"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Wieder mal Italien

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Seit dem Ende der zwanzig Jahre dauernden italienischen Farce rund um den Hauptdarsteller Silvio Berlusconi ist das Interesse an italienischer Politik beziehungsweise am Spektakel rund um den Lügner, Betrüger, Mafioso und anderweitig reichsten Vogel und Regierungschef weitgehend erlahmt.
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10:36 min, 24 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 04.03.2016 / 13:45

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Wirtschaft/Soziales, Internationales, Arbeitswelt, Kultur, Politik/Info
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 04.03.2016
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
So etwas muss man ja auch erst mal hervorbringen können, so einen unglaublichen und auch noch unglaublich miesen Provinzschauspieler, welcher die ganze Welt mit seinen schlechten Witzen und anzüglichen Sprüchen in eine Art von angewiderter Bewunderung versetzt; da kann der Nachfolger Matteo Renzi nicht mithalten, obwohl beziehungsweise gerade weil er sich durchaus einiger Erfolge rühmen kann. Jedenfalls hat auch meine Aufmerksamkeit für Italien deutlich nachgelassen, und dies will ich heute mit einem kurzen Abstecher zu meinem, nach wie vor Leib- und Magen-Magazin Espresso wettmachen. Sein Hauptthema in letzter Zeit war die Steuerflucht bzw. die Steuerhinterziehung. Im Moment steht die Schweizer Großbank Credit Suisse im Mittelpunkt einer Untersuchung, bei welcher es um rund 14 Milliarden Euro geht, welche dank der Mithilfe von CS-Bankern von rund 13'000 Steuerzahlenden oder eben nicht Steuerzahlenden am italienischen Fiskus vorbei geschleust worden sein sollen, zum Beispiel mit fiktiven Versicherungs­verträgen, bei denen die Identität des Nutznießers verheimlicht wird. Die Steuerfahndung hat bei einer Razzia am CS-Sitz in Mailand das gefunden, was der «Espresso» das «Handbuch des perfekten Steuerhinterziehers» nennt, verschiedene verschlüsselte Anweisungen, wie das CS-Personal unter Anwendung aller Sicherheitsmaßnahmen mit italienischen Privatkunden in Kontakt treten und deren Vermögen anonym in verschiedenen Kanälen um die Steuerbehörden herum leiten soll. Allerdings schreibt der «Espresso» auch, dass im Hinblick auf den automatischen Datenaustausch zu allen Bankkonten die Steuerhinterziehung immer schwieriger werde und dass mindestens die offizielle Schweiz den italienischen Behörden keine Steine mehr in den Weg lege, schon seit längerer Zeit in Strafverfolgungssachen, also bei Drogenhandel, Geldwäscherei und Mafia-Verdacht, und neuerdings auch eben bei der Steuerhinterziehung. Aber in der Praxis kann man offenbar immer noch auf einen guten Rat von einer Schweizer Bank zählen, wenn man mit dem italienischen Staat beziehungsweise mit seinen Steuerforderungen ein Problem hat.

Übrigens sollen die beiden jüngsten Amnestie- beziehungsweise Selbstanzeige-Kampagnen in Italien aus den Jahren 2009/2010 und 2015 zur freiwilligen Deklaration von vollen 164 Milliarden Schwarzgeld geführt haben, wovon 113 Milliarden auf Schweizer Gebiet geparkt waren.

Dabei kann man es auch anders lösen. Der französische Konzern Kering zum Beispiel, der Besitzer von italienischen Luxusmarken wie Gucci usw., hat im Schweizer Kanton Tessin, ein paar Kilometer von der italienischen Grenze entfernt, ein Logistik-Zenter bauen lassen, wohin er nicht nur die Waren bringt, die in Italien produziert werden, sondern auch die Rechnungen, weil nämlich solche Umsätze und in erster Linie die Gewinne im Kanton Tessin nur zu Bruchteilen dessen versteuert werden müssen, was in Italien anfallen täte. Zudem befindet sich der wichtigste Steuersitz dieser Kering-Abteilung sowieso in Luxemburg, und bis die ganzen Luxusgewinne der Luxusmarken dann dort angelangt sind, fließen sie durch so viele Schachtel-Firmen, dass die Luxemburger geradewegs froh sein müssen, wenn sie der Firma Kering nicht noch Steuergelder herausgeben müssen, als Dankeschön dafür, dass sie in Luxemburg zwei Treuhand-Arbeitsplätze schafft. Über diesen Alltag in der Steuerhinterziehung wird im Moment global noch nicht so ungeheuer viel gesprochen, übrigens auch nicht darüber, dass die aktuell besten Steuerparadiese gegenwärtig gerade vor der Südküste der Vereinigten Staaten liegen und zum Teil in einzelnen Gliedstaaten der Vereinigten Staaten selber. Aber die Italiener hatten ja schon immer eine große Affinität zu den USA.

