"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Rauschen

ID 77159
 
AnhörenDownload
Politisch und ideologisch durchquert Europa gegenwärtig eine Zone sehr intensiven Rauschens, ein Feld mit ungeheuer vielen Äußerungen, Stellungnahmen, Publikationen, Blogs, Reden, Parolen und was immer die Erscheinungsformen von Kommunikation sind, bei denen insgesamt die Konturen weitgehend verschwunden sind, ebenso wie der Ursprung und die Ziele in einem anderen Rauschen versunken sind. Gewisse Leute haben es gut und wissen wenigstens noch, woher sie bezie­hungs­weise ihre Ideen kommen, aber ein steigender Anteil der Bevölkerung ist nicht mal mehr in dieser Beziehung auf dem Laufenden.
Audio
09:51 min, 18 MB, mp3
mp3, 256 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 17.05.2016 / 19:33

Dateizugriffe: 2280

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Wirtschaft/Soziales
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 17.05.2016
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Ein eigentümlicher Begleiteffekt dieses Rauschens ist die ständige Bereitschaft zur Empörung, sehr gerne gegen die Regierung, aber auch gegen die anhaltende Störung der Tagesruhe, zum Beispiel durch reihernde Störche. Der Islam geht uns auf den Keks, die Christen gehen uns auf den Keks, Borussia Dortmund ebenso wie die Bayern, in Frankreich geht François Hollande den Franzosen auf den Keks, aber alle anderen genau so, wobei François Hollande das historische Missgeschick hat, ausgerechnet in dieser Rauschephase Präsident zu sein, und alle Kommentatorinnen sind sich einig, dass er nur noch dann eine Chance hat, zu den nächsten Präsidentschaftswahlen im Jahr 2017 überhaupt anzutreten, wenn der Islamische Staat sich nochmals aufrafft und ein paar tolle Terror-Anschläge hinlegt; das scheint das einzige zu sein, was dem europäischen Rauschen noch einigermaßen Halt und Struktur gibt.

Dabei wäre der Hollande vielleicht gar kein so übler Präsident gewesen. Er hat von Anfang an darauf verzichtet, das große Präsidentschafts-Brimborium abzuziehen, das seine Vorgänger, namentlich die Koksnase Sarkozy, aber auch der professionelle Betrüger und Bestecher Jacques Chirac mit ungeheurem Genuss zelebrierten. Er hat auch versucht, verschiedene Punkte aus seinem Wahlprogramm tatsächlich in die Praxis umzusetzen. So, wie es aussieht, haben die Franzosen und allen voran die Sturmgeschütze der französischen Demokratie, also die Medien, genau das nicht goûtiert, dass da einer der ihren so blöd ist und tatsächlich daran glaubt, was er erzählt. Auf eine bestimmte und Hunds-Art wissen oder ahnen die Menschen, welche so eine Bevölkerung ausmachen, offenbar doch recht genau, dass so ein Staatsmann und Staatenlenker letztlich selber von Kräften gelenkt wird, welche sich in einer verborgenen Welt, weit, weit oberhalb des Polittheaters organisiert und die dann im wissenschaftlichen Diskurs auch noch ironischerweise Realwirtschaft genannt wird. Hollande hat sich darum eigentlich nie gekümmert, er hat eine aussichtslose Reichtumssteuer eingeführt, für welche ihn die Französinnen und Franzosen vermutlich noch mehr hassen als für alles andere, weil er sie mit dieser Reichtumssteuer einer Illusion beraubt hat, nämlich jener, dass man vielleicht irgendwann einmal eine Reichtumssteuer einführen könnte. Ihr Effekt war auf jeden Fall gleich null, wie das absehbar war und von der intuierenden Bevölkerung auch korrekt verspürt wurde.

