"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Griechenjux

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Die Einheit von Raum, Zeit und Ort, welche das antike griechische Theater bestimmt, kann auch bei Schmierenkomödien oder Farcen oder was dergleichen mehr ist, eingehalten werden. Das mo­derne griechische Theater ereignet sich im Jahresabstand immer wieder gleich: Die Kreditgeber fordern neue Sparmaßnahmen und sprechen neue Kredite, beides ist so offenkundig nutzlos, dass sich die ganze Welt nicht einmal mehr die Sinnfrage stellt, das griechische Drama hat vorüber­ge­hend den Status eines Naturereignisses angenommen.
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10:24 min, 24 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 25.05.2016 / 18:51

Dateizugriffe: 2217

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Wirtschaft/Soziales
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 24.05.2016
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Zu Beginn war man als neutraler Beobachter noch hin und her gerissen zwischen dem Unmut über die absolute Verantwortungslosigkeit der griechischen Bevölkerung in Sachen staatliche Organisation und Betrieb eines Staates auf der einen Seite und der Abscheu gegenüber den begeisterten Profiteuren des griechischen Wirtschafts- und Schuldenspektakels in der europäischen Industrie- und Bankenwelt, inklusive der Rettungsaktionen der europäischen Staaten, nicht gegenüber Griechenland, sondern gegenüber den eigenen Speku­lan­ten und Banken, welche sich absichtlich oder naiverweise in die griechischen Staatsschulden verrannt hatten. Nun ist eine Bankenrettung nicht per se eine schlechte Sache, weil die Folgen der Nichtrettung noch schlimmer sein können als die Rettung; aber dass dieses Europa dabei einen ganzen Staat vor die Hunde gehen lässt und sich auf seinem Kadaver den Schmutz von den eigenen Schuhen abwischt, das ist schon ziemlich enorm. Man beginnt schon wieder ein gewisses Mitlied zu kriegen mit den normalen griechischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern, die man soeben noch verachtet hat, weil sie sich nun wirklich keinen Deut um ihre eigene Organisation geschert haben und im Gegenteil die Ineffizienz und Antimodernität geradezu zelebriert haben, vermutlich unter dem Rubrum Nationalcharakter und Folklore. Es gehört nun mal zu Griechenland, dass man dort keine Sechser-Schraube findet, wenn man eine braucht, sondern nur Fünfer und Achter, diese aber in rauen Mengen. Darauf trinkt der Grieche seinen Ouzo und macht dann Siesta.

Selbstverständlich sind dies nur sehr oberflächliche Beobachtungen und Gedanken, und ich würde gerne auf mich selber meinen eigenen Grundsatz anwenden, dass man die Welt nicht im Rahmen von Nationalstaaten und Völkern abhandeln soll und somit auch nicht die Griechen, aber die Jungs und Mädels beharren selber so eindrücklich darauf, dass mir im Moment auch nichts anderes übrig bleibt, vielleicht noch mit der Ergänzung, dass sich hinter all dem Schlamassel doch immer wieder Ansätze zur Einrichtung funktionierender Wirtschaftstätigkeiten zeigen zum einen und dass zum anderen das ganze Karussell an Förder- und anderweitigen Programmen der Europäischen Union munter weiter dreht und für gute Laune sorgt bei jenen Menschen, welche einen garantierten Platz an solchen Töpfen gefunden haben.

Eine zentrale Frage lautet immer gleich: Gibt es unterdessen ein Katasteramt, ein staatliches Grund­buch? Und die zentrale Antwort lautet ebenfalls unverändert: Nein. Die griechisch-katholische Kir­che als größter Grundbesitzer wehrt sich nach wie vor erfolgreich dagegen, und der Bevölkerung ist es schlicht und einfach schnurzegal, solange sie mit ihren Popen einen Schnaps trinken können. Ohne Grundbuch können aber auch keine Steuern auf Grundbesitz erhoben werden, das trifft sich, denn man hat ja auch sonst keinerlei Angaben zu irgendwelchen Einkommen und Vermögen mit Ausnahme der Staatsbediensteten. In diesem Zusammenhang kommt mir der Verweis auf den Bank­daten-Austausch in den Sinn, den man bereits vor ein paar Jahren gemacht hat: Die inter­na­tionale Geber- und Bankengemeinschaft fordert von den Griechen den Betrieb eines ordentlichen Steuersystems; aber es wäre niemand auf dem ganzen Kontinent dazu bereit, dem griechischen Staat eine umfassende Liste mit Konten und Beständen sämtlicher griechischer Staatsbürger zur Verfügung zu stellen. Wie soll das denn gehen?

