"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Entwicklungshilfe

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In den Debatten zur Migrationsfrage kommen auch die Leuchttürme des Populismus auf ein paar vernünftige Gedanken, eventuell weil sie sie in ihrer Gesamtunfähigkeit zur Unterteilung zwischen Vernunft und Unvernunft nicht als solche erkennen oder aber einfach aus politisch-populistischem Kalkül, das den Populismus ja gerade ausmacht.
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11:10 min, 26 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 26.04.2016 / 19:53

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Wirtschaft/Soziales
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 26.04.2016
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Der Populismus als solcher ist übrigens die übelste Diagnose, welche solch einem Volk überhaupt gestellt werden kann, er bestreitet geradezu die Fähig­keit dieses Volkes, aus eigenem Antrieb und Recht und aus eigener Einsicht zu einem ver­nünf­ti­gen Urteil fähig zu sein, aber das wisst ihr ja schon längst, und dementsprechend erstaunt es euch wohl auch nicht beson­ders, dass sich der Populismus ebenso gerne bei der Wahrheit bedient wie bei der Lüge, Haupt­sache, das Stimmvieh futtert aus der Hand, welche ihm die Körner hinhält. Im Migrations­bereich ging es da vor einem Jahr darum, dass unsere Damen und Herren Rechts­na­tio­nalistInnen im Schwei­zer Parlament mit unbedingtem Recht darauf hinwiesen, dass man die Völ­ker­wanderung am besten dort stoppen würde, wo sie beginnt, also bei den Verhältnissen in den Quellländern. Damit haben sie in einem derart umfassenden Sinne recht, dass ihnen wohl selber schwindlig wurde, denn anders lässt es sich kaum erklären, dass sie nun, ein Jahr später, im glei­chen Schweizer Parlament eine massive Kürzung der Entwicklungshilfe, die seit Jahrzehnten auch Entwick­lungs­zu­sam­men­ar­beit genannt wird, fordern. Die Schweiz muss unbedingt ihr Budget aus­gleichen, um nicht so zu enden wie der gescheiterte Staat Libyen oder mindestens Griechenland, ihr erinnert euch noch an die Zahlen, die ich an dieser Stelle bereits genannt habe: Staatsverschuldung zwischen 2003 und 2015 gesenkt von 124 Milliarden Franken auf 104 Milliarden, Gesamt­staats­ver­schul­dung 2015 33% des Bruttoinlandproduktes, und Rechnungs­über­schuss des Zentralstaates 2015 über 2 Milliarden Franken. Da muss man natürlich dringend bei der Entwicklungshilfe kürzen, versteht sich.

Irgendwie komme ich mir selber in jenen Augenblicken am idiotischsten vor, in welchen ich den Rechtsidioten ihre eigenen Widersprüche nachweise, wie jetzt gerade hier. Das nützt ganz offen­sichtlich nichts, zum einen, weil die sowieso nicht Radio F.R.E.I. hören, zum anderen aber auch dann nicht, wenn man es ihnen in einem anderen Medium vorträgt, zum Beispiel in Form von Schallwellen in der Luft vor ihrer Ohrmuschel. So etwas dringt beim klassischen Populisten-Idioten nicht an den von der Natur dafür vorgesehenen Platz im Hirn, sondern wird vorher durch eine spezielle Hör-Schleife abgefangen und durch einen Filter geleitet, welchen die Parteileitung den Damen und Herren vermittels einer minimal invasiven Operation in ihren PR-Büros eingesetzt haben irgendwo zwischen Hammer und Amboss, vielleicht beim Steigbügel, auf jeden Fall hinter dem Trommelfell irgendwo zwischen Paukenhöhle und Ohrtrompete, möglicherweise ins runde Fenster oder in die Bogengänge. – Aber wir wissen ja nicht erst seit Donald Trump, sondern schon seit der zwanzigjährigen Regierungszeit von Silvio Berlusconi in Italien, dass die Welt sich vom größten Blödsinn nicht aus der Bahn und nicht aus der Laufruhe bringen lässt, dass Italien nicht im Mittelmeer versunken ist und dass auch Deutschland keine achtzig Jahre nach seinem Welt­unter­gang mit einer Bilanz von 50 Millionen Toten wieder soweit ist, dass besonders achtsame Gesell­schafts­wissenschaftler Bestseller publizieren können mit Titeln wie «Deutschland schafft sich ab». Den Bezug auf die richtigen und wahren deutschen Qualitäten, welchen Thilo Sarrazin dabei herstellt, möchte ich bei Gelegenheit mal erklärt bekommen, oder wisst ihr was: lieber doch nicht.

