"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Vox Com

ID 76721
 
AnhörenDownload
Man ist ja immer auf der Suche nach Halt und Orientierung in jenem Theater, das unser eigenes Leben ist oder bietet. Vielleicht sind es erziehungs- oder ganz einfach wachstumsmorphologische Gründe, die uns dazu bringen, unsere Umgebung über ansehnliche Zeitspannen hinweg als stabil anzusehen, ob es sich nun um materielle Bereiche handelt, wo uns die Beständigkeit des Tegut- oder Aldi-Ladens an der übernächsten Straßenecke in der absolut begründeten Sicherheit der Lebensmittelversorgung wiegt, aber auch in den Beziehungsgeflechten, die uns umgeben oder in die wir eingebettet sind, erkennen wir grundsätzlich stabile Muster, die einem je nachdem Überraschungen, freudige Ereignisse oder auch Enttäuschungen oder nur Langeweile bereit halten, aber neu ist da kaum etwas, und so erscheint die Welt, unsere Welt, unser Leben durchaus geordnet, bestimmt von bekannten und unbekannten Kräften, wir ziehen unsere Bahnen wie Mars und Venus um die Sonne.
Audio
12:04 min, 28 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 26.04.2016 / 19:20

Dateizugriffe: 1274

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Wirtschaft/Soziales
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 26.04.2016
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Aber noch im allerstabilsten Universum treten immer wieder neue Kräfte in Erscheinung, wenn wir zum Beispiel nur schon unser Sonnensystem verlassen, um uns nach den Stationen der Vega zu fragen, des Herkunftssterns der Veganer: Die befindet sich nämlich nur gerade 25 Lichtjahre von der Sonne entfernt im Sternbild Leier und zusammen mit dieser in der «lokalen Flocke», wie ich dem schlauen Buch des Fähnleins Fieselschweif entnehme, und dabei scheint es sich um eine Wolke aus interstellarer Materie zu handeln, mitten in der «lokalen Blase», was wiederum eine Region der Milchstrasse mit wenig interstellarer Masse ist. Konkret enthält ein Kubikzentimeter Lokale Blase 0.001 Atome bei einer Temperatur von rund 1 Mio. Kelvin, während in der lokalen Flocke die atomare Dichte 0.26 pro Kubikzentimeter beträgt bei einer Teilchentemperatur von etwa 6000 Kelvin, und eine Karte der Lokalen Blase findet sich blau und gelb auf dem wunderbaren Internet, welches die Menschen deutlich gescheiter macht. Bei diesen Informationen finde ich allerdings die Kelvin-Angaben eher verwirrend, dachte ich doch, dass 0 Grad Kelvin für den absoluten Nullpunkt stehe, während 600 Grad Kelvin den ungefähren Schmelzpunkt von Blei angeben, und die mittlere Oberflächentemperatur der Sonne gibt ebendieses schlaue Buch mit 5778 Kelvin an. Die Teilchentemperatur in der lokalen Flocke, also in jenem Raumbereich, den die Fleischfresser und die Veganer miteinander teilen, liegt also leicht über der mittleren Oberflächentemperatur der Sonne, und das ist für meinen Verstand zu heiß, sodass ich mich umgehend aus dieser gefährlichen Region zurückziehe mit dem Hinweis, dass es in der modernen Welt keine Sicherheiten mehr gibt, mindestens keine Gewissheit darüber, was denn noch sicher ist oder bleibt und was nicht.

Wenn ich hier regelmäßig über den Journalismus ächze und stöhne, notabene fast wie ein durch­schnitt­liches AfD-Mitglied, bloß etwas anders, so hat dies natürlich damit zu tun, dass der Jour­na­lis­mus nach wie vor jener Beruf oder jene Tätigkeit ist, welche unsereins den größten Teil jener Informationen vermittelt, aus denen wir unsere eigene Welt zusammensetzen. Jeden Morgen bei einer Tasse ordentlichen Kaffees die Zeitung gelesen, da ist man doch in seinem proprietären or­dent­lichen Weltbild bestätigt und kann bei jedem Wetter als erwachsener, geistig gesunder Mensch das Haus verlassen. Aber eben, der Journalismus hat seine Tücken und mit ihm das Medium; die Zeitungen schrumpfen und verlagern sich aufs Internet, und einer der Nachteile dieser Veränderung ist jener, dass man auf dem Interne nicht mehr automatisch jenes Sammelsurium an Nachrichten, jene typische Balance aus Nonsense, Bedeutungslosigkeiten, dummen und saudummen Kom­men­ta­ren mit den tatsächlich nützlichen Informationen vorgelegt erhält, an welche man als Zeitungsleser gewohnt ist. Und als ebender Zeitungsleser macht man sich also auf und sucht auf dem Internet etwas, was in Zukunft als Ersatz für die bekannte Redaktion dienen könnte. In der Regel tun die bekannten Redaktionen ja das ihre, um ihr Papierprodukt auch in elektronischer Form zu präsen­tie­ren, aber man sucht dann halt doch auch anderswo nach tauglichen Informationsmitteln. Beiläufig bin ich in diesen Tagen auf die US-amerikanische Seite vox.com gestoßen. Laut Wikipedia soll es sich um eine knapp zwei Jahre alte liberale Nachrichtenseite handeln, wobei der Titel sicher eine Anspielung auf die Pest-und-Höllen-Seite fox.com mit den hinter dem Fox-Imperium steckenden Lügenbaronen Rupert Murdoch und den Koch Brothers ist.

