"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Front National

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Es gibt ja auch bei der Logik unterschiedliche Familien, induktive, deduktive, Quantenlogik, Fuzzylogik und so weiter und so fort. Eine recht niedrige Logikordnung beobachten wir gegenwärtig in Frankreich: Nach den Terroranschlägen in Paris gewinnen die rechten und zum Teil rechtsextremen Nationalisten die Regionalwahlen und werden zur stärksten politischen Macht.
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10:54 min, 20 MB, mp3
mp3, 256 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 08.12.2015 / 12:22

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Wirtschaft/Soziales, Politik/Info
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 08.12.2015
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Natürlich steckt hinter dem Wahlerfolg des Front National nicht nur die Reaktion auf das Selbstbewusstsein, mit welchem die jungen Moslems die Nation und die Kultur Frankreichs in Frage stellen, sondern auch die Verachtung gegenüber der Politik, hier verstanden als das Konglomerat aus dem demokratischen Schauspiel, den letztlich entscheidenden Kapitalmächten und Interessenklüngeln und einer staatlichen Verwaltung, die als ineffizient und bürokratisch empfunden wird. Politik in diesem Sinne steht für die Unfähigkeit, Lösungen zu finden. Nun kann ich mich in einem Vorurteil bestätigt sehen, nämlich in jenem, dass die Mittelschichten in Frankreich sich schon längstens aus der Politik verabschiedet haben und sich keinen Deut mehr für die Gesellschaft insgesamt interessieren; ich spreche hier gleichzeitig von jenen 50 Prozent, welche den Urnen fern geblieben sind. Die französische Mittelschicht hat sich quasi selber erledigt, weniger durch ihre Wahlabstinenz als vielmehr durch ihr umfassendes Desinteresse an allen Themen, welche über die eigene gemütliche Existenz hinaus reichen. Ich bin nicht sicher, wie weit dieses Vorurteil die Wirklichkeit abdeckt, aber ein Aspekt oder eine tatsächliche Kraft in diesem Affentheater wird davon zweifellos erfasst.

Diese Mittelschichtkraft ist auch jene, welche am liebsten nichts verändert sähe, einmal abgesehen von einem neuen iPhone oder einer neuen kulinarischen Kreation. Dass dies nicht ausreicht, weiß man eigentlich schon seit eh und je, aber zunehmend nimmt diese Einsicht die Gestalt eines Bewusstseins an, wenn auch in unterschiedlichen Formen. Etwas zu ändern, und zwar irgendetwas, ohne genauere Angaben, traut man im Moment eben vor allem dem Front National zu. Zum einen; zum anderen ganz ohne Zweifel den jungen Sprengstoff- und Waffenexperten aus dem Lager der Islamisten, aber die kümmern sich ja nicht um Wahlen und solchen Krimskrams; die politischen Spätfolgen ihrer Aktivitäten münden vielleicht in ein paar Jahren einmal in die Gründung einer gemäßigten moslemischen Partei, was für die Demokratie und ihre Schauspiele mit Sicherheit ein gewaltiger Fortschritt wäre, weil es einen politischen Fortschritt im Lager der Moslems bedeuten würde, eine demokratische Politisierung und insofern eine fast schon umwälzende Europäisierung des Islam. Das würde mit Sicherheit auch die in ihrer Gemütlichkeit schon längst erschütterte und tendenziell verunsicherte Mittelschicht wieder ins Wählen bringen.

Für Menschen mit einer Vergangenheit in oder Herkunft aus der politischen Linken ist mit dem Sieg des Front National die ganze Verheerung endgültig sichtbar geworden, welche im Krieg der Ideologien angerichtet ist. Es gibt schlicht und einfach kein linkes Projekt mehr, welches entfernt einen Weg in irgendeine Zukunft weisen könnte. Wir haben auf der einen Seite den verzweifelten Versuch, die Werte der Vergangenheit hochzuhalten, zu konservieren und als Leitplanken in der politischen Praxis zu verwenden; auf der anderen Seite, und das ist vielleicht das Hauptproblem, ist die Linke in ihrer sozialdemokratischen Ausprägung an die Macht geraten, und zwar schon länger, in Deutschland mindestens seit der Ära Helmuth Kohl, in Frankreich seit Mitterrand, in England seit Tony Blair, und zwar praktisch uneingeschränkt, und zwar unabhängig davon, ob sich diese Sozialdemokratie nun auch tatsächlich Sozialdemokratie nennt oder Christdemokratische Union, Christlichsoziale Union, Union pour un Mouvement Populaire, Les Républicains oder wie auch immer. Die offiziell sozialistischen oder sozialdemokratischen Parteien leisten sich noch ein paar Jugendorganisationen, welche die Rebellion der früheren Generationen in ein paar symbolischen Aktionen und Stellungnahmen parodieren, aber für eine so genannte Vision reicht das natürlich nie und nimmer. Die Linke hat ihre politische Position als Ort der Hoffnung und der Zukunft verloren.

