"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Glühwein

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Nicht immer nur Fernsehgucken, Menschenskinder, oder den Daumen auf Facebook halten oder im Lieblings-Blog herumbuddeln, Freundinnen und Freunde, Brothers and Sisters, sondern Lesen, auch mal wieder, und zwar nicht irgendwelches schlechtes Gefasel, sondern gute Ware aus Quali­täts­zeitungen. Am Wochenende las ich zum Beispiel, dass man schlechten Glühwein meiden solle. Begründung: «Als Standard-Element unreflektierter Gemütlichkeit verrufen, ist er ein poten­ter Seelenwärmer, sofern die Qualität stimmt. Weinsorte checken! Oft kaschieren die Gewürze nur die Unzulänglichkeit des Fusels.»
Audio
11:06 min, 25 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 15.12.2015 / 12:01

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Wirtschaft/Soziales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 15.12.2015
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Obwohl ich im aktuell laufenden Lebensabschnitt gerade keinen Alkohol trinke, har ick mir etwas jewundert, aus verschiedenen Gründen, einmal grundsätzlich. In meinem Bekanntenkreis zirkuliert das Bonmot «Life is too short for Prosecco», und das ist ein Werbespruch für Marken-Champagner, aber wenn ich das nun auf Glühwein umlegen sollte, müsste ich selbigen also mit einem Jahrgangswein aus Château-Laffitte ansetzen und mit etwas Zimt, Nelken und Muskatnuss bewölken? Das will uns Nichtalkoholikern nicht in den Kopf, und wir bleiben bei unserer Einschätzung: Glühwein ist eine Erfindung, mit welcher man komplett un­brauch­baren Fusel vermittels Beigabe von möglichst starken Gewürzen und unter Aufkochen des Ganzen in ein halbwegs trinkbares Gesöff umwandelt, dem man vor allem noch Zucker und Stroh­rum oder andere Prozente beimischt. Zu dieser Prozentfrage kommt mir übrigens jener Witz in den Sinn, dass es keine hässliche Männer gebe, sondern nur zuwenig Alkohol, ein Witz aus jener Familie, mit welcher ich hin und wieder Umgang pflege, weil sie derart hoffnungslos behämmert sind, dass sie auf der Lustigkeitsskala sozusagen von der anderen Seite her wieder auftauchen. Es versteht sich von selber, dass der Witz im Original nicht von Männern, sondern von Frauen handelt, aber das ist völlig egal, und ich bleibe dabei, dass er mir gefällt. Es gibt keine hässlichen Männer, sondern nur zuwenig Glühwein! 

Und genau dies trifft der Autor oder die Autorin des Glühwein-Qualitätssicherungs-Beitrages relativ genau, wenn er oder sie schreibt, dass Glühwein ein potenter Seelenwärmer sei, sofern die Qualität stimmt. Auf gut Deutsch: Hat er nur genügend Alkohol drin, so sieht die Welt und sehen ihre BewohnerInnen plötzlich viel schöner aus, man möchte sie allesamt küssen und umarmen und sieht in jedem von ihnen einen Welcome-Flüchtling. Mit anderen Worten: Wenn die in Dresden und Umgebung nur genug Schnaps trinken, werden sie die Flüchtlingsheime in Zukunft nicht mehr anzünden, sondern heizen. – Dagegen knapp, nämlich um neunundneunzig Volumenprozent verfehlt ist die aus tiefen Stirnrunzeln heraus gerufene Warnung, der Fusel sei «als Standard-Element unreflektierter Gemütlichkeit verrufen». Zu allererst möchte ich mal eine reflektierte Gemütlichkeit sehen. Gibt es hierzu vielleicht Vorlesungen und Praxisseminare an den Volkshochschulen aller Länder? Abgesehen davon, dass die Gemütlichkeit als solche ins Bierzelt und an gewisse Typen von Volksfesten bis hin zu Wahlveranstaltungen gehört, ist sie ja in ihrem Kern, ja in ihrem Wesen gerade von einer zutiefst irrationalen und dementsprechend komplett und komplex reflexionsfreien Natur. Ha! – Wenn man aber weiter reflektiert oder auch nur ganz simpel nachdenkt, kommt man unweigerlich zum Schluss, dass in diesem Beitrag die komplette Identität erreicht ist: Qualität und Substanz dieses maximal alkoholhaltigen Abfallgetränks äussern sich deckungsgleich im Beitrag darüber. Und wer das kontrollieren möchte, der kann sich die Sonntagsausgabe der Neuen Zürcher Zeitung vom 13. Dezember beschaffen und noch weitere schöne Tipps zu Gemüte führen. Prost und/oder hicks. Und als wissenschaftlichen Abschluss erwähne ich noch die Tatsache, dass der Glühwein im Winter ergänzt, was uns nach dem Sommer mit der Sangria oder sonst welchen Schnaps- und Wein-Bowlen wegfällt.

