"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Tribut an Frauke Petry

ID 75762
 
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Ich bin ja nicht dazu verpflichtet, den Erfolg der Allianz für Deutschland als Frühlingsreiter des Neofaschismus darzustellen. Es ist ein Rülpser der Volksseele, der nicht viel mehr beweist, als dass das Volk bei Gelegenheit abgeschafft gehört. Wir müssen uns da etwas anderes einfallen lassen.
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09:42 min, 22 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 15.03.2016 / 14:25

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Wirtschaft/Soziales, SeniorInnen, Arbeitswelt, Frauen/Lesben, Kultur, Politik/Info
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 15.03.2016
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Diese Plastillinmasse, welche man offenbar praktisch nach Belieben kneten und im­präg­nie­ren kann, eignet sich nicht oder nicht mehr als Subjekt einer historischen Epoche. Stattdessen muss man sich überlegen, wie irgendwelche Gruppen oder Zusammenrottungen zu bilden sind, welche sich kate­go­risch auf gewisse Grundsätze der Vernunft und der Wissenschaftlichkeit berufen, auch bei der Ein­rich­tung der menschlichen Gesellschaft und des Staates. Diesen Vereinigungen obliegt es dann, diese Grundsätze in gelebte Praxis und unter anderem in staatlichen Mechanismen und Ins­ti­tutionen umzusetzen, und sie müssen auch bereit sein, sie notfalls mit Prügeln und Waffen­ge­walt zu ver­tei­di­gen. Das Volk ist dazu kein taugliches Organ und war es noch nie, weil es sowieso per Definition in viel zu viele Unterschiede und Gegensätze zerfällt, als dass hier ein gemeinsamer Nenner zu finden wäre, beziehungsweise: Wenn er zu finden wäre, dann wäre es eben letztlich nur so etwas wie die Nation, welche die fundamentalen Gegensätze übertüncht und damit genau diese Nation erst recht handlungsunfähig macht.

Ich habe vergangene Woche vom Fehlen einer politischen Bewegung mit einer internationalen Ausrichtung gesprochen und nur schon auf kontinentaler Ebene katastrophale Mängel dia­gnos­ti­ziert. Die Ideologie beziehungsweise die Identität ist dabei das eine; der andere Punkt ist natürlich der, dass man sich noch nicht mal auf gemeinsame Institutionen im gesamteuropäischen Kontext einigen konnte, auf der einen Seite, weil die Nationalstaaten sich in derart unterschiedlicher Art und Weise ausgeprägt haben, dass eine Vereinheitlichung praktisch unmöglich erscheint, und auf der anderen Seite, weil praktisch niemand den Aufwand auf sich nehmen will, diese Unterschiede mindestens in den groben Zügen auch nur darzustellen und mit den anderen zu vergleichen. Das wäre sicher eine erste große Aufgabe für die erwähnten Gruppen und Zusammenrottungen, neben der Pflege der Prinzipien. Europa muss nicht nur den offenen Marktzugang für alle europäischen Unternehmen sichern, sondern sich endlich auf gemeinsame Institutionen auch in den übrigen gesellschaftlichen Bereichen einigen. Jawohl, das Nationalstaat muss verschwinden, nichts anderes lehrt uns das aktuelle Aufflackern und teilweise sogar Lodern des Nationalismus, vor allem im Osten nicht nur Deutschlands, sondern auch Europas.

Vielleicht braucht es dafür mehr Zeit. Vielleicht muss man nochmals durch eine Phase der Auf­lösung durch, so was kommt in den besten Familien vor. Also Ciao, gute Engländer, gehabt's euch wohl in den unendlichen Weiten des atlantischen Ozeans, und viel Vergnügen vor allem für euren Finanzplatz, der offenbar keinen Bedarf an kontinentaleuropäischen Geldern hat.