Am 17. April schaltete vox.com zum Beispiel eine Karte auf, welche sich mit dem Schwarzen Tod im Europa des 14. Jahrhunderts beschäftigt bzw. die Ausbreitung der Pest in Europa innerhalb von nur gerade 6 Jahren zeigt, zwischen 1346 und 1353. Der dazu gehörige Artikel nimmt Bezug auf die Arbeit des norwegischen Geschichtswissenschaftlers Ole Benedictow. Relativ wenig betroffen war das heutige Polen sowie das Gebiet um Mailand und ein Streifen entlang der Pyrenäen, während im übrigen Europa geschätzte 60 Prozent der Bevölkerung ums Leben kam. In Polen waren es nur 25% und in Mailand 15%. Der Grund für diese echte Katastrophe lag in der vorangegangenen Zunahme der Bevöl­ke­rungs­dichte über mehrere Jahrhunderte hinweg mit den Migrations­bewe­gun­gen über den ganzen Kontinent, welche für die radikale Verbreitung des Pestvirus sorgten, gleichzeitig mit den üblichen misslichen sanitären Verhältnissen.

Wenn wir uns dagegen dem schlauen Buch zuwenden, dann weist dieses für den Zeitraum von 1347 bis 1353 nur eine Opferzahl von 25 Millionen aus, was einem Drittel der damaligen Bevölkerung entsprochen haben soll. Daneben prangt exakt die gleiche Karte wie jene von vox.com, und die Angaben sind etwas detaillierter; so sollen im Gegensatz zum relativ unversehrten Mailand in Florenz vier Fünftel aller Bürgerinnen und Bürger gestorben sein

Laut dem Bericht auf vox.com schuf dieser unglaubliche Bevölkerungsschwund die Voraus­set­zun­gen für die Entstehung zahlreicher Modernisierungen in der Landwirtschaft und im Gewerbe und damit auf kultureller Ebene für die Renaissance, wie Benedictow sagt. Die Wikipedia sagt, dass die Zahl der in Europa Lebenden weiter abnahm bis Ende des 15. Jahrhunderts, darauf 50 Jahre lang auf sehr niedrigem Niveau stagnierte und erst ab 1460 wieder zu steigen begann. Mit der massiven Abnahme der verfügbaren Arbeitskräfte erodierte auch die Grundlage für die feudale Ausbeutung von Bauern und Leibeigenen durch den Adel. Das ist ja dann wieder ein interessanter Hinweis für andere historische Analysen.

Für uns ist die Pestzeit weiter bekannt als Hoch-Zeit für Pogrome gegen die Juden, unter anderem jenes in Erfurt aus dem Jahr 1349, und aus Florenz haben wir als authentisches Zeitzeugen-Zeugnis das Decamerone von Boccaccio, aber auch weitere Beschreibungen des Elends in der Stadt durch ebendenselben Boccaccio.