Wie auch immer: Zum einen soll man die Quellländer der Migration wirtschaftlich, sozial und poli­tisch aufrüsten, um die Quelle zum Versiegen zu bringen, haben also unsere Nationalidioten fest­ge­stellt, und jetzt fragt man sich, wie das denn jenseits von Entwicklungshilfe gehen soll. Eines weiß ich natürlich: Jene Menschen, welche den Löwenanteil des Entwicklungshilfe-Budgets verspeisen, nämlich all die Entwicklungshilfe-ExpertInnen aus den westlichen Ländern, sind aus verschiedenen, wo nicht überhaupt allen Gründen nicht in der Lage, rechts, national oder populistisch zu denken und zu argumentieren, denn unabhängig von ihrem Beitrag zur Lösung welchen Problems auch immer haben sie die Probleme doch immerhin gesehen und sich damit beschäftigt, und das schließt rechtsnationalistische Gehirnsimulationen einfach aus. Von Denken sollte man in diesem Zu­sam­men­hang lieber nicht sprechen.

Nur damit wir uns richtig verstehen: Nicht jede Hirntätigkeit in sozialdemokratisch tickenden Men­schen ist automatisch gut und richtig und verdient das Prädikat eigenständige und kritische Denk­leistung. Und in der Welt-Ideengeschichte hat man schon verschiedentlich das Auftauchen eines linken Populismus, wo nicht eines linken Nationalismus' beobachtet, und die Weltgeschichte ins­gesamt lässt uns den Hinweis zukommen, dass die Entstehung von Nationalstaaten eine nicht unbedeutende Phase der modernen Gesellschaften war und dass solche Nationalstaaten ohne den mit ihnen korrelierenden Nationalismus nicht so richtig denkbar wären. Und so weiter, und so fort. Trotzdem bleibe ich dabei, dass die Welt der Nationalstaaten in Zukunft gerne im Museum, aber bitte nicht auf den Straßen von Dresden und Magdeburg und Lübeck und wo auch sonst nocht immer betrachtet werden soll.

