"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Eine wunderbare Woche

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Was macht eigentlich Hayden Pannettiere? Kaum eine Frage interessiert uns in diesen Tagen weniger als diese, und trotzdem will ich kurz nachtragen, dass sie bereits ihre zweite postnatale Depression geschoben hat und den Verlobungsring von, ich weiß nicht einmal mehr ob von Vitali oder von Viktor Klitschko nicht mehr an den Fingern trägt, aber einen Schlagring trägt sie meines Wissens auch noch nicht am Fangarm.
Audio
11:12 min, 26 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 22.07.2016 / 16:52

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Wirtschaft/Soziales
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 19.07.2016
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Nein, wir wüssten natürlich lieber, was in der Türkei grad geschieht oder schon geschehen ist, das heißt, welches die Hintergründe für den voll ausgebauten und ganz missglückten Militärputsch waren. Ich benutze die Gelegenheit, um mal wieder darauf hinzuweisen, dass eine Militärherrschaft in gewissen historischen Situationen durchaus Vorteile bringen kann gegenüber einer vermeintlich demokratischen Regierungsform; ich würde zum Beispiel behaupten, dass für die Länder südlich der Sahara, welche sich in vollem Übergang befinden von steinzeitlichen zu modernen Gesell­schaf­ten, die einfachen Strukturen einer Militärregierung radikal besser am Platz wären als jene Farce von Demokratie, die da veranstaltet wird und mit welcher sich die Länder des entwickelten Nordens ausgezeichnet eingerichtet haben, weil sie für vergleichsweise wenig Schmiergeld an ver­gleichs­weise alle Rohstoffe heran kommen, die sie benötigen. Ich sage es ungern und nur pro forma, weil es ohnehin alle wissen, die es wissen wollen: In vielen unserer Güter des täglichen Gebrauchs steckt Blut aus afrikanischen Kriegen und Misere aus afrikanischer Unterentwicklung drin. Aber die Welt wäre nicht besser ohne Mobiltelefonie und so weiter, das muss man sich ebenfalls merken und keineswegs in etwelche Depressionen oder in eine formlose und umfassende Mitverantwortung für alle geschöpften Geschöpfe auf der ganzen Erde verfallen.

Eine Militärregierung kann also unter gewissen Umständen eine objektiv bessere Organisations­form für ein Land sein als eine vermeintlich demokratische Regierung, es kommt dann immer noch darauf an, um was für eine Sorte Offiziere und Generäle es sich handelt; vielleicht müsste man anstelle von Entwicklungshilfsprojekten, deren Kapital zu schönen Teilen in der Sippen- und Cliquenwirtschaft versandet, einfach Militärakademien finanzieren. Aber das müsste ich noch etwas genauer ausführen, dabei will ich nur sagen, dass ein Militärputsch unter gewissen geschichtlichen Umständen ein Fortschritt sein kann und unter anderen eben nicht. Für die Türkei habe ich bis jetzt keinerlei Anhaltspunkte für eine der beiden Richtungen. Hat es sich bei den Aufrührern um die letzten Ausläufer des ehemaligen Filzes zwischen Wirtschaft, Politik und Militär gehandelt, welcher die Geschicke des Landes vor Atatürk, oh, sorry, Erdogan bestimmt hat und den man den «tiefen Staat» nannte? Sind es Gülen-Gefolgsleute, welche sich ohne erkennbare Anzeichen im Untergrund organisiert haben? Oder handelt es sich ganz einfach um eine Fraktion der Armee, welche die aktuelle Politik für gefährlich hält, sowohl in Bezug auf die stillschweigende Unterstützung des Islamischen Staates beziehungsweise die offene Unterstützung des freien salafistischen syrischen Rebellen-Flickenteppichs als auch in Bezug auf den Krieg gegen die Kurden und schließlich in Bezug auf die Terrorabwehr im Kernland, vor allem in Istanbul? Was waren ihre Ziele? – Man weiß es nicht, und es ist auch nicht anzunehmen, dass man von Mufti Erdogan viel erfahren wird in dem Zusammenhang; vielleicht dringt über eine andere Quelle irgendwann mal etwas an die Öffentlich­keit, aber vorderhand rate ich zu vorsichtiger Rezeption solcher Deutungsvorschläge.

Jedenfalls hat sich mit dem Putsch, auch wenn er missglückt ist, eine zusätzliche Problemfront in der Türkei eröffnet neben den vorher erwähnten, und ich bin nicht Manns genug, all diese Probleme allein dem Erdogan anzulasten. Das Land befindet sich in einer extrem schwierigen Lage, wobei vor allem die Renaissance des Islam bei uns für größere Verwirrungen sorgt; und gerade die wird meines Erachtens in der Regel falsch verstanden. Ich möchte sie in keiner Art und Weise mit dem Islamismus gleichsetzen, obwohl der Islamismus mit ihr zusammenhängt, aber die Renaissance des Islam ist eine Kaprize des Weltgeistes, wenn man so will. Er hat in seiner unermesslichen Bekloppt­heit dafür gesorgt, dass der Islam bei der aufbegehrenden Jugend im weltweiten Positionsspiel die Stelle des Antiimperialismus eingenommen und Occupy Wall Street und die Empörten abgelöst hat. Die Zerstörung der Zwillingstürme war eben doch ein sehr mächtiges Symbol, das haben mindes­tens jene französischen Protestierenden begriffen, welche jetzt mit dem Slogan «Faisons-leur peur» durch die Straßen gezogen sind. Machen wir ihnen Angst, genau, da haben sie exakt getroffen, was dem radikalen Islam im Moment seine Erotik verleiht und möchten sich ein Stück davon abschneiden, und wir hoffen allenfalls noch, dass sie sich nicht darauf kaprizieren, die eigene Regierung in die Luft zu jagen – viel fehlt dazu offenbar nicht mehr.