Selbstverständlich bringt voc.com auch andere Nachrichten; ich erwähne diese hier nur, um zu belegen, dass sich die vorher erwähnte bunte Mischung durchaus auch in einer Internet-Publikation halten kann. Daneben steht ein Hinweis auf die bevorstehende Anhörung des Obersten Gerichtshofes der Vereinigten Staaten zu den Immigrationsgesetzen von Barack Obama, welche rund 4.5 Millionen Immigranten in den Schutz eines Integrationsprogrammes stellen würden, womit sie nicht mehr ausgewiesen werden können. Der Entscheid wird Ende Juni erwartet. Es gibt einen Überblick über die größten Streiks in der Geschichte der Vereinigten Staaten, zum Beispiel den Pullman-Streik im Jahr 1894, an dem sich 250'000 ArbeiterInnen beteiligten; am Schluss entsandte Präsident Cleveland das Militär, welches dem Streik ein Ende setzte. 1919 fand der große Stahlarbeiter-Streik statt, an dem 350'000 ArbeiterInnen teilnahmen; dieser ging zwar ohne den Einsatz des Militärs, aber auch ohne Erfolg der Streikenden zu Ende, nachdem die Arbeitgeber die öffentliche Meinung erfolgreich gegen die Arbeiter mobilisiert hatten. Der Eisenbahnerstreik von 1922 mobilisierte 400'000 ArbeiterInnen nach einer generellen Lohnkürzung um 12%; hier operierte die Eisenbahn-Führung mit Streikbrechern, und der US-Generalstaatsanwalt erließ ein Streikverbot, was zum Versanden der Aktionen führte. Im Textilarbeiterstreik im Jahr 1934 traten 400'000 Beschäftigte in den Ausstand. Hier ist die Vorgeschichte jene, dass im Rahmen des Industrieförderungsgesetzes von Franklin D. Roosevelt die Wochenarbeitszeit auf 40 Stunden gesenkt wurde, worauf die Textilbarone einfach die Produktionsvorgaben erhöhten, sodass die ArbeiterInnen nun innerhalb von 40 Stunden das gleiche produzieren mussten, was sie zuvor in 60 Stunden erledigt hatten. Hier kam die Nationalgarde zum Einsatz und in einzelnen Bundesstaaten das Militär. Der Streik der AutomobilarbeiterInnen bei General Motors, den die Gewerkschaft UAW von November 1945 bis März 1946 organisierte, wurde von 225'000 ArbeiterInnen befolgt, unterstützt von Aktionen anderer Gewerkschaften in anderen Sektoren. Dieser Streik wird als erster Erfolg einer großen Streikbewegung ausgewiesen. Einen nächsten Erfolg gab es schon im Jahr 1946 beim Streik von 174’000 ElektrikerInnen gegen General Electric. Im gleichen Jahr verbuchte auch die Bergbau-Arbeiter-Gewerkschaft UMW einen Sieg, nachdem sich 400'000 Kohle-Bergleute für bessere Löhne, Sicherheitsbedingungen und so weiter eingesetzt hatten. Am Streik der Stahlarbeiter im Jahr 1959 beteiligten sich eine halbe Million Beschäftigte, wiederum mit Erfolg; auch der Streik der Postangestellten im Jahr 1970 brachte bei einer Beteiligung von 210'000 ArbeiterInnen die Erfüllung der Forderungen nach besseren Löhnen und dem Recht zu Kollektivverhandlungen. Am Streik beim privaten Postkurierdienst UPS im Jahr 1997 beteiligten sich 185'000 Angestellte, und auch hier setzten sich die Gewerkschaften durch.

Die Darstellung der größten Streiks in der US-amerikanischen Geschichte ist kein Zufall, sondern steht im Zusammenhang mit dem Streik von 36'000 Angestellten von der Festnetz-Abteilung bei Verizon, was 20% der Belegschaft entspricht. Hier geht es darum, die stecken gebliebenen Verhandlungen um einen neuen Tarifvertrag wieder ins Rollen zu bringen. Konkrete Streitpunkte sind die betriebliche Krankenversicherung, die berufliche Mobilität, das Recht auf Kollektiv­verhandlungen beim Mobiltelefondienst von Verizon und natürlich die Auslagerung von Jobs. Die Firma begegnet dem Streik mit Streikbrechern, und für mich bemerkenswert ist eine App, die sie zur Verfügung stellt und vermittels welcher die nicht gewerkschaftlich organisierten ArbeiterInnen sofort allfällige Verstöße gegen irgendwelche Vorschriften melden können, zum Beispiel Sachbeschädigungen oder körperliche Gewalt. Jetzt hat sich auch Präsidentschaftskandidat Bernie Sanders auf der Seite der Streikenden gezeigt und wettert gegen das Unternehmen, was das Zeugs hält, unter anderem, weil Verizon zwar anständige Gewinne erzielt, aber von 2008 bis 2012 keinen Cent an Bundessteuern bezahlt hat. Laut Vox.com wird sich der Konflikt zwischen Belegschaft und Firma unabhängig vom Streik selber noch länger hinziehen, denn es geht nicht nur um Gewinne und Steuern und Löhne und Krankenversicherungen, sondern es geht um die Veränderungen auf dem Telecom-Markt und um die Anpassungen des gesamten Geschäftsmodells.

Soviel für heute.