Ich meine, ich verstehe schon, hier würde ja geradezu ein Präjudiz geschaffen für die Offenlegung sämtlicher Bankdaten, und so etwas scheint in ganz Europa ein Verstoß gegen das Intimitätsprinzip zu sein. Demnächst werden nach den Mail- und Computerdaten auch das Umweltverhalten und alle medizinischen Angaben zu sämtlichen europäischen Bürgerinnen und Bürgern eingefordert und in zentralen Datenbanken abgelegt, aber die Offenlegung der Bankdaten, das ist offensichtlich das letzte Tabu, welches die Bevölkerung von Lampedusa bis zum Nordkap einhellig verteidigt. Prächtig, prächtig. Und gleichzeitig rast der Nationalismus in den jeweiligen Landesgrenzen herum, dass es eine Freude ist. Die Prioritäten scheinen gegenwärtig echt wunderbar gesetzt zu sein.

A propos Grundbuch: Man kann ja den Staat und die Gesellschaft im Immobilienbereich auch bescheißen mit einem funktionierenden Grundbuch. In der Schweiz hat das Parlament vor drei Wochen beschlossen, ein Gesetz aufzuheben, mit welcher die wundersame Wertschöpfung besteuert wurde, die eintritt, wenn landwirtschaftliche Bodenflächen umgezont werden in Bauland. Der dabei geltende Faktor ist nicht etwa zwei oder fünf oder zehn, sondern der ist schlicht und einfach hundert. Ein Quadratmeter Landwirtschaftsfläche kostet 2 bis 5 Franken, während ein Quadratmeter Bauland gut und gerne 500 Franken einbringt, mindestens an der richtigen Lage. Jetzt dürfen die Bauern diese wundersame Geldvermehrung also wieder alleine einstreichen. Und bei dieser Gelegenheit denkt man daran, dass die gewaltige Bautätigkeit der letzten 50 Jahre ja nicht auf Grundstücken stattfand, welche allesamt der Öffentlichkeit gehörten; vielmehr war all dieses Bauland in der großen Mehrheit früher mal Landwirtschaftsgebiet. Man kann sich leicht ausmalen, wie viel Geld in dieser Zeit in die Kassen einiger bäuerlicher Landbesitzer geflossen ist. Es handelt sich um die gleichen Bauern, welche jedes Jahr vom Staat mit 5 Milliarden subventioniert werden. Es handelt sich um die gleichen Bauern, welche der rechtsnationalen Schweiz. Volkspartei den ideologischen Schweizer Teil liefern. Es handelt sich weiter um die gleichen Bauern, welche im Moment eine Volksinitiative zur Ernährungssicherheit am Laufen haben, mit welcher sie vom Bund Maßnahmen gegen den Verlust von Kulturland fordern. Da müssten die Griechen in ganz Griechenland zuerst ein Universitätsstudium absolvieren, um auf diesen Grad an Verlogenheit zu kommen. Das nennt man dann wirklich Entwicklung und Zivilisation.

Aber sei’s drum. Thomas Piketty, welcher sich im letzten Teil seines Kapital-Schunkens nicht mit den Bauern, aber mit Banken, Nationalbanken, Datenaustausch und Kapitalbesteuerung herum schlägt, ist ja einer der bekanntesten Verfechter des internationalen Datenaustausches. Ich denke tatsächlich, dass diese Forderung einen tauglichen Gradmesser dafür darstellt, wie weit sich Europa institutionell aus dem Schlamassel retten kann, in welchem es sich gegenwärtig befindet. Daneben verweist Piketty erneut auf den Umstand, dass mit dem Euro zum ersten Mal eine Währung eingeführt wurde, hinter welcher kein einzelner Staat steht. Wie andere auch, regt Piketty die Einführung eines Parlamentes der Euro-Staaten an, um dieses Missverhältnis einigermaßen zu beheben, wobei er sicher weiß, dass so etwas strukturell die Europäische Union nicht besonders weit vorwärts bringen täte. Aber immerhin. Schließlich wissen alle, dass die Stabilitätskriterien von Maastricht, welche bei der Erfindung des Euros den Mangel an Nationalstaatlichkeit ausgleichen sollten, unterdessen für keinen einzigen Euro-Mitgliedsstaat mehr bedeuten als einen Vorschlag, eine Anregung, einen frommen Wunsch, den man hin und wieder sogar einhalten kann. Aber zusammen mit den strukturellen Schieflagen, vor allem mit dem Bilanzüberschuss Deutschlands, kommt man damit auf Dauer nicht weiter.

