"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Paris November 2015 -

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Auch in Zürich fand eine bescheidene Solidaritäts- und Gedenkfeier statt für die Opfer der Terror­an­schläge in Paris, und zu dieser Feier lud der Hauptpfarrer der Zürcher Hauptkirche auch den Chef der muslimischen Gemeinden in der Schweiz sowie den Oberrabbiner der israelischen Kultus­ge­mein­schaft ein ...
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10:46 min, 25 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 17.11.2015 / 09:40

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Religion, Internationales, Wirtschaft/Soziales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 17.11.2015
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
... was ich insofern für bemerkenswert hielt, als ich selber in einer ersten Reaktion noch gefunden hatte, dass die Islamerer ihren Islamisten jetzt dann endlich selber mal einen aufs Haupt geben könnten, irgendwie fehlen mir so richtig handfeste Verurteilungen des Terrors im Namen Allahs, zum Beispiel in der Form einer oder vieler oder gar zahlloser Fatwahs gegen diese ungläubigen Hunde, welche das reine moslemische Glaubensbekenntnis derart in den Dreck ziehen. Im Jahr 2010 erließ der Pakistaner Muhammad Tahir-ul-Qadri eine 600-seitige Fatwa gegen Ter­ro­ris­mus und Selbstmordattentate, die ein Jahr später in London auf Englisch erschien, und ebenfalls in England gab es vor einem Jahr eine Fatwah gegen den IS, aber so richtig durch­ge­setzt hat sich diese Form der Ablehnung offenbar noch nicht, und vor allem in den arabischen Ländern scheint die Geistlichkeit über genügend antichristliche oder antiamerikanische oder anti­isra­e­li­sche Ressentiments zu verfügen, um sich nicht zu einer Verurteilung aus vollem Herzen oder mindestens aus vollem Mund durchringen zu können.

Das macht mich einerseits sauer, wie alle anderen Menschen auch, und anderseits weiß ich in einer Rumpelkammer meines Hirns, dass die koordinierten Anschläge in Paris die Kriegsrealitäten in Bagdad, in Beirut, im Jemen, im Gazastreifen, in Nigeria und wo auch immer sonst noch repli­zie­ren, dass sie mit anderen Worten daran erinnern, dass der Westen insgesamt keineswegs vollständig unschuldig ist am voll ausgebauten Kriegsgeschehen zwischen dem Libanon und Pakistan. Die Europäer hängen da mit drin, auch wenn die Federführung bei den Vereinigten Staaten von Amerika liegt. Das ist korrekt, aber ebenso korrekt ist es, von allen Ebenen der islamischen Religions-, Geschäfts- und Gesellschaftsführung eine kategorische Verurteilung sämtlicher Gräuel und Kriegshandlungen zu erwarten und zu fordern. Aber da kann man wohl noch lange warten – durchaus aus verschiedenen Gründen, einmal, weil der Islam anders organisiert ist als die katholische Kirche, dann eben wegen der begründeten Ressentiments gegen die westliche Politik und Kriegführung im Nahen Osten und schließlich vor allem deswegen, weil die Haupt­finan­zie­rungs­quel­le eines großteils der islamischen Aktivitäten, vom Wahabismus bis zum Jihadismus, in Saudiarabien liegt, einem Staat, den machistisch-autoritär zu nennen eine grobe Verniedlichung wäre.

Wie auch immer: Wir sollten nun also keinen Eintopf kochen aus unseren muslimischen Mit­men­schen, das war wohl die Botschaft unseres Großmünsterpfarrers Siegrist, und wenn wir es schon nicht schaffen und in absehbarer Zeit auch nicht schaffen werden, zwischen Marokko und Indo­nesien einen wirklichen Frieden herzustellen, so wollen wir uns doch bemühen, diesen Frieden mindestens im berühmten Abendland aufrecht zu erhalten. Wir wollen ins Guiness-Buch der Rekorde mit der längsten je da gewesenen kriegsfreien Zeit der Weltgeschichte! – Aber da haben offensichtlich die Jihadisten etwas dagegen.