Also gehen wir halt durch diese Unordnung durch, so gut wir eben können, und halten einfach unsere Prinzipien hoch und schauen uns um nach Gleichgesinnten, nach fähigen Menschen in allen Bereichen von Kunst, Wissenschaft und Ökonomie, und irgendwann wird sich die Erkenntnis dann doch durchsetzen gegen den gesamten Flickenteppich an Einzelinteressen, welche umso schäbiger werden, je lauter sie vorgetragen werden. Die moderne Gesellschaft muss definitiv anders konzipiert werden denn als ein Konzert von aufgeblasenen Fröschen, und auch die Kröten muss man irgendwie anders verteilen als nach Maßgabe der besten Lobbyarbeit, einmal abgesehen von der Landkarte der Realwirtschaft, über die man sich eigentlich zuerst beugen müsste, denn offenbar hängt nach wie vor die Raumplanung ab von den Geldschöpfungsmechanismen, welche man für diesen Raum vorsieht. Hier Tourismus, da Chemie, da Landwirtschaft, dort Finanzen, die Fischereiwirtschaft wird man am besten nicht in die Alpen verlegen, während alle auf dem Internet beziehungsweise auf der Telekommunikation beruhenden Aktivitäten tatsächlich mehr oder weniger frei gewählt werden können, vorausgesetzt, man verfügt über die entsprechenden Infrastrukturen, und wenn diese Infrastrukturen nicht vorhanden sind, dann müsste die entsprechende Region eigentlich in lauten Jubel ausbrechen, denn da besteht noch ein echtes realwirtschaftliches Potenzial. Die Gesundheit nicht vergessen als unterdessen fast wichtigsten volkswirtschaftlichen Bereich, der zieht grundsätzlich den Bevölkerungsströmen hinterher, kann aber auch dezentrale Aspekte beinhalten. Forschung und Entwicklung bleiben nach wie vor Kernbestandteile der Realwirtschaft, Bildung und Ausbildung in diesem Zusammenhang ebenso, und so weiter, und so fort; eigentlich geht es um eine durchaus überschaubare Anzahl an Faktoren, welche man über eine Landkarte so verteilen kann, dass sie in ein gewisses Verhältnis zur bestehenden Bevölkerung gesetzt werden, und über all dies stülpt man dann eben die Institutionen, und zwar nicht die historisch gewachsenen, sondern die besten, und zwar eben nicht pro Land, sondern auf dem gesamten Kontinent.

Ach ja, was kann einem denn sonst durch den Kopf gehen angesichts der Tatsache, dass sich deutsche Politiker wieder herausnehmen, ihre Zuhörerschaft mit «Deutsche» anzusprechen? Alle wissen, dass es rein semantisch ungefähr auf das gleiche herauskommt, wie wenn der Franzose die Französinnen mit «Françaises et Français» anspricht, und alle wissen ebenso gut, dass damit auf die eine oder andere Weise Bezug genommen wird auf jene Zeit, in welcher die Deutschen sich gleichsetzten mit Übermenschen und mit Ariern. Alle haben die gleichen Bedenken: Wenn es heute einreißt, dass die Deutschen sich wieder mit «Deutsche» ansprechen, dann wird man bald wieder wissen, wo man einkaufen muss und wo nicht, und es wird bald auch wieder heißen, dass unter dem Adolf nicht alles schlecht war, und das stimmt ja bekanntlich auch, zum Beispiel die Salzkartoffeln, die waren oft nicht versalzen. Ansonsten kann man nur sagen: Was soll der Scheiß? In den letzten siebzig Jahren ist es doch eigentlich ganz gut gegangen ohne nationalen Wahn und Wahnsinn, also lasst es doch einfach bleiben, sonst erinnern sich die anderen, aufgemerkt: Völker!, plötzlich wieder daran, wie Deutschland seinen Raum im Osten suchte und zusammen mit Italien und Japan Krieg und Verheerung über die ganze Welt brachte. Meint ihr jetzt wirklich, das sei unter anderem förderlich für die Exportindustrie? – Und ich spreche mit der Exportindustrie wirklich die aller­nied­rigs­ten Instinkte an, denn eigentlich sollte der Mensch unabhängig von der Wirtschaftslage einsehen, dass er als Mensch eben nicht Deutscher, Französin, Italiener oder Kroatin ist, sondern ganz einfach Mensch und Individuum mit seinem immer ureigenen Streben nach Glückseligkeit.

