie geworden; in Israel sind wir wieder ungefähr gleich weit wie zu jenen Zeiten, als die Palästinenserorganisationen begannen, Anschläge auf der ganzen Welt zu verüben, mit anderen Worten, die Situation hat sich nicht wesentlich verbessert, und man erkennt auch keinerlei Hinweise auf ernsthafte Bemühungen in Richtung einer Verbes­serung. Was die Türkei angeht, so ist eindeutig, dass dieses Land gegenwärtig für den europäischen Kontinent von absolut zentraler Bedeutung ist, ganz unabhängig von den autokratischen Allüren von Kamerad Erdogan. Am Rand eines derartigen Schlachtgetümmels braucht es in dieser Region einen absolut zuverlässig funktionierenden Militärapparat, und den stellt die Türkei im Moment, eben auch dank der Unterstützung der Nato, welche hier eine deutlich wichtigere Mission hat als beim Gesummse und Gebrummse in der Ukraine. Und politisch gesehen ist Stabilität dort gegenwärtig ein höherer Wert als lupenreine Demokratie. Möglicherweise kann sich Erdogan mit der absoluten Mehrheit im Parlament jetzt wieder friedlicher zeigen gegenüber den Kurden in allen Schattierungen. Das wäre sogar ein Grund für einen gewissen beschränkten Optimismus.

Apropos Testgelände für die Waffenindustrie: Letzthin haben wir auf einem deutschen Fernsehsender einen Beitrag gesehen über eine Waffenmesse in Abu Dhabi oder Bahrain oder wo auch immer, mit besonderer Aufmerksamkeit für die deutschen Rüstungshersteller, aber im Hintergrund waren immer auch ein paar Schweizer Fähnchen zu entdecken, neben all den anderen Herstellern, zum Beispiel aus Pakistan, wo offenbar auch deutsche Sturmgewehre in Lizenz hergestellt werden, aber dies nur am Rand. Jedenfalls ging der Beitrag und die geschniegelten Ausführungen der Verkäufer an den Marktständen meiner Partnerin zunehmend auf den Wecker, bis sie schließlich empört ausrief: «Ich hoffe, dass die Flüchtlinge aus diesen Kriegsgebieten alle zusammen zu uns kommen. Wenn wir solche Geschäfte zulassen, haben wir nichts anderes verdient.» – Mindestens formal ist an dieser Logik nichts auszusetzen.