"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Internationalismus

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Während eure Frau Bundeskanzlerin sehr viel Lob dafür erntet, dass sie unbeirrt von populistischen und nationalistischen Aufwallungen einen strikt sozialdemokratischen Kurs steuert, ganz im Gegen­satz zu gewichtigen SPD-Politikern, bleibt die Frage offen, wie sich der Populismus und der Natio­nalismus so ungehemmt ausbreiten konnten, wie wir dies heute erleben, wie die anti­zivili­sato­rischen Grundübel mitten in jenen Weltregionen wuchern, die sich selber als zivilisiert empfinden.
Audio
10:11 min, 23 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 08.03.2016 / 11:23

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Kultur, Internationales, Wirtschaft/Soziales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 08.03.2016
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Wieso gibt es heute kein allgemeines politisches internationalistisches Programm, mit welchem man dem nationalistischen Unfug überall und jederzeit entgegen treten könnte?

Ein paar Überlegungen dazu. Die erste betrifft die Europäische Union. Die hat es nämlich nicht in die Köpfe geschafft, und zwar noch nicht mal in die Köpfe der EU-Befürworterinnen und –Befür­wor­ter. Alle sind im Kopf nämlich immer EinwohnerInnen und VertreterInnen ihres Herkunfts­lan­des geblieben und haben immer die EU dazu benutzt, Innenpolitik zu betreiben, vielleicht nicht als Einzelpersonen, aber im Rahmen ihrer Fraktionen und Parteien. Das ist umso prekärer, als gleich­zeitig EU-Politik reine Interessenpolitik ist von Gruppen und Grüppchen mit mehr oder weniger reichen Geld- und anderen Einflussmitteln. Zu diesen Einflussmitteln gehört unterdessen selbst­verständlich auch das Fuchteln mit den nationalen Interessen. Jedenfalls gab es nie irgendwelche Kampagnen, weder in einzelnen Ländern noch koordiniert eben von Parteien und Fraktionen, kurz von allen, es gab nie Kampagnen, welche die Europäische Union als logische Organisationsform und vor allem als die persönliche Heimat und Identität aller Europäerinnen und Europäer befördert hätten. Wieso eigentlich nicht? – Eben, weil die Parteien und Fraktionen dies gar nicht wollten, weil sie alle zusammen im Kern ihre eigene Innenpolitik betreiben wollten und nach wie vor wollen. Statt als Heimat und Identität wird die Europäische Union als Diktator oder als Milchkuh angesehen und verkauft. Das ist ein übler Fehler.

Ein internationalistisches Programm würde übrigens vor den Grenzen Europas sowieso nicht Halt machen, das kommt ja noch hinzu. Ein internationalistisches Programm billigt auch den Menschen in Afrika, in Mexiko, in Indien und wo auch immer den gleichen Status als Menschen mit ihrem Recht auf das Streben nach Glückseligkeit zu. Das ist im Moment sowieso recht schwierig zu vermitteln angesichts des Strebens nach Glückseligkeit in der Form des Strebens in die euro­pä­i­schen Sozialstaaten durch ganz unterschiedliche Menschengruppen. Aber lassen wir dies für einen Moment beiseite und bleiben wir auf unserem Kontinent.

Das nationalistische Denken und Empfinden prägt sich heute also genau gegen jene Institution aus, welche als logische Überwindung der nationalen Ebene konzipiert wurde, und zwar in einem Prozess, der maßgeblich von den angeblichen Befürwortern dieser Institutionen genährt und sogar gesteuert wird. Ich sage dies hier nicht zum ersten Mal: In Europa hat der Deutsche keine Ahnung davon, wie die Französinnen ticken, und es interessiert ihn auch nicht, wenn man mal von der Unterwäsche absieht. Der Franzos wiederum weiß nichts vom Italiener und will von ihm nichts wissen, die Italienerin hat mit dem Rumänen insofern etwas am Hut, als dieser die schlecht bezahlten Arbeiten in Italien erledigt, und damit hat es sich. Und so weiter, und so fort.