Wenn ich dies sage, will ich zu allerletzt jenen Menschen an den Karren fahren, welche sich mit riesigem Engagement und unermüdlich für die verschiedensten sozialen Belange und Werte einsetzen. In diesem Bereich entstehen ja auch laufend viele wertvolle und kreative Dinge, einfach etwas abseits des politischen und ideologischen Diskurses, was gar nichts zur Sache tut. Die Frage ist bloß, ob die aktuelle sozialdemokratische Gesellschaft sich nicht wieder mal einen ideologischen Entwurf leisten sollte, der über das soziologische Geschwurbel und die verkorksten ideologischen Floskeln hinaus geht und den Gedankenraum öffnet für eine Welt nach der Herrschaft der Sozialdemokratie. Es geht mir dabei nicht um die erwähnten Visionen an und für sich, sondern um eine Kombination mit den bestehenden und absehbaren globalen Grundströmungen in der Wirtschaft und mit den Verschiebungen der sozialen Tektonik. Gerade solche Verschiebungen kann man nämlich mit tauglichen ideologischen Konzepten durchaus mit beeinflussen, und gerade die jüngsten Entwicklungen bis hin zum Islamismus und zum Front National oder meinetwegen auch zur Pegida in Dresden werfen die Frage in der ganzen Schärfe auf, ob in absehbarer Zeit noch nicht einmal eine Volksbewegung, aber wenigstens eine Denkrichtung auf den Plan tritt, welche sich von den übelsten Verwirrungen der linken Seele zu befreien mag und sich frei und souverän und zugleich möglichst fundiert mit der Zukunft beschäftigt, nämlich mit der Zukunft der Menschen und ihrer Organisation.

Ich komme immer wieder an diesen Punkt, und ich kann auch sagen, wo ich die wichtigsten Ansatzpunkte sehe: Fragen der Produktion halte ich seit längerer Zeit für sekundär, Fragen der Verteilung auch nicht mehr für besonders akut, im Zentrum steht für mich je länger desto mehr die Frage, was die Menschen oder kurz und einfach der Mensch denn anfangen will mit jener Zeit, welche ihm von den Errungenschaften der Technik und der Medizin jetzt geschenkt wird oder vielmehr geschenkt zu werden droht. Stellt euch mal vor, Ihr könntet unsere Gesellschaft wie auf weißem Papier entwerfen und hättet dabei an Vorgaben gerade mal so ein bisschen Schule und Ausbildung auf der einen Seite, auf der anderen Seite so etwas wie eine 10-Stunden-Arbeitswoche zu berücksichtigen, die sich durchaus auch als 1 Woche Arbeit pro Monat oder als 3 Monate Arbeit pro Jahr exprimieren könnte. – Bei vollem Lohn, versteht sich!

Das ist wohl die zentrale Frage: Wenn sich das zeitliche Verhältnis zwischen Arbeit und Urlaub mit einemmal umkehrt, was machen wir dann mit den 40 Wochen Freizeit im Jahr?

Darüber will ich jetzt gar nicht spekulieren, aber ihr könnt ungefähr ermessen, welche Folge-Fragen sich hier anhängen. Diese Folge-Fragen bilden vermutlich auch den Kern jenes Bewusstseins, den die breite Menge im Demokratie-Publikum gegenwärtig von sich selber überhaupt nicht hat. Was soll und wird die Menschheit tun, wenn sie nichts mehr unter Zwang tun muss?

