"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Eine Arbeitshypothese -

ID 73566
 
AnhörenDownload
Außerhalb der Naturwissenschaften gibt es immer weniger Gewissheiten. Man ist sich nicht mal mehr darüber einig, dass Gott tot ist oder eben doch nicht. An die Stelle der festen Werte treten dementsprechend Arbeitshypothesen, denn ohne bestimmte Anhaltspunkte kommt man nicht durchs Leben.
Audio
09:59 min, 23 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 10.11.2015 / 16:11

Dateizugriffe: 765

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Arbeitswelt, Internationales, Wirtschaft/Soziales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 10.11.2015
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Eine meiner Lieblingshypothesen zum Zeitgeschehen ist jene, dass wir gegenwärtig in einer Zeit leben, in welcher sich die breite Masse der Menschen in den zivilisierten Gesellschaften ihrer selber noch nicht bewusst ist. Diese breite Masse, also wir alle haben in den letzten fünfzig Jahren eine Entwicklung durchgemacht, welche uns aus einer Industriegesellschaft in eine vollständig neue Gesellschaftsform befördert hat. Verschiedene Leute nennen diese neue Form ganz simpel die postindustrielle Gesellschaft. Damit haben sie zweifellos recht, aber sie haben damit noch keine Aussage über Merkmale, Grundlinien, Widersprüche und so weiter gemacht, die Arbeitshypothese ist also noch nicht besonders viel wert. Allerdings ist die Sache auch verzwickt, denn viele, wenn nicht überhaupt alle Attribute der Industriegesellschaft sind nach wie vor sichtbar und haben zum Teil eine stärkere Konjunktur denn je. Nehmen wir als Beispiel die Beschäftigung: In den USA sind grad wieder wunderprächtige Arbeitsmarktdaten publiziert worden, die Arbeitslosenrate steht auf einem Rekordtief, aber auch die neutrale Schweiz weist Beschäftigungszahlen vor, die absolute Rekordniveaus erklommen haben, und dies erscheint nicht auf Anhieb als Beleg für einen voll­zo­ge­nen Übergang in irgendeine Form einer postkapitalistischen, Verzeihung: postindustriellen Organisationsform. Und trotzdem: Mindestens in der neutralen Schweiz haben die aktuellen Arbeitsplätze nicht mehr viel zu tun mit jenen, die noch im Jahr 1980 die Statistik dominierten. Seither sind ungefähr eine halbe Million Jobs in der Industrie verschwunden, und zwar nicht nur sinnentleerte Arbeit am Fließband, sondern auch massenweise Techniker- und Ingenieur-Know-how. An ihre Stelle sind eine geschätzte volle Million anderer Arbeitplätze getreten, zum Teil im Dienstleistungssektor und zum Teil in all den neuen Branchen, welche durch die und mit den neuen Technologien entstanden sind. Die Mechanismen mit Arbeitsvertrag, Lohn, Urlaub und so weiter sind im Wesentlichen die gleichen geblieben und widerlegen damit zunächst jene Behauptung, dass alles anders geworden sei. Daneben haben allerdings zahlreiche völlig neue Komponenten Einzug in die Gesellschaften gehalten, allen voran in der Kommunikation. Wenn die Menschen heute mit angelegtem Smartphone oder übergestülpten Kopfhörern herum laufen, dann sieht dies nicht einfach scheps aus, sondern sie sind in einem hoch automatisierten Maße an- und eingebunden in den globalen Kommunikationsstrom, den man früher in seinem eigenen Kopf erzeugen musste vermittels von technischen Hilfsmitteln wie das Überich oder das Es, natürlich in Kombination mit den traditionellen Medien. Heute sind diese psychischen Instanzen ihrerseits automatisiert worden, und was dies für Auswirkungen auf die Organisationsform haben wird, lässt sich noch gar nicht absehen, und insonderheit hat die moderne Gesellschaft eben noch überhaupt kein Bewusstsein dafür entwickelt. Stattdessen konsumiert das durchschnittliche Individuum geradezu bewusstlos die gängigen Heuler, egal, ob unter der Marke «Oh my god» oder als den gerade gängigen Musik-Mischmasch oder was auch immer, Hauptsache, bewusstlos, und damit ist es gar nicht mehr so, dass das Durchschnittsindividuum diese Dinge konsumiert, vielmehr haben sie längstens begonnen, ihrerseits das Individuum zu konsumieren.