Piketty referiert daneben das Problem, dass die Kapitalrendite in der Regel höher ist als das Wirt­schafts­wachstum. Hier gehen meine Einwände tiefer, und zwar insofern, als Wirtschafts­wachstum schon längstens aufgehört hat, eine vernünftige Kategorie zu sein. Das, was wir als Wirtschafts­wachstum ausweisen, ist nichts weiter als ein Beleg für die mehr oder weniger zufällige Ausbreitung von Blind-Wohlstand auf bestimmte Sektoren und Segmente der Gesellschaft, völlig jenseits jeg­li­cher angeblicher wirtschaftlicher Logik. Unser Wachstum kann nicht mehr in vernünftigen Kate­go­rien bestimmt werden, sofern man die Kategorie Geld, Kapital und Bilanzen mal beiseite lassen darf. Der Konsum als wichtigstes ökonomisches Antriebselement könnte nur noch am unteren Ende der Sozietät befördert werden, also in den Bereichen von Hartz IV und Niedriglohn-Arbeit­neh­men­den. Das ist eine bittere Wahrheit für alle bürgerlichen Wachstumsfetischisten, so bitter, dass sie sich dauernd weigern, sie auch nur zu formulieren, und vor allem scheint eine Verarmungspolitik nach wie vor absolute Priorität zu haben, damit die Menschen sich in ihren Nationalstaaten nicht allzu wohl zu fühlen beginnen und am Schluss keinerlei Notwendigkeit von Landesgrenzen mehr sehen. Das wäre ja ganz verheerend. Also lassen wir den Wurschtsalat lieber so, wie er sich grad darbietet und zum Weiterwurschteln geradezu einlädt. Zu diesem Zweck beschäftigen wir ja auch unsere ideologischen Nebelwerfer wie den kürzlich erwähnten Superökonomen Hans-Werner Sinn.

Aber hier hinkt eben auch Piketty den Realitäten hinterher, obwohl er selber ganz exakt schreibt was folgt: «Die Ökonomen haben allzu lange ihre Identität über ihre wissenschaftlichen Methoden definiert. In Wahrheit beruhen diese Methoden vor allem auf einem übermäßigen Gebrauch mathematischer Modelle, die häufig nur als Vorwand dienen, um sich aufzuspielen und davon abzulenken, dass es um gar nichts geht. Es wurde und es wird noch immer zu viel Energie an bloße theoretische Spekulationen verschwendet, ohne dass die ökonomischen Tatsachen, die man zu erklären, oder die sozialen und politischen Probleme, die man zu lösen gedenkt, hinreichen genau definieren würde.» Piketty selber kann man sicher nicht den Vorwurf machen, mit mathematischen Modellen von irgendwelchen Fragestellungen abzulenken; sein Buch hat vor allem mit den empirischen Zahlenreihen zur Verteilung von Einkommen und Vermögen ein gewaltiges Gewicht. Aber die Definition der ökonomischen Tatsachen, welche zu erklären wären, die hat er sicher noch nicht abschließend vorgenommen. Die ökonomischen Tatsachen sind eben jene, welche angesichts des verschwindenden Warenwertes je länger desto mehr zu außerökonomischen Tatsachen werden. Auch die Verteilung von Einkommen und Vermögen, welche sowieso von Grund auf nicht auf ökonomische, sondern auf Machtverhältnisse zurückgehen, wird je länger desto mehr zum Ausdruck einer wachsenden großen Verwirrung auch auf diesem Gebiet.