Soviel zum Front National in Frankreich. Als Begleitgeräusch haben wir das Summsen des Nationalismus in allen anderen Ländern. Geradezu spektakulär ist es, wenn die Schweden darüber sprechen, ihre Brückenverbindung nach Dänemark zu sperren. Ich meine, nach denen ihrem antieuropäischen Referendum wäre dies zwar auch so begreiflich, aber vermutlich geht es doch in erster Linie um die Flüchtlinge und ihre Fließgewohnheiten, und bis sich in dieser Sache wieder so etwas wie Normalität einspielt, wird es wohl noch dauern. Wir benutzen die Gelegenheit ja gerne, um unsere Vorurteile aufzufrischen, nach jenen bezüglich der französischen Mittelklasse kann ich da gerne auch die Länder des ehemaligen Ostblocks aufs Korn nehmen, auch die Polen haben ihrer nationalen Front wieder an die Macht verholfen, von Urban Orban in Ungarn Ongarn gar nicht zu sprechen, ich fürchte, diese Erschütterungen sind schlicht und einfach unausweichlich in unserem Länder- und Gesellschaftsgefüge, das sich mindestens unbewusst darauf eingestellt hat, über längere Perioden hinaus keinen tieferen Veränderungen mehr unterworfen zu sein. So kann man sich täuschen, und dieses Aufrütteln, dieser Verlust an Sicherheiten, die gar nie welche waren, ist letztlich doch positiv.

Die praktischen Beiträge zur Flüchtlingsfrage müssten im Moment doch in recht intensiven Bau-Aktivitäten bestehen, egal, ob in Osteuropa oder in der Eifel oder in der Türkei. Oder vielleicht am Pas de Calais, wo nicht nur der Front National definitiv die Regionalregierung übernehmen wird, sondern wo man auch mal eine Schleuse für Lkws bauen könnte, welche dafür sorgt, dass die afrikanischen Wandersmänner, die dort auf ihre Chance für eine Überfahrt lauern, gar keine solche Chancen mehr haben und dementsprechend ihre Camps aufgeben. Stattdessen könnte man ihnen anbieten, für sich selber irgendwo in der näheren Umgebung Unterkünfte, Häuser oder gar Dörfer zu bauen, in welchen man dann Schulen betreiben, vielleicht das eine oder andere Handwerk ansiedeln und vor allem tüchtige Internet- und Mobiltelefonie-Dienstleistungen anbieten könnte. Jedenfalls muss man diese Sorte an Migrationsproblemen möglichst rasch und pragmatisch lösen, vor allem, weil man sie auch lösen kann. Und daneben wird man sowohl den Neuankömmlingen als auch den im Land Verbliebenen mitteilen können, dass Europa zwar ein anständiges Maß an Flüchtlingen aufnehmen kann, dass die Flüchtlinge aber dabei nicht Anrecht auf die Ansiedelung am Ort ihrer Wahl haben, sondern auf Ansiedelung zu anständigen Umständen und bei anständiger Ausstattung mit Nahrung, Kleidern und Kleingeld und auch mit Integrationshilfen. Aber daneben behält sich der Gastgeberstaat mit gutem Grund das Recht vor, Grenzen und Richtlinien selber zu setzen.

Was Syrien und damit den Ursprung der wirklich brennenden Flüchtlingsprobleme angeht, so bewegt sich gegenwärtig nicht viel mehr als die Wahrnehmung. Diesbezüglich steht gegenwärtig im Vordergrund, dass der Herr Großtürke Erdogan den Konflikt tatsächlich so weit als möglich in seinem eigenen Interesse zu bespielen sucht. Ob dazu nun direkte Erdöl-Handelsgeschäfte mit dem Islamischen Staat gehören, wie dies Russland behauptet, ist gar nicht so wichtig; jedenfalls zeigt die Nicht-Ausweitung der Aktivitäten des Islamischen Staates auf das Staatsgebiet der durchaus nicht besonders islamistischen Türkei, dass hier einige Abkommen bestehen, die von beiden Seiten sehr bestimmt eingehalten werden, und zwar nicht erst seit gestern. Aber dies muss man wohl unter den Abschnitt «geopolitische Realitäten» subsumieren, ebenso wie die Tatsache, dass die Westmächte im gleichen Spiel nach wie vor versuchen, zuerst das Assad-Regime beziehungsweise die verbliebenen russischen Ansprüche in der Region wegzupokern. Das ist möglicherweise verständlich, aber es scheint mir gleichzeitig superdoof. Die Jungs würden sich besser mal Gedanken machen darüber, welches Spiel die arabischen Nachbarn nach dem IS-Kapitel gegenüber Israel spielen werden.

Kommentare
08.12.2015 / 17:46 Jürgen, bermuda.funk - Freies Radio Rhein-Neckar
gesendet in Sonar vom 8.12.15
Danke
 
09.12.2015 / 08:16 RDL, Radio Dreyeckland, Freiburg
gesendet im MoRa
vielen Dank