Aber dies ist natürlich nicht alles, auch wenn aus solchen Bewegungen heraus längstens Stil-Ikonen entstanden sind, mir schwebt hier vor allem das Bild der modernen Frau vor dem inneren Auge mit dem angewinkelt abstehenden linken Unterarm, an welchem eine Kreuzung aus Handtäschchen und Einkaufstüte baumelt, während der rechte Arm das Smartphone ans Ohr presst, so was kann man nicht mal mehr karikieren, das hat schon den gleichen Haltungs- und Bekleidungs-Stellenwert wie zum Beispiel ein Kopftuch. Ein Kernproblem, für das nach wie vor keine Lösung in Sicht steht, obwohl es eines der dringendsten wäre, ist die Tatsache, dass unsere kollektiven Köpfe nach wie vor gepolt sind auf einen Krisen-Diskurs, im Kern des Bewusstseins lauert nach wie vor die Angst vor der Armut, und das ist vielleicht das eindeutigste Kennzeichen des vorherrschenden Anachronismus: Nein, in den modernen Gesellschaften ist Armut kein Merkmal mehr, auch wenn sie noch hie und da auftritt, aber sie ist nicht mehr strukturell bedingt, sondern entsteht aus einfachen Organisationsfehlern. Organisationsfehler notabene, die eben aus tiefenwirkenden Mängeln im gesellschaftlichen Selbstverständnis herrühren, und damit wären wir wieder bei meiner Arbeitshypothese. Um diese etwas klarer zu umschreiben, kann ein Exkurs in die Geschichte dienen: Bis die Arbeiterklasse ihr Bewusstsein als Arbeiterklasse errungen hatte, dauerte es über hundert Jahre, bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts, und zwar dank den ideologischen Vorarbeiten der Sozialistinnen und Sozialdemokratinnen, aber auch der Verwandlung von ArbeiterInnen in KonsumentInnen, und rein von der Bewusstseinsbildung her gingen ihnen ein paar Jahrzehnte früher die neu entstehenden Mittelstandsschichten voraus im Biedermeier. Die Bewusstwerdung aber war die unerlässliche Voraussetzung dafür, dass sich der Kapitalismus in der Folge so entwickelte, wie wir es beobachtet haben, wobei ich in diesem Prozess die Weltkriege mal ausgeklammert habe; sie zeigen bloß, wie weit es kommen kann, wenn die mehr oder weniger natürlichen Voraussetzungen der historischen Situation auf idiotische Widerstände treffen.

Dies ist jetzt selbstverständlich eine sehr verkürzte Darlegung, welche der Gesamtheit des Prozesses nicht gerecht wird, aber es geht mir ja bloß um ein Beispiel für die Lage, in welcher wir uns be­wusst­seinstechnisch heute befinden. Wir haben schlicht und einfach jene politische bezie­hungs­weise erkenntnistheoretische Bewegung noch nicht gefunden, welche wir für den nächsten Schritt benötigen. Von der politischen Linken ist nicht viel Hilfe zu erhoffen, die ist justament tief ver­strickt im Armutsdiskurs, was zwar ehrenwert ist insofern, als die Jungs und Mädels versuchen, tatsächliche Missstände zu beheben, aber viel effizienter wäre es, die Diskussion als solche über­flüssig zu machen, eben, indem man den Armutsdiskurs durch den Reichtums- und Wohl­stands­diskurs ersetzt. Und wenn man mir hier entgegen hält, dass die Armut systembedingt sei beziehungsweise die Folge dessen, dass die Reichen ihre Interessen und Privilegien gegenüber den Armen durchsetzen würden und dass Armut überhaupt die Folge einer stetigen Umverteilung von Unten nach Oben sei, dann sage ich nur: Bull Shit. In unseren Ländern wird nicht mehr derjenige reich, welcher die Armen aussaugt. Das funktioniert heute vollkommen anders, das ist übrigens auch ein Teil jener Veränderung, die wir uns standhaft weigern wahrzunehmen. Ich gehe sogar davon aus, dass man mit den reicheren Bevölkerungsteilen noch viel eher Allianzen zur Bekämpfung der relativen Armut bei uns schmieden könnte als mit den gerade knapp etwas weniger Armen, welche in solchen Prozessen immer Angst haben, selber etwas zu verlieren. – Dabei erübrigt sich der Hinweis auf die Flüchtlingsströme mehr oder weniger, obwohl sie gerade den vorhandenen Wohlstand in Frage zu stellen scheinen; in Tat und Wahrheit relativieren sie in erster Linie unsere Armutsdiskussion, indem man angesichts des tatsächlichen Elends in ihren Herkunftsländern sehr plastisch sieht, wie eigenartig die Auseinandersetzungen bei uns zum Teil laufen.