Man fragt sich, was man gegen die gottlose und menschenfeindliche Bande tun kann. Zunächst muss man dabei festhalten, dass das Hauptziel der Attentäter ganz offensichtlich nicht erreicht wurde, nämlich sich maximal symbolträchtig bei einem deutsch-französischen Freundschaftsspiel und in Anwesenheit des französischen Staatspräsidenten und des deutschen Vizeregierungschefs in die Luft zu sprengen. Das nützt den 150 Todesopfern jetzt nicht viel, aber ganz so einfach sind die großen strategischen Ziele für verblendete Halbschlaue doch nicht zu erreichen. Und dann muss man davon ausgehen, dass die Attentäter die Planung und Vorbereitung eben nicht in den fran­zö­si­schen Vorstädten durchgeführt haben; dort scheint mindestens die Überwachung zu greifen, wenn auch die gesellschaftlichen und ideologischen Probleme durchaus nicht kleiner geworden sind. Aber der Schwachpunkt im französischen Abwehrdispositiv lag offensichtlich in Wallonien, im französischsprachigen Teil Belgiens, dessen Probleme beim Aufbau und Betrieb eines Staates auch hier wieder deutlich hervortreten. Und die jetzt hoffentlich umgehend behoben werden – be­kannt­lich liegt in Belgien auch die Zentrale der Europäischen Union und damit das Zentrum Europas.

Daneben hat sich das Klima in den französischen Vorstädten seit den großen Unruhen vor zehn Jahren offenbar nicht wesentlich verbessert. Es scheint eine Tatsache zu sein, dass der islamistische Furor für viele der Empörten in den Banlieues ein perfektes Identifikationsmuster bot. Endlich macht mal jemand etwas, hier wird endlich mal geköpft und nicht nur immer gelabert. Auch der latente Antisemitismus ist stärker und expliziter geworden. Die Kraft der Ideen, auch wenn es Scheiß-Ideen sind, hat sich bisher als stärker erwiesen als die Sozialprogramme des französischen Staates, und das dürfte noch eine Zeitlang so bleiben. Frankreich wird sich im Rahmen des Ausnahmezustandes auf diese Gebiete konzentrieren und dabei vernünftigerweise auch moslemische Autoritäten und Instanzen zu Rate ziehen. Wenn nämlich der Eindruck entsteht, dass die Ordnungskräfte den Vorstädten den Krieg erklären, dann ist endgültig Feuer im Dach. Umgekehrt muss der Staat jetzt dringend jene Koranschulen schließen, die als Indoktrinations- und Organisationsstätten dienen, und sie muss die wichtigsten radikalen Köpfe abschöpfen und in irgendwelche Anstalten stecken, wo sie nicht in der Lage sind, ihre Netze weiter zu entwickeln und womöglich neue Leute zu rekrutieren. Und neben Frankreich beziehungsweise noch vor Frankreich muss dies in Wallonien geschehen, im französischsprachigen Teil Belgiens und in Brüssel. Soviel steht fest.

Eigentlich tut man diesen Affen zuviel der Ehre an, wenn man so viel über sie spricht und über die Begeisterung, mit welcher sie sich für die Rückkehr des Mittelalters in die Luft sprengen. Aber hier geht es ja auch um jene Dimension, in welcher die Anschläge uns alle getroffen haben als erklärter Angriff auf den gesamten Westen, das Abendland und das Christentum oder eben auf jenes Konstrukt der ideologischen Rechten, auf die jüdisch-christliche Kultur. Da gehört der Versuch, ein bisschen Ordnung in die Sache zu bringen, schon dazu. Sonst bleibt uns am Schluss nichts anderes übrig, als unserseits internationale Brigaden zu bilden und nach Syrien in den Krieg zu ziehen und diesen Islamisten-Schafen die Bärte abzuschneiden.