Was haben wir gespottet über Italien! Gelacht haben wir nicht, zugegeben, dieser Fatzke als Regierungschef war alles andere als komisch, und heulen konnte man auch nicht, so blieb halt nur der Spott. Und jetzt? Der Renzi sieht uns so aus, als würde er den Berlusconi im Kleinen imitieren. Aber immerhin scheint sich doch das eine oder andere zu bewegen in diesem Land, obwohl die objektiven Alliierten von Berlusconi, nämlich die konservierenden Privilegien-Gewerkschaften, sich mit aller Macht und einem revolutionär oszillierenden Vokabular gegen alles stemmen, was nach Modernisierung riecht. Was heißt da «obwohl», natürlich ist genau diese Opposition das untrügliche Anzeichen dafür, dass sich in Italien tatsächlich etwas bewegt. Und noch ein weiteres Anzeichen gibt es: In Italien herrscht nach dem zwanzigjährigen Berlusconi-Schlamassel, zu welchem ja ohne Zweifel die ähnlich schlamasseligen Zwischenzeiten mit D’Alema-Links­regie­rungen gehörten, nun plötzlich wieder eine positive Stimmung. Wenn man mir heute erzählt, dass die Kreativität in dieses Land zurückgekehrt ist, dann glaube ich das sofort. Was ich allerdings nicht weiß, das ist, ob so etwas irgendwann einmal auch eine politische Form annimmt, das heißt, ob es soweit kommt, dass in Italien auch mal die Institutionen tatsächlich erneuert werden. Aber der Italiener weiß selbstverständlich am besten von allen noch existierenden antiken Völkern, dass man auch im institutionellen Schlamassel einen Weg zum guten Leben findet, und vielleicht ist genau dies ja auch das Geheimnis des aktuellen Kreativitätsschubes im Land.

Kreativ finden sich offenbar auch die Akteure oder mindestens Parleure auf der politischen Rech­ten, wenn sie in zunehmenden Steigerungen ihren nationalistischen und auch sonst nur noch dum­men Brunz produzieren und sich damit einigermaßen greifbar aus dem allgemeinen Rauschen hervorheben. Im Aufmerksamkeitsgeschäft ist auch der Ekel eine klingende Währung, mit welcher man sogar ansehnliche Erfolge erzielen kann, und so wird es wohl nicht mehr lange dauern, bis alle Tabus aus purer Renitenz über den Haufen gerührt werden. Die Freiheitlichen in Österreich führen dann im Jahr 2020 den Deutschen Gruß wieder ein, natürlich unter dem Namen Österreicher Schman­kerl, in Sachsen werden die freiwilligen Feuerwehren umfunktioniert in die freiwilligen Feuerspeier und so weiter. Jenseits von aller Abscheu muss sich die Vernunft aber stets vor Augen halten, dass es sich dabei tatsächlich um ein Rauschen handelt, das noch nicht als Vorbereitung für die Rückkehr ins 12-jährige braune Zeitalter interpretiert werden sollte. Vielmehr geht es um die Gegenwart, und dass in der Gegenwart keine brauchbaren Parteien und Programme im Angebot stehen, sondern eben bloß ein lautes Rauschen, hat mit weit anderen Faktoren zu tun als mit der Rückkehr der rechten Ideologie. Vielmehr ist die Ideologie als solche in diesem Rauschen aufgehoben. Ein Grund dafür liegt in der Existenz der vorher erwähnten realwirtschaftlichen Ebene, wo in erster Linie die realen politischen Entscheide gefällt werden, das heißt, wo sich die Macht organisiert. Dabei sollte man sich nicht mehr nur ein klar identifizierbares Filzwerk von reichen und einflussreichen Säcken vorstellen; auch die tatsächlichen Entscheidungsträger sind von zahlreichen Elementen und Faktoren abhängig, welche eher sie lenken, als dass sie sie bestimmen könnten.