Wenn man am nächsten Morgen mitten im Dezember mit einem Kater aufwacht, dann ist dies heute nicht mehr ein handelsübliches Kopfweh, sondern es ist ein ausgewachsener Weltlagen-Kater. Nicht nur hat der Terrorismus unsere Befindlichkeit, die man vielleicht mit Gemütlichkeit nicht ganz unkorrekt umschreiben könnte, stark erschüttert, ohne dass damit irgendetwas an Rationalität oder Reflexion gewonnen wäre. Nein, auch sonst stecken in der Weltlage viele Volumenprozente an Problemen. In Zentralafrika und Burundi schlagen sich die Menschen wieder mal die Köpfe ein aus religiösen und ethnischen Gründen, wobei man aus halbwegs nüchterner und neutraler Distanz manch­mal den Eindruck hat, die würden sich einfach so niedermachen, weil man in der Volks­schule nicht aufgepasst hat im Fach Diskussion und Gesprächskultur. Aber eigentlich handelt es sich einfach um, nicht zwingend notwendige, aber halt mögliche Begleiterscheinungen auf dem Weg aus frühgeschichtlichen Gesellschaftsformen in die Postmoderne. Die Alternative zu all diesen Grassroot-Schlächtereien läge vermutlich in der Zwangskollektivierung und Zwangs­indus­tria­li­sierung, und so etwas wollen wir zarten Gemüter der Welt und ihren Insassen nicht mehr zumuten. Die weniger zarten Gemüter sind aber auch nicht für Zwangskollektivierungen, sondern die schrei­ben lieber Hassmails und rassistische Posts in eine Öffentlichkeit, vor welcher man Gott­sei­dank den Vorhang oder gar den Hidschab oder Tschador des Nichthinguckens herunter lassen kann.

Wenn man jenen Kabarettisten glauben kann, welche die Satire noch als einen Nebenaltar der kritischen Erkenntnis betreiben, also die meisten mit Ausnahme von Dieter Nuhr, Didi Hallervorden, Eckart von Hirschhausen, Atze Schröder und solchen Talenten, dann werden aktuell in Deutschland pro Tag ein Flüchtlingsheim von Rechtsextremen angezündet, während in den letzten fünfundzwanzig Jahren rund 150 Menschen aus rassistischen Gründen ermordet wurden. Als ich diese Zusammenstellung vor gut einem Vierteljahr zum ersten Mal gehört habe, war ich ziemlich verblüfft. So hatte ich dies nämlich überhaupt nicht wahrgenommen. Ich wusste, dass vor allem in der ehemaligen DDR hin und wieder Asylunterkünfte angegriffen werden, aber dass es so häufig geschieht, war mir nicht bewusst; und von den rechtsextremen bzw. rassistisch motivierten Morden hatte ich mit Ausnahme der NSU-Mordserie überhaupt keine Ahnung. Insofern und diesbezüglich leide ich gegenwärtig noch etwas unter einem Erkenntnis-Kater. Jedenfalls habe ich vorderhand keine Lust, für Deutschland auch nur entfernt auf das Wiederaufleben des National­sozia­lismus zu tippen. Das war ein Unikat, das gibt es kein zweites Mal. Aber Dumpfheit und Dummheit beziehungsweise die spätmodernen Formen jener Geisteskräfte, welche in Zentralafrika und in Burundi am Werk sind, wenn sich die Glaubens- und Volksgruppen die Schädel einschlagen, die gibt es in Deutschland wie in anderen Ländern in voll entwickelter Form, und eben, die sozialen Medien scheinen ein beliebter Trainingsplatz zu sein, um den von anderen Idioten zusammen genagelten Nationalistenbrunz als eigene Meinung zu formulieren. Da helfen weder Glühwein noch Aspirin, und Gemütlichkeit ist auch nicht die richtige Strategie, zumal ja die nationalistische Verwirrung eben im Kern antirational ist und justament in der schunkelnden Bierzeltgemütlichkeit sehr schöne Kulturbedingungen vorfindet.