Grundsätzlich wollte ich heute aber auf die November-Ausgabe des Le Monde Diplomatique hinweisen, den ich in letzter Zeit verschiedentlich kritisiert haben von wegen Parolendrescherei und Floskelschieben, vor allem im Zusammenhang mit Klimafragen, aber auch anderen apokalyptischen Erscheinungen des internationalen Großkapitals, ich erinnere hier nur an den konzertierten Raubzug auf den extrem seltenen Rohstoff Sand. Brrr! –  In der aktuellen Ausgabe aber finden sich insonderheit zwei Themenblöcke, welche ich besonders interessant und aufschlussreich gefunden habe, nämlich ein ausführlicher Artikel über die Realpolitik von Alexis Tsipras’ Syriza-Regierung, die nach dem Verzicht auf den Ausstieg aus dem Euro jetzt wieder unter dem Diktat der Troika steht. Das ist aber bei weitem nicht das zentrale Problem, sondern das zentrale Problem sind die Erblasten, zum Beispiel aus dem Personalabbau beim Staat, wo die Frühpensionierten eine Zeit lang anständige Abgangsentschädigungen erhielten, welche erhebliche Löcher in die Rentenkasse rissen, abgesehen von den notorischen Problemen einer unter null liegenden Steuermoral, welche sogar die Mehrwertsteuerablieferungen beschädigt. Die Gewerkschaften und andere InteressenvertreterInnen sabotieren sämtliche Reformversuche, und wegen der drastischen Mittelkürzungen beim Staat fehlen diesem jetzt zum Beispiel die Mittel, Steuerkontrollen durchzuführen. Vom Grundbuch, auf welches Griechenland seit der Antike wartet, ist in diesem Artikel noch nicht mal die Rede... – Unter diesen Umständen regiert Tsipras zwar mehr oder weniger unangefochten, nachdem der linke und schuldenkritische Flügel der Syriza bei den letzten Wahlen massive Verluste erlitten hatte; aber so etwas wie Spielraum oder gar die Chancen auf eine strukturelle Veränderung sind nicht absehbar. Niels Kadritzke, der Autor des Beitrages, schreibt am Schluss, die Regierung Tsipras sei die einzige Kraft, die in der Lage sei, die Versäumnisse abzuarbeiten – «vorausgesetzt, sie knackt das Klientelsystem». Und natürlich, dass sie von der Troika einen gewissen Handlungsspielraum erhält. Danach sieht es aber nicht aus, weder nach dem einen noch nach dem anderen.

Mit einer gewissen Befriedigung habe ich sodann die Artikel von Oliver Zajec und von Alexei Malaschenko über den Syrienkonflikt gelesen. Zajec lobt tatsächlich Präsident Barack Obama dafür, dass er in diesem Konflikt nicht so schnell drein geschossen sei, wie dies die Hardliner in Washington und vor allem bei den Republikanern immer gefordert hätten, ganz abgesehen von den üblichen Verdächtigen bei den Franzosen bis hin zur alten Kriegsgurgel Bernard-Henri Lévy. Nach dem offenen Eingreifen der Russen zugunsten von Assad scheint sich jetzt eben die Front gegen den Islamischen Staat doch etwas klarer zu formen, wenn auch im Moment noch vor allem die Iraner und die Kurden sowie die irakische Regierung dazu gehören und die Türken und die westlichen Alliierten erst zögerlich dazu stoßen – wobei hier die Attentate von Paris möglicherweise wenigstens den einen positiven Nebeneffekt hatten, die Prioritäten richtig zu setzen. Malaschenko leuchtet seinerseits die Perspektiven der russischen Außenpolitik aus, die im Moment als zentrales Element der Politik in der Region erscheint. Immerhin ist in Russland auch klar, dass die Kriegsaktivitäten im Nahen Osten immer auch eine innenpolitische Dimension haben in jenen Regionen, wo islamistische Gruppen aktiv sind. Dieser Flickenteppich wird ja so oder so weiter bestehen, auch wenn es gelingt, den Islamischen Staat in Syrien und im Irak innerhalb der nächsten sechs bis zwölf Monate auszulöschen, vom Beginn einer gemeinsamen Offensive an gerechnet. Und auch in den anderen Staaten, von Nigeria bis Belgien, werden die islamistischen Grüppchen nicht einfach so verschwinden; aber ihre Perspektiven, die Nachschublinien, insgesamt die Logistik sowohl auf militärischer als auch auf ideologischer Basis werden im Kern geschwächt, sodass das, was heute als Bewegung erscheint, eben bald wieder zerfällt in eine Reihe von nicht besonders bedeutenden Splitterteilen.