Ein weiterer Grund liegt in der Art und Weise, wie sich die Kommunikation gegenwärtig verbreitet und vermehrt. Dass Silvio Berlusconi alles und das Gegenteil von allem verzapft hat, ist unter­des­sen Allgemeingut, aber die neue Erkenntnis lautet, dass das bei Weitem nicht ausreicht, es gibt noch tausende von Varianten zu allem und dem Gegenteil von allem, und wenn es jemandem gelingt, hier noch einen klaren Kopf zu bewahren, dann sollte man ihn in eine Irrenanstalt sperren. Das gilt selbstverständlich zuerst für die Inhalte, aber auch die Herleitungen werden verrauscht, und zwar in dem Maße, in dem sich die Welt neu präsentiert und ihren Zusammenhang mit vorhergehenden Welten verloren hat.

Ich bin nicht wirklich sicher, aber ich denke doch, dass hier der Hauptgrund für diese Rauschephase liegt: Dass wir tatsächlich seit geraumer Zeit in einer radikal neuen Welt leben, wo wir uns zu allem Überfluss noch der Instrumente und Kriterien vorheriger Epochen bedienen, um sie zu ordnen und zu verstehen; dies führt auch zur Fixierung auf die Dämonen der Vergangenheit, wo wir uns doch die Geister der Gegenwart und der Zukunft zu eigen machen sollten.

Als Arbeitshypothese nehme ich mal an, dass sich zahlreiche Menschen, welche die Anbindung an die vergangenen ideologischen Auseinandersetzungen verloren haben, gar nicht mehr besonders um solche Dinge kümmern und stattdessen weitgehend frei ihres Weges gehen. Vielleicht ist dies die effizienteste Methode des zeitgenössischen Lebens, auch wenn sie stark an das erinnert, was ich an der Postmoderne immer und grundsätzlich kritisiert habe. Für mich selber allerdings gilt dies nicht, denn ich habe noch zu stark jene Kriterien und Diskussionen im Kopf, welche sich mit der Gestaltung der modernen Gesellschaft befassen, mit der Frage, welche Institutionen die richtigen seien für diese Gesellschaft, auch wenn das Risiko besteht, dass für diese moderne Gesellschaft am Schluss nur noch ein großes soziales Netzwerk nötig ist mit den jeweiligen Like- oder Dislike-Knöpfen, was das Regieren und agieren nicht nur schneller macht, sondern auch umfassend prinzipienlos. So weit vermag ich nicht zu gehen, und ich halte mir stattdessen die andere Arbeitshypothese aufrecht, wonach es sich hier ganz einfach um einen weiteren Flecken in der Milchstraße handelt, durch welchen die Menschheit jetzt gerade einfach durchtrudelt und dass dieses Rauschen bei Gelegenheit wieder mal klarere Konturen erhalten wird und wieder einer echten und grundlegenden Auseinandersetzung, eben über die besten Wege und Möglichkeiten weichen wird.
In der Zwischenzeit beobachten wir nicht ohne Spannung den Verlauf der Popularitätskurve von François Hollande. Seine Regierung steckt im Moment im gleichen Clinch mit den französischen Privilegien-KonservatorInnen von den Gewerkschaften wie der Renzi mit den seinen. Ich persönlich habe zwar alle Sympathien für eine Bewegung, die sich «nuit debout» nennt, also schlaflos durch die Nacht, aber was die Protest-Substanz angeht, so fehlen dieser Bewegung doch noch ein paar Argumente, hier ist noch nicht mal das Rauschen erreicht, sondern erst der Rausch. Wie gesagt: Das ist nicht zu verachten, aber so richtig toll Politik, Wirtschaftspolitik, Sozialpolitik, Außenpolitik betreibt man nicht auf diese Art und Weise. Soweit solche Bewegungen überhaupt einen politischen Kopf haben, also eine Instanz, welche sich Gedanken macht über die größeren Zusammenhänge oder über die Tragweite der eigenen Forderungen, so müsste nach der durchzechten Nacht dann endlich mal ein Vorschlag kommen, wie man die Slums in den französischen Städten mit ihren afrikanischen und zum Teil moslemischen EinwohnerInnen in eine zivilisierte französische Realität überführt. Die anderen Dinge, egal, ob es sich um die 35-Stunden-Woche handelt oder um die Frühpensionierung mit 55 Jahren, die kann man dann bei Gelegenheit mal separat abhandeln.