In Frankreich hat sich der Front National als nicht so gemütlich erwiesen, wie ich es angenommen hatte, er ist im zweiten Wahlgang regelrecht abgeschifft. Immerhin hat man festgestellt, dass er sehr viele Jungwähler angezogen hat, welche sich von der herkömmlichen Politik beziehungsweise vom Schauspiel der Demokratie in seiner französischen Form richtiggehend abgestoßen fühlen. Das wiederum kann ich sehr gut nachvollziehen, und das ist auch jenes Moment, das ich bei den Teilnehmern an den Pegida- und AfD-Demonstrationen ganz klar wieder erkenne. Die Ohnmacht der Individuen gegenüber dem System ist nun mal übermächtig und überragend, und es braucht schon sehr viel, nein, nicht Glühwein, sondern Zivilisations-Pampe, um die Menschen dazu zu bringen, sich ohne zu murren in ihr Geschick beziehungsweise in ihre Schicksale zu schicken. Immerhin sind die modernen Biographien nicht mehr geprägt von Hunger, Not und Elend, und insofern muss man sich durchaus die Frage stellen, was denn gemeint ist, wenn die Jungs in Frankreich davon sprechen, keine Perspektiven zu haben. Dies trifft bekanntlich auf die Anhänger des Front National genau so zu wie auf die vorwiegend moslemische Jugend in den Vorstädten. Dass sie nicht auf Anhieb an die Ecole Nationale d’Administration zugelassen werden, versteht sich von selber, vor allem dann, wenn sie gar nicht zur Schule gehen; aber wenn das ihr Ziel oder eine Perspektive wäre, welche ihnen verwehrt wird, dann könnten sie das ja auch in eine praktikable, nämlich politische Form umsetzen und besagte ENA mal umpflügen und den Zugang für alle fordern. Nur als Beispiel. Aber die Erklärung «keine Perspektiven» bleibt hier ausgesprochen vage. Ich halte mich zunächst an die Beobachtung, dass sich in den letzten Jahrzehnten ein Protestpotenzial angestaut hat, welches keinen generellen Ausdruck für diese ganze Generation findet, sondern mindestens in Frankreich vorerst einfach in die beiden Pole Vorstädte und Front National kanalisiert wird, Pole, die sich diesbezüglich sonst bis zur Identität gleichen. Für mich am einfachsten fassbar ist das in der gegenseitigen Anrede, die sich auch in Zürich durchgesetzt hat, nämlich sprechen sich die Minderjährigen in gewissen Kreisen und Vierteln schon durchgängig mit Brother an, gerne in der Kurzform «Bro», und die Jungs mit eher missionarischen Tendenzen verwenden sogar das deutsche «Bruder». Man fühlt sich unwillkürlich an Winnetou und Old Shatterhand erinnert, historisch gesehen meinetwegen auch an Mönchsorden; in der heutigen Praxis sind die Vorbilder zweifellos eher die US-amerikanischen Slums beziehungsweise die dort entstandenen Kulturformen, vor allem der Widerstandsgestus jener Rapper, die sich dann mit schweren Goldketten und leichten Mädels behängen. Und tatsächlich, von Frauen habe ich so was noch nicht gehört. Sis oder Sister oder Schwester, das existiert nicht, da müsste man schon unters Kopftuch gucken, das macht ein echter Junge heutzutage aber nicht.

Noch kurz zurück zu den Rechtsextremen in Deutschland: Wenn ich mir diese Bilanz ansehe, 150 Morde seit der Wiedervereinigung, eine in Brand gesteckte Flüchtlingsunterkunft pro Tag, dazu die vermutete Aufklärungs- und Verurteilungsquote von null durch den Rechtsstaat und seine Polizeigewalt, und dies dann vergleiche mit jenen linksextremen Gewalttagen, von welchen die Medien dauernd berichten und wo die Polizei regelmäßig Leute verhaftet und anklagt, einmal abgesehen von den Zusammenstößen wie jene in Leipzig vom letzten Wochenende, dann wird es wohl wieder mal Zeit zu sagen: Ich bin ein Linksextremist. Ist jetzt doch eine Zeit her, dass ich das von mir behauptet habe, aber was will man machen.