Ebenfalls sehr gut gefallen hat mir ein Artikel über eine Forderung des Movimento 5 Stelle, wonach ein nationaler Abgeordneter 150'000 Euro Buße bezahlen muss, wenn er die Partei oder die Fraktion verlässt nach der Wahl. Der Hintergrund: In der aktuellen Legislaturperioden gab es allein im Senat mit seinen 315 Mitgliedern 167 Übertritte von einer Partei beziehungsweise Fraktion in eine andere, wobei einzelne Senatoren gleich mehrfach die Fronten wechselten; betroffen waren nämlich insgesamt 117 Mitglieder dieser ehrenwerten Institution. Bei der Abgeordnetenkammer kam es zu 170 Übertritten durch 132 Abgeordnete von insgesamt 556 Mitgliedern; hier war also nur etwa ein Viertel betroffen, im Vergleich zu mehr als einem Drittel im Senat.

Was steckt hinter solchen Wechseln? Manchmal kommt es vor, dass sich innerhalb einer Partei neue Flügel bilden, und manchmal gibt es sogar Abspaltungen. In der aktuellen Legislaturperiode sind die Zahlen in erster Linie derart spektakulär, weil die Partei des alten, Viagra-getriebenen Lustmolchs Berlusconi mit dem Erschlaffen des Parteiführers in Stücke zerbrochen ist. Insofern kann man die nackten Zahlen nicht als Indiz für ein im Kern zerrüttetes und korruptes Parlament nehmen. Aber die Forderung des Movimento 5 Stelle zeigt eben auf der anderen Seite, dass Zerrüttung und Korruption nach wie vor konstituierende Elemente der italienischen Politik sind. Wenn ein Politiker wie Matteo Renzi Erfolge erzielt, dann nicht aufgrund der Bekämpfung dieser Korruption, sondern weil er geschickt damit umzugehen weiß und Wege findet, die Privatinteressen der korrupten Abgeordnetenkaste zu synchronisieren mit seinen eigenen politischen Interessen. Und da Matteo Renzi kein Unternehmenskonglomerat sein eigenes nennt, sind seine politischen Interessen vielleicht tatsächlich weitgehend kongruent mit den Interessen des Landes – auf jeden Fall in viel höherem Ausmaß, als dies unter dem Berlusconi-Hanswurscht je der Fall war.

Insgesamt aber trotzdem keine echten Veränderungen, abgesehen von der einen, welche ja trotz allem gewaltig ist, nämlich das Abtreten jenes Riesen-Arschloches, welches nach wie vor die Frage offen lässt, wieso sich die Italienerinnen und Italiener so einen Vogel während 20 Jahren bieten ließen und ihn immer wieder gewählt haben, und vor allem, wieso es die Linke während all diesen Jahren nicht geschafft hat, selber eine längerfristig tragfähige Regierung zu bilden. Diese Frage müsste eigentlich den Gegenstand einer umfassenden wissenschaftlichen Untersuchung bilden, an welcher sich Forscherinnen aus allen Ländern und allen Disziplinen aus der ganzen Welt beteiligen müssten. Vielleicht kämen sie so am Beispiel Italiens gewissen Geheimnissen der Demokratie auf die Schliche, so, wie man kürzlich im Experiment die Gravitationstheorie von Einstein bestätigen konnte.