In den Entwicklungsländern selber gilt dies nicht so kategorisch. Trotz der rasenden Entwicklung, welche dort im Gang ist, mindestens überall dort, wo es Rohstoffe und Telekommunikation gilt, müssen diese Länder und Gesellschaften noch weite Wege gehen bis zur Ausbildung eines Natio­nal­staates, welcher seinen EinwohnerInnen die erforderlichen modernen sozialdemokratischen Errungenschaften zugesteht, also einen minimalen Anteil am gesellschaftlichen Reichtum, einigermaßen moderne Infrastrukturen, politische Rechte und so weiter. Die Formulierung ist als solche schon ziemlich frivol, denn der Nationalstaat sollte seiner Bevölkerung eigentlich keinerlei Dinge zugestehen, sondern er sollte geradezu eine Errungenschaft ebendieser Bevölkerung sein, und das heißt dann zwangsläufig das Ergebnis der gegensätzlichen oder widersprüchlichen Inter­essenlagen innerhalb des Territoriums, auf welchem er sich bildet, und die sozialdemokratischen Errungenschaften sind genau jene, welche sich aus gewissen Einsichten aus diesen Interessen­kon­flik­ten ergeben, zum Beispiel dass allen Mitgliedern der Gesellschaft ein Mindestanteil am verfügbaren Reichtum zur Verfügung zu stellen sei, ein Grundstock an Bildung, der Zugang zu modernen Infrastrukturen und zum Gesundheitswesen, und das ökonomische Wesen des sozialdemokratischen Staatswesen besteht recht eigentlich darin, dass all diese Errungenschften letztlich den Hauptmotor der Wirtschaftstätigkeit darstellen, was sich in der Jahresbilanz zum Beispiel in jenen zwei Dritteln am Bruttoinlandprodukt widerspiegelt, welche aus dem Inlandkonsum gespiesen werden. Mit anderen Worten: Für die sozialdemokratische Staatsform braucht es nicht mal einen besonderen Heroismus oder Altruismus, sondern bloß ein Quantum Grips, welches der durchschnittlichen Denkleistung eines apportierfähigen Hundes entspricht. Damit dieser Grips aber auch zur gesellschaftlichen Realität wird, sind dann weitere ausergripsliche Elemente erforderlich, mit welchen sich die oder der Entwicklungshelfer zeit ihres Lebens herum schlagen und in jenen beiden Bürokratien, welchen sie jeweils Rechenschaft ablegen müssen, näm­lich derjenigen im Ursprungsstaat im entwickelten Norden zum einen, zum anderen jener des unterentwickelten Staates im Süden, für tüchtige Beschäftigung sorgen; wie gesagt: Ein Großteil der Entwicklungshilfe-Gelder fließt schon in die Entwicklung, aber nicht in jene einer sozialdemo­kratischen Gesellschaft à la CDU/CSU. Hierin haben die Rechtsnationalen mit ihren Ressentiments bestimmt in die richtige Richtung gezielt, aber sie müssten, um ganz oder überhaupt recht zu haben, dann auch noch angeben, was denn gefälligst anders laufen sollte, und in diesem Punkt sind sie gänzlich unbeschlagen, wenn man mal ihre mit schweren Brettern vernagelte Vorderfront beiseite lässt. Und so richtet sich ihr Protest nur gegen jenes kleine Bisschen, das im Rahmen der Entwick­lungshilfe doch noch an gegenseitigem Verständnis und zum Teil auch an Austausch fließt, und der Protest heißt letztlich nur, dass doch bitte alles so bleiben möge, wie es vor hundert Jahren war, mit Ausnahme der schönen Dinge des Lebens, die sich in der Zwischenzeit völlig unerklärlicherweise bei uns eingestellt haben und die nur ein vaterlandloser Geselle mit Dingen wie technischer Fort­schritt, Automatisierung, Globalisierung und Kommunikation in Verbindung bringen würde, wo doch der Nationalist genau weiß, dass dies allein ein Verdienst der lauteren Schweizer Tugen­den ist, sofern der Nationalist ein Schweizer ist; wenn er aber ein Deutscher wäre, dann wäre mehr oder weniger offenkundig, dass aller Fortschritt allein ein Verdienst der deutschen Tugenden wäre, und so weiter. Die Leute sind dermaßen offenkundig blöd, dass es ein offen zutage liegender Skandal ist, dass sie alle vier Jahre wieder ins Parlament gewählt werden.
Unter Erwachsenen kann man dann doch hin und wieder die Frage stellen, ob man die Entwick­lungs­hilfe abschaffen soll oder nicht. Es ist längstens Konsens, dass sie genau dort nicht ansetzen darf, wo es am dringendsten nötig wäre, nämlich bei den Machtverhältnissen und bei der Verteilung des Reichtums sowie bei der staatlichen Organisation, welche zum Beispiel im Falle von Afrika nach wie vor in Clan- und Familieverhältnissen verhaftet ist. Das jüngste Beispiel stammt allerdings nicht aus Afrika, sondern aus Kuba, wo sich die Familie Castro für die baldige weitere Markt­öffnung abgesichert hat mit verschiedenen Beteiligungen, unter anderem an einem gewaltigen Hafenprojekt. Immerhin halten wir den Castros und den Kubanern zugute, dass sie ihr Land über Jahrzehnte hinweg einigermaßen unter Berücksichtigung der Interessen der breiten Bevölkerungs­schichten organisiert haben und absolut nicht nur klientelistisch, auch wenn einige klientelistische Merkmale im Land immer präsent waren, aber immerhin. Das Land ist in keiner Art und Weise darauf ausgelegt, dass irgendwleche Eliten es zulasten sämtlicher Infrastrukturen ausbluten, im Gegenteil. Wenn nun nicht irgendein US-amerikanischer Konzern, sondern postrevolutionäre nationale Eliten die Führung der kubanischen Wirtschaft übernehmen, ist das zwar ein Verstoß gegen die Revolutionsromantik, aber sicher noch nicht zum Vornherein ein Beweis ihrer Unfähigkeit, und darum geht es dann letztlich halt. Ich gehe mal davon aus, dass die Castros durchaus brauchbare Management-Fähigkeiten haben.