Gleichzeitig liegen aber über Europa verschiedene Beziehungsnetze, angefangen beim industriellen Geflecht, das vielleicht die einzige Ebene ist, wo Europa tatsächlich noch funktioniert, über eine ebenfalls recht intensive Reisetätigkeit, die aber an jener Oberfläche bleibt, welche die Fachfrau Tourismus nennt, bis hin zu familiären Beziehungen, welche zum Beispiel Italien sehr dicht mit gewissen Teilen Deutschlands, Belgiens und Frankreichs verbinden, abgesehen von den unzähligen anderen, meistens arbeitsbedingten Umzügen in andere Länder, und dann kommt der Austausch dazu auf der akademischen Ebene, wobei ich mit akademisch durchaus auch die Studentinnen und Studenten meine, welche Gastsemester in anderen Ländern absolvieren oder es im eigenen Land mit Gaststudentinnen und Studenten zu tun haben. Es bestehen mit anderen Worten durchaus substanzielle internationale Verflechtungen auch unterhalb der internationalen Konzerne, die aber bisher keinerlei politische Form angenommen haben.
Unabhängig davon bleibt die zentrale Frage die, was die Menschen heute dazu bewegen kann, in ihrem Kopf eine große nationalistische Sause loszutreten. Man kann davon ausgehen, dass sie alle ein paar Jahre Schulbildung genossen haben und ein paar Grundbegriffe der nationalen und inter­nationalen Ökonomie kennen, zum Beispiel aus den Bereichen Globalisierung und Auto­ma­ti­sie­rung, welche ja zweifellos eine Bedrohung darstellen für zahlreiche Berufe und Wirt­schafts­be­rei­che, welche aber ebenso zweifellos dazu geführt haben, dass sie, dass wir alle in einem absolut unerhörten Reichtum leben. Noch der ärmste Hartz-IV-Bezüger lebt ein angenehmeres Leben als, sagen wir mal ein Provinzpfarrer oder ein Armenadvokat vor zweihundert Jahren. Es gibt nach wie vor viel zu tun, keine Frage, aber die Vorzüge der Vollautomation liegen derart offensichtlich auf der Hand und die Entwicklungsrichtung ist derart offensichtlich positiv, dass wirklich der hinterste und letzte Kretin erkennen muss, welcher Nonsense der Nationalismus im Kern ist, allein auf der materiellen Ebene. Zerschlagt den Welthandel, erhebt wieder Zölle, produziert wieder alles von Hand auf der Grundlage der rein nationalen Forschung und Entwicklung, welche sich nicht mehr mit anderen Ländern austauschen darf, und ihr werdet schon sehen, welche Wohltat der Nationalismus für euren Bauch und für eure Seele sein wird.

Was bewegt so viele Menschen dazu, sich in Blödheit zu suhlen und sich dabei als freie und auto­nome Individuen zu empfinden? Ich weiß es nicht, und ich will es auch nicht wissen, mit einem Vorbehalt: Wenn sich nämlich die Blödheit zum bestimmenden Merkmal moderner Gesellschaften auswächst, dann verändert sich der Diskurs über die Demokratie selber. Mit blöden Menschen kann man keine Demokratie einrichten, wenigstens keine richtige Demokratie, deren zentrales Merkmal bekanntlich die Bestimmungsgewalt der intelligenten und informierten Individuen ist. Sollte es sich herausstellen, dass die Individuen in der postindustrialisierten Welt blöde werden anstatt gescheit, dann ist die Demokratie logisch nicht haltbar. Dann kann man den Bestandteilen der Gesellschaft allenfalls noch einige Pro-forma-Bestimmungsrechte einräumen, zum Beispiel das Wahlrecht, alle vier Jahre, aber damit muss es dann gut sein. Darüber hinaus wird man diese Blödmänner und -frauen so weit als möglich in gelenkten Strukturen beschäftigen und sie ansonsten einfach mit Unterhaltung zuschütten, so weit uns die Beine tragen. Vielleicht kann man sich dann auch den Trick mit dem LSD im Trinkwasser nochmals überlegen. Ursprünglich hatte man ja Angst vor solchen Sachen, weil man davon ausging, dass solche Drogen das Bewusstsein erweitern. Wenn aber die Bevölkerung tatsächlich dumm ist, dann hat sie auch kein Bewusstsein, und damit erübrigt sich diese Gefahr.