Aber sprechen wir von etwas anderem. Die veröffentlichte Meinung in der westlichen Presse, welche Lügenpresse zu nennen mir deswegen verwehrt ist, weil dieser Begriff unterdessen wieder von den gänzlich informations- und denkresistenten völkischen Deutschtrotteln besetzt ist, die veröffentlichte Meinung also zur Ukraine wird endlich wieder bestimmt von jenen Seufzern und Wehklagen, welche sie bereits während den Maidan-Protesten anstimmen hätte können, als die Gegner des Oligarchen Janukowitsch ihre prowestlichen Parolen in die sperrangelweit offenen Mikrofone der begeisterten West-Medien brüllten, während es sich in Tat und Wahrheit bloß um einen Putsch des anderen Oligarchen-Flügels handelte, wie man dies jetzt endlich erkennt. Jazenuk und Poroschenko sind nicht mal die Breite der Hoden einer männlichen Steckmücke besser als die Vorgänger unter Janukowitsch, welche jetzt hoffentlich wieder Morgenluft wittern, bloß ist unterdessen im Osten des Landes ein stabiler Territorialkrieg im Gange. Der ganze Aufstand der West-Medien war umsonst, könnte man sagen, aber er war eben nicht umsonst, er erfüllte seinen Zweck ganz wunderbar, nämlich die Diffamierung des bösen Russen wie in den guten alten Zeiten des kalten Krieges. Ich glaube, es wäre vermessen zu sagen, dass der vor einem Jahr erschossene Politiker Boris Nemtzow noch leben würde, wenn die EU und die USA nicht einen derartigen Druck auf Russland ausüben würden, aber ein gewisser Zusammenhang besteht zweifellos insofern, als Präsident Putin und Ministerpräsident Medwedew in dieser Situation richtiggehend gezwungen sind, autoritärer zu regieren, weil sie sonst Gefahr laufen, die Kontrolle über das Land zu verlieren. Sowas verkürzt dann sehr direkt die Lebenserwartung von politischen Oppositionellen.

Um es zu wiederholen: Ich will die Herren Putin, Medwedew und Genossen nicht besser machen, als sie sind. Der Mord an Nemtzow geht auf Putins Konto, Punkt. Trotzdem halte ich es für mehr als bedauerlich, nämlich idiotisch, dass die EU die Ukraine zu ihrem Experimentierfeld gewählt hat, um dort die antirussischen Spielereien des transatlantischen Verbündeten auszutragen. Das ist ebenso überflüssig wie blind für alle Varietäten des Erscheinungsspektrums der Realität. Der einzige Trost im Moment ist der, dass die tektonischen Verschiebungen von Menschenmassen aus dem Nahen Osten nach Europa die Ukraine-Problematik zunehmend in den Hintergrund drängen. Vielleicht kann man demnächst mit Russland wieder mal einen vernünftigen Dialog aufnehmen, nachdem die Damen und Herren von der EU-Kommission vor fünf Jahren sämtliche Vernunft fahren und alle guten Ratschläge in den Wind geschossen haben.

Zum Schluss noch ein Wort zur Schweizer Politik: Am letzten Wochenende haben die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger eine weitere fremdenfeindliche Initiative der Schweizerischen Volkspartei recht deutlich, nämlich im Verhältnis von sechzig zu vierzig Prozent, abgelehnt, nachdem sich eine richtige Volksfront aus der Zivilgesellschaft gebildet hat, der sich am Schluss auch praktisch alle Rechts-Dozenten und fast alle Ständeräte des ganzen Landes angeschlossen hatten. Das hat hier für eine große Erleichterung gesorgt, nachdem man sich wirklich Sorgen machen musste um jene historische Kategorie, welche man «das Volk» nennt. Wir wissen es spätestens seit den Nazis, dass man immer aufpassen muss, wenn sich eine politische Bewegung auf «das Volk» beruft. Anderseits ist es den Demokratien dann doch wieder eigen, dass sie halt auf die eine oder andere Art den Willen des besagten Volks zum Ausdruck bringen und ihn dann respektieren sollen. Man wird einfach nicht vergessen, dass «das Volk» in der Regel keine einheitliche Masse ist und dementsprechend in der Regel auch keinen eigenen, einheitlichen Willen besitzt, den man politisch umsetzen muss. Bloß die Politik formen, das kann man natürlich unter Berufung auf einen solchen fiktiven Willen, den man dann gleichzeitig für sich selber in Beschlag nimmt. Das ist die eigentliche Spezialität der Schweizerischen Volkspartei, und dass ihr die Stimmbevölkerung für einmal heimgeleuchtet hat, das ist auch an dieser Stelle der Erwähnung wert.