Aber offenbar haben eine ansehnliche Anzahl von Volksgenossen immer noch das Bedürfnis, hin und wieder die eigene Identität preiszugeben zugunsten jener höheren Identität, welche das völ­ki­sche Pack in Aussicht stellt, nämlich eben als ansonsten von jeglichem überflüssigen Schnick­schnack aus dem Bereich des Denkvermögens sowie vor allem von jeglicher individuellen Ver­ant­wortung befreites Kollektiv. Vermutlich gibt es Leute, welche so etwas auch als Solidarität empfinden, halt einfach nicht als internationale. Dabei enthält die Geschichte der Mensch­heit kaum etwas Hässlicheres als solche entkernte Subjekte, die man nicht mehr Individuen nennen kann. Und das im 21. Jahrhundert bei einem voll ausgebauten Bildungssystem und einer Arbeitslosigkeit von deutlich unter zehn Prozent. Das ist schon fantastisch.

Umgekehrt habe ich an dieser Stelle schon mehrfach angedeutet, dass das moderne Individuum durch­aus anderen Zwängen ausgesetzt ist und insofern auch nicht mehr das ist, was es einmal war. Die Ohnmacht des Einzelnen vor den Zuständen tritt regelmässig offen auf den Plan. Allerdings war der Einzelne oder die Einzelne halt auch in der Vergangenheit nicht immer besonders mächtig gegenüber den Zuständen. Das ist eine der Bedingungen des modernen Lebens, mit denen sich das moderne Subjekt auseinander setzen muss, aber natürlich mit dem Mittel der Analyse, nicht mit seinem Gegenteil und indem man sich Leuten mit vorsintflutlichen Produkteangeboten an den Hals wirft.

Soviel für den Moment hierzu, und auf eine Analyse des Phänomens des Deutschnationalismus, sonstwelchen Nationalismusses oder überhaupt der rechten Bewegungen verzichte ich an dieser Stelle sehr gerne und verweise bloß auf die vorher erwähnten Gruppen und Zusammenrottungen von denkfähigen Subjekten, welche nun bald einmal in die Diskussionen und dann eben auch in die Geschichte eingreifen sollten. Vielleicht gebe ich noch meiner Verblüffung Ausdruck, dass die Frau Petry in ihrer Argumentation durchaus normal und rational erscheint, im Gegensatz zu den anderen wütenden und kläffenden Deutschtümlern, das würde man der Frau Petry zum Vornherein gar nicht geben, vielleicht überlegt sie sich das Ganze ja nochmals; daneben aber erinnere ich mich daran, dass ich vor Jahren mal einen anthroposophischen Lehrer kennen gelernt habe, der voll bei der Sache war, in seinen Fächern, nämlich Deutsch und Geschichte, absolut stilsicher erschien und vor allem eine tolle pädagogische Hand im Umgang mit dem Schülergut zu haben schien. Kurz, nachdem ich einen ersten und sehr guten Eindruck von dem Herrn gewonnen hatte, flog der von der Steiner-Schule, was in der Schweiz ein Pendant zu euren Waldorf-Schulen ist, und zwar wurde er entlassen, weil er neben seinem Einsatz für die Anthroposophie noch ein anderes Hobby pflegte, nämlich den prächtigsten rassistischen Neonazismus. Kurz darauf machte er sich in der Öffentlichkeit breit als Anführer der Partei National Orientierter Schweizer. Bernhard Schaub heißt der Junge, und der schreibt auch heutzutage noch so schöne Dinge wie die folgenden: «Sie, die heutigen Leiter der Freien Waldorfschulen, ein linksalternatives kryptomarxistisches Pack, das sich nicht einmal entblödet, sich von ihrem eigenen Herrn und Meister, von Rudolf Steiner zu distanzieren, sie wissen ganz genau, dass Rudolf Steiner dem deutschen Geist und der weißen Rasse eine bevorzugte Stellung in der Weltentwicklung zuerkannt hat und dass er anderseits das Judentum als unzeitgemäß bezeichnete.» Jaja, genau. Prost, Hicks, Helau und Heil.