Ha, da hab ich's ihm aber wieder gegeben, dem Volkskörper! Tatsache bleibt, dass Blödheit oder Dummheit ein rätselhaftes Phänomen bleiben in einer Gesellschaft, welche doch ordentliche Summen investiert in ihr Bildungssystem, auch wenn sich viele Leute von ebendiesem Bildungs­system eher veräppelt fühlen als ausgebildet. Trotzdem. Der allgemeine Intelligenzquotient müsste theoretisch zu- und nicht abnehmen. Wie kommt es unter diesen Umständen, dass trotz allem die größten Idioten solch einen massiven Zulauf haben wie zum Beispiel der Trumpdonald in den Vereinigten Staaten? Der hat sich zu einem derartigen Nilpferd ausgewachsen, dass sogar die eigenen Parteibonzen gegen den vom Leder ziehen, als wäre er selber so etwas wie der Sozialistenhitler Husein Barack Obama. Gleichzeitig lässt der derart massiven Quatsch heraus, dass es einem durchschnittlich begabten Menschen einfach die Gabel aus der Hand weht. Vielleicht wählen ihn ja darum so viele Leute, weil ihnen schlicht und einfach schwindlig wird wie auf der Achterbahn? Vielleicht ist die US-amerikanische Demokratie nicht ein Schauspiel einer Demokratie wie in weiten Teilen Europas, sondern ein Democracy-Rummelplatz?

Wir werden's sehen und erleben. Was wir wohl kaum sehen und erleben werden, ist die Fortset­zung des bereits in vollem Gang befindlichen Kriegs zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und den Vereinigten Staaten von Mexiko mit anderen Mitteln, nämlich mit den Mitteln des kon­ven­tio­nel­len Krieges. Auch auf den Bau einer Mauer an der Grenze zu Mejico, wie sie der Trumpdonald ankündigt, werden wir wohl verzichten müssen; eigentlich läuft es genau anders rum als damals beim Walter Ulbricht in Berlin. Beim Trumpdonald heißt das, in seinen eigenen Worten: Man muss flexibel sein, zu Deutsch: Man muss heute das eine sagen können und morgen das Gegenteil davon. Und wenn ich das auf einen historischen Terminus bringen sollte, dann würde ich sagen: Italien spielt erneut eine Pionierrolle in der Weltpolitik, indem es mit Silvio Berlusconi jenen Typus hervorgebracht hat, der jetzt zunehmend als der ideale Politiker in den Demokratien der entwickelten Länder erscheint. Orban in Ungarn, die Hälfte der Kapuscinsky-Zwillinge in Polen, Sico in der Slowakei, die dänischen Populisten, in Italien ist es unterdessen nicht mehr die Forza Italia, sondern die Lega, aber auch am Renzi-Regierungschef lassen sich Spuren von Berlusconi nachweisen, Madame Le Pen in Frankreich, und so weiter und so fort – so wird das, was wir früher einmal als die Sphäre wahrgenommen haben, wo sich die Macht in der Gesellschaft formiert, zum puren Slapstick.

Das wäre noch nicht mal so tragisch, wenn man nicht die Befürchtung hegen müsste, dass die rechtsextremen Elemente in diesem Spiel von Slapstick zum Schlagstock werden könnten. Aber vielleicht gibt es bereits wissenschaftliche Untersuchungen darüber, wie man sowas ausbremsen kann. Einfach mit Demokratie hat das schon lange nichts mehr zu tun.

Vielleicht ist Demokratie tatsächlich unmöglich in einer derart bis zum Kragen voll inter­natio­nalisierten Welt? Die Tatsache, dass in der Praxis kaum mehr ein Individuum oder eine Gruppe in der Lage ist, die Abläufe zu ändern, stellt hier ein wesentliches Indiz dar. Unmöglich ist sie auf jeden Fall dann, wenn sich die Subjekte der Demokratie weiterhin weigern, die wichtigsten, sozusagen primären Einsichten zu tätigen und gemäß diesen Einsichten zu handeln.