Wie auch immer: Arbeitshypothesen haben ihre Verdienste, einen Anspruch auf letzte Gültigkeit können sie nicht erheben. Aber ich finde die Idee, dass eine Gesellschaft zur eigenen Weiterentwicklung hin und wieder auch kollektive Vorstellungen von ihrer neuen Gestalt haben oder entwickeln sollte, durchaus tauglich. Andernfalls wären wir tatsächlich im postmodernen Zustand angekommen, in welchem es eben keine spezifische Struktur mehr gibt, sondern nur noch unbestimmte, nebeneinander einher existierenden und herum wabernden Formen in der Gesellschaft gibt. Und daran kann und will ich nicht glauben – bei uns läuft dafür noch viel zu vieles schief. Gerade im Kommunikationsbereich spülen die Social Media eine derartige Menge an Dummheit an die Publikumsoberfläche, dass hier dringend eine Korrektur erfolgen muss. Selbstverständlich nicht nur in diesem Bereich, aber hier ist es wirklich allzu sichtbar und dringend.

Ja, wenn wir grad dabei sind: Was macht eigentlich Viktor Klitschko beziehungsweise Wladimir Klitschko beziehungsweise Hayden Panettiere? Lange nichts mehr von ihr gehört, nachdem sie letztes Jahr ein Kind zur Welt gebracht hat. Am 21. Mai dieses Jahres teilte sie ihrer Fangemeinde über Twitter noch mit, dass ihr ein Mitglied des Filmteams einen unglaublichen Dienst erwiesen habe, nämlich kaufte er ein Buch für sie, und zwar den Heuler «Luckiest Girl Alive» von Jessica Knoll. Es geht um eine junge Frau, deren Träume wahr geworden sind, sie hat einen Mordsjob und einen reichen Sack als Verlobten; aber sie hat auch eine unbewältigte Vergangenheit, welche sie plagt und quält und die man dann bei Gelegenheit mal verarbeiten sollte. Nachdem Hayden Panettiere diesen Roman gelesen hatte, musste sie in eine Klinik eingeliefert werden mit der Diagnose postnatale Depression, was für meine Begriffe eine ordentliche Zeitverschiebung bedeutet – das Kindchen kam bekanntlich bereits im vergangenen Dezember zur Welt.

Wie auch immer: Dr. Wladimir Klitschko, der Kindsvater, boxt derweil munter weiter. Sein Nettowert wird mit 30 Mio. US-Dollars angegeben, und nachdem sein Bruder Bürgermeister der Stadt Kiew ist, fand ich die Angabe doch noch interessant, dass er in Semipalatinsk zur Welt gekommen ist, also im heutigen Kasachstan, während der 5 Jahre ältere Vitali in Belowodsk in Kirgisien geboren wurde. Vitali ist auch noch Vorsitzender des Block Pero Poroschenko und Parlamentsabgeordneter, also alles, was das Herz begehrt für eine Bilderbuchkarriere in der schönen Ukraine.