Aber wenn der Islam von solchen Symbolen lebt, so stehen sie doch nicht als solche für eine moderne Islam-Ära. Die islamischen Staaten sind ebenso fixiert auf Wohlstand und Wirt­schafts­wachs­tum wie die westlichen, im Gegensatz eben zu den islamistischen Bewegungen. Der Erdogan in der Türkei ist seit einiger Zeit besonders religiös, nicht weil sich sein Glaube verstärkt hätte oder weil er einen geheimen Plan zur Islamisierung der Türkei hätte, sondern weil diese Gläubigkeit ausgezeichnet geeignet ist, um Politik damit zu machen. Über den Inhalt der Politik ist damit noch nichts gesagt. Die Türkei befindet sich auf jeden Fall seit dem Abzug der US-amerikanischen Truppen aus dem Irak und seit Beginn der Destabilisierungsversuche in Syrien in einer prominent schwierigen Lage. Ich selber würde mir andere Entwicklungen wünschen, nicht nur bezüglich der autokratischen Linie von Pascha Erdogan, sondern auch bezüglich der Kurdenfrage, bezüglich der Unterstützung der syrischen Rebellen und mancher anderer Dinge, aber bevor man die ganz schwere Argumenten-Artillerie in Stellung bringt, muss man die Umgebungsvariablen doch noch mal durchrechnen. Und gerade was den Militärputsch angeht, steht man hier vor einem neuen Rätsel.

Das andere prägende Ereignis der vergangenen Woche war zweifellos der Amoklauf vom 14. Juli in Nizza durch einen Kleinkriminellen, der angeblich spontan radikalisiert worden sei, vermutlich im Gefängnis. Frankreich stand unter Schock, aber doch nicht stark genug, als dass sich die rechten Nationalisten nicht entblödet hätten, mit dem Ereignis Stimmung zu machen und es der Regierung und dem Präsidenten sozusagen als persönliches Versagen in die Schuhe zu schieben. – Nun, dies, also ein explizit antifranzösisches und antirepublikanisches Verhalten kann bei diesen Möchtegern-Patrioten nicht erstaunen, und ekeln tut man sich vor dieser Bande auch nicht mehr als schon bisher. Dagegen löst sich in mir selber mehr oder weniger reflexartig die Bereitschaft in Luft auf, die Fran­zö­sinnen und Franzosen noch weiter für ihre bisherigen Fehler in der Immigrations- und Inte­gra­tions­politik zusammen zu scheißen. Irgendeinen kleinen Anteil am Scheitern dieser Bestrebungen werden ja auch die Vorstadt-Bewohnerinnen und -Bewohner haben. Und der französische Präsident wird mir immer sympathischer. Er hat von Anfang an versucht, den Gestus des großen Staats­man­nes zu vermeiden, er wollte einen normalen Staatspräsidenten geben, und wenn die Franzosen ihm deswegen ihre Liebe verweigern, dann tant pis, aber er ist nicht allein haftbar für sämtliche Fehl­ent­wicklungen der letzten zwanzig Jahre, wie dies im Moment unterstellt wird. Dass die vereinigte angebliche Linke ausgerechnet jetzt immer massivere Mittel gegen die Regierung propagiert, wo Islamisten und Rechtsnationalisten ihre Feuertänze aufführen, kann nur noch peinlich genannt werden, der Schlachtruf «Faisons-leur peur» zeugt von einem derart umfassenden Mangel an Verständnis der realen Verhältnisse bei gleichzeitiger Verherrlichung der Direkten Aktion, dass man sich relativ einfach ausmalen kann, was aus diesem Gemisch am Schluss wird: eine möglichst autoritäre Staatsform, welche schon jetzt die Sehnsucht nach François Hollande aufkommen lässt. – Und was den islamistischen Terror in Frankreich angeht, so kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass die meisten Akteure aus der Kleinkriminalität stammen, wo es offenbar gerade Mode ist, endlich mal unter Verweis auf ein höheres Ziel möglichst viele andere Menschen umbringen zu können, wenn man es schon nicht zum echten Gangster oder aber zum Wirtschafts­magnaten geschafft hat.

In den Vereinigten Staaten ist der Ruf «Faisons-leur peur» offenbar ebenfalls gehört worden. Ich muss zugeben, dass ich auf einer der mehreren tausend Zwiebelschichten meines Bewusstseins zunächst mal energisch zugestimmt habe, als ich davon gehört habe, dass die Schwarzen jetzt endlich auch mal zurückschießen auf die rassistische Polizei. In der Praxis waren dann aber justament nicht jene rassistischen Elemente das Ziel, welche die Schwarzen leichtfertig umbringen oder für die massenhafte Inhaftierung verantwortlich sind, sondern irgendwelche ganz normalen Cops. Am Sonntag wurden schon wieder ein paar Straßenpolizisten abgeknallt, und jetzt ist auch dem letzten Idioten, auch dem letzten Idioten in mir selber, klar geworden, dass es so nicht geht. Machen wir ihnen Angst – das ist keine Politik.

Was ist Politik in diesen Zeiten? Eine gute Frage. Die Gesellschaften im Norden ringen um ihre Fassung, nicht zuletzt deswegen, weil die PR-Abteilungen auf allen Ebenen, nicht nur, aber sehr gerne auch in der Politik sