"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Stefan Raab

ID 74323
 
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Zehn, zwanzig, hundert Jahre Stefan Raab – und dann hört der plötzlich auf, ohne richtig alt zu sein oder etwa zu sterben. Das Christkind der Publikums­gunst löst sich im Nebel auf und wird eins mit seinem Hintergrund.
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09:19 min, 17 MB, mp3
mp3, 256 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 22.12.2015 / 10:36

Dateizugriffe: 738

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Wirtschaft/Soziales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 22.12.2015
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Nun, ganz verschwinden wird er wohl nicht, bloß weniger sichtbar wabert er als Musikproduzent und was weiß ich noch alles herum, vielleicht erfindet er auch das Fernsehen neu, denn das ist wirklich überfällig, das sehen nicht nur die Pegida- und AfD-Anhängerinnen richtig.

Der Abgang verursacht mir keine richtigen Bauchschmerzen, aber er hinterlässt eine kleine Lücke. Raab stand für mich mit seinem TV Total für ein komplett überflüssiges Format, das sich aus der Freude am Ekligen speiste. Einmal schob sich der Knabe zwei Tischtennisbälle in den Mund, speichelte sie ordentlich ein, nahm sie wieder heraus und bot sie seinem Gast zum Lutschen an. Das war seine Welt und die seiner Zuschauerinnen und Fans. Ich fands nicht lustig. Popeln, Furzen und so weiter bilden mit Sicherheit tragende Bestandteile der abendländischen Kultur, aber ihre Darstellung in einer Fernseh-Show beziehungsweise eine Fernsehshow mit Popeln, Furzen und so weiter als wichtigstem Inhalt erscheint mir auch heute noch so wenig zwingend wie eine versteckte Kamera auf einem öffent­lichen Klo. Und jetzt, wo ich weiß, dass dieser inszenierte Ekel aus den öffent­lich zugänglichen Kanälen verschwindet, fehlt mir plötzlich doch wieder etwas, und sei es auch nur ein Ort, wo ich selber genau weiß, dass wenigstens dies nicht mein Ding ist. Vom Rest kann man das heute ja gar nicht mehr so genau wissen.

«Schlag den Raab» dagegen – vielleicht war dies trotz allem eine geglückte Sendung, indem sie alles auf die Schippe nahm, inklusive den Raab selber und sich als Sendung ohnehin, und zwar ohne die Dis­kre­panz zwischen Anspruch und Wirklichkeit jemals aufzulösen mit der Deklaration zum reinen Jux. Ich weiß es nicht. Ich habe diese Sendungen nicht gesehen, sowenig wie die TV-Total-Aus­strah­lungen. Manchmal kam es zu einer Begegnung beim Herumzappen, und da sah man je­weils unverändert den in die Kamera glotzenden und breit grinsenden Raab, der qua seiner Prä­senz lustig war, eben, für seine Fans. Für mich nicht. Und so steigt die Spannung ins Uner­messliche, wo der Moderator, der vielleicht auf einer Meta-Ebene trotz allem lustig war, in der nächsten Phase auftauchen wird. Vielleicht im Nicht-Mehr-Fernsehen? In jenem Medium, das die Nachfolge der heutigen Anstalten antreten wird?

Technisch gesehen, ist es heute praktisch allen Menschen möglich, Bildbeiträge herzustellen und über das Internet zu vertreiben, ähnlich wie die journalistischen Arbeiten heute schon über unab­hängige Newsportale oder über Blog-Seiten erhältlich sind. Die großen und die weniger großen Filme kann man von Streamingdiensten liefern lassen, oder man guckt sie schwarz. Somit besteht eigentlich keine Notwendigkeit mehr, Gebühren für ein Vollprogramm zu bezahlen. Da steht ein ordentlicher Strukturwandel bevor. Mal sehen, was sich die Verlage und Redaktionen so einfallen lassen. Eben, vielleicht kommt Stefan Raab da auf vielen Füßen zurück.

Unabhängig davon wundere ich mich seit ein paar Monaten über das Comeback der Veteranen sozialistischer Politik. In England steht Jeremy Corbyn an der Spitze der Labour Party, und in den USA schlägt sich Bernie Sanders tapferer denn je in den demokratischen Vorausscheidungen für die Präsidentschaftswahl. Bernie Sanders ist sowieso ein unerklärliches Phänomen in einem Land, das Erzeugnisse wie Donald Trump hervorbringt. Unabhängig davon darf man diese spätsozialistische Erscheinung wohl dahin gehend deuten, dass es halt keine brauchbare Alternative gibt für Menschen, die entfernt an so etwas wie gesellschaftlichen Fortschritt glauben. Da behilft man sich halt mit ein paar Weißhaarigen, welche immerhin im Ruf der persönlichen Integrität stehen. Aber so richtig glücklich wird man mit ihnen nicht, weder mit Sanders, der wegen absolut mangelnder Mehrheitsfähigkeit in einem nationalen Wahlgang schon in den Primärwahlen turmhoch unterliegen wird gegenüber der fröhlichen Clinton, noch mit Jeremy, dessen Programme ziemlich schräg stehen in England, das im nächsten Jahr hoffentlich den Austritt aus der Europäischen Union beschließen wird, dann haben wir das endlich mal hinter uns.
Aber vermutlich kommt es uns wieder nicht so weit, vermutlich bringen die EU-Anhänger ihren Schmus am Schluss doch durch, vermutlich denkt tatsächlich kein einziges Land daran, die Vorteile der Mitgliedschaft durch einen echten Austritt zu kompromittieren. Wie die Geschichte zeigt, gibt es immer wieder Phasen, in welcher einzelne Teile oder das Ganze einer Gemeinschaft sich übervorteilt vorkommen oder mindestens übervorteilt geben, und nach einer gewissen Latenzzeit richtet sich das dann wieder ein.

Trotzdem ist es eigenartig, wie die Menschen auf bestimmten Ebenen auseinander rücken, wo sie doch auf anderen Ebenen eine schon fast unmittelbare Nähe hergestellt haben, vor allem über die elektronischen Medien. Freunde hat man überall auf der Welt, Kulturschaffende und Wissenschaft­ler arbeiten gerne auf internationaler Ebene, aber zur Problemlösung im politischen Bereich scheint es in dieser historischen Phase absolut nicht auszureichen. Die Wahrung nationaler und regionaler Interessen bildet gleichzeitig jenes Terrain, auf welchem die nationalistischen Bewegungen gedeihen. Im Kern steht vorderhand die Wirtschaftspolitik, weil sie über die an die Arbeitsplätze gebundenen Lohnsummen das treibende Element ist für den Rest der Strukturpolitik. Und es darf heute auch niemand sagen, dass es im Zuge der Vollindustrialisierung und Vollautomatisierung bei Gelegenheit einmal so weit kommen wird, dass die Wertschöpfung im klassischen Sinne verschwindet beziehungsweise sich auf einzelne Regionen konzentrieren wird; wie man solch ein Strukturproblem löst, ohne dass sich ganze andere Regionen entvölkern, dazu haben wir noch keine Vorschläge auf dem Tisch, weder von links noch von rechts.

Ich selber hätte einen, aber wie weit der realistisch ist, weiß ich ja dann auch wieder nicht. Wenn man nämlich tatsächlich, sagen wir mal die Produktion von Automobilen in Deutschland auf die Standorte Leipzig, München und Stuttgart konzentrieren täte, dann müsste man rund um diese Standorte eine Reihe von Hotel-Appartements errichten, in welchen die Arbeitnehmenden aus den anderen Landesteilen für einen bis zwei Tage pro Woche logieren täten, während sie die übrigen fünf bis sechs Tage an ihren Hauptwohnsitzen nichts tun würden oder aber über die Datenleitungen mit den anderen kommunizieren täten. Diese Hotel-Appartements hätten allesamt 4-Sterne-Standard, und es müsste davon genügend geben auch an den anderen Orten, beziehungsweise: Man könnte sich vorstellen, dass mit der Zeit der Hauptteil der Wohn-Aktivitäten in solchen Hotel-Appartements stattfinden würde, weil es nämlich dort auch die daran anhängenden Infrastrukturen gäbe, von der Bar für den Absacker morgens um zwei Uhr bis hin zu Restaurants in allen Preisklassen. Unter uns muss bleiben, dass solche Hotel-Appartements ökologisch gesehen die bei weitem günstigste Variante der Lebensführung sind, und ebenfalls unter uns muss bleiben, dass solche Hotel-Appartements nichts weiter sind als die Weiterführung von uralten, sozusagen weißhaarigen sozialistischen Wohn- und Lebens-Ideen in die Gegenwart beziehungsweise in die Zukunft. Und damit ist zwar noch nichts bewiesen, aber doch gesagt, dass auch eine Gesellschaft mit drastisch reduziertem Angebot an Arbeit und Arbeitskräften durchaus rational einzurichten wäre, wenn man sich nur darum bemühen wollte.

Aber stattdessen warten wir darauf, dass die unsichtbare Hand des Marktes oder der Märkte neue Chancen kreiert, während in Tat und Wahrheit ein absolut bewusstloses Chaos der unter­schiedl­ichs­ten Lobby- und Interessenklüngel das betreibt, was dann als Strukturpolitik dargestellt wird. Das ist es nun gerade nicht. Umgekehrt ist es vielleicht von Vorteil, wenn man nicht immer das durchsetzt, was einem gerade als das Richtige erscheint. Verschiedene Entwicklungen finden auch heute noch im Unsichtbaren statt und treten erst spät ans Licht, sodass man sich im Nachhinein fragen kann, weshalb man so was nicht schon längst erkannt hat.

In der Zwischenzeit scheinen viele Elemente, welche man lange für feste Bestandteile der sozialen Ordnung hielt, sich aufzulösen, bis hin zu den Grundwerten, welche eben mit dem aufschießenden Nationalismus in Frage gestellt werden. Die offizielle Politik bietet neben dem Marktgeschrei, das je nachdem wenigstens einen gewissen Unterhaltungswert hat, ebenfalls keinen Halt und schon gar keine Orientierung. Das Schauspiel der Demokratie ist als solches enttarnt. Bloß reicht diese Erkenntnis noch nicht für weitere Schritte in Richtung einer Verbesserung, an deren Ursprung in erster Linie die Aufwertung des demokratischen Individuums stehen müsste. Ein halbwegs demokratietaugliches Individuum ist unter gar keinen Umständen in der Lage, irgendwelchen populistischen Blödsinn abzusondern oder auch nur zu lesen. Ein demokratietaugliches Individuum muss heute ziemlich viel studieren, bis hin zu kommunalen, regionalen, nationalen und kontinentalen Budgets, sodass es einigermaßen in der Lage ist, Aussagen zu machen und Erkenntnisse zu gewinnen über jene Zeit, in welcher es lebt. Allerdings müssten solche Studiengänge auch von Institutionen angeboten werden, welche ihrerseits ein Interesse haben an unabhängigen Einsichten, also nicht von den Partei-Bildungszentralen, welche in der Regel gebunden sind an die ideologischen und finanziellen Vorgaben ihrer Partner. Unabhängigkeit – das ist eine Größe, welche sich gerade in der neu entstehenden Medienwelt auch wieder erst etablieren muss.

Kommentare
29.12.2015 / 08:04 hikE, Radio Unerhört Marburg (RUM)
in Frühschicht 29.12.2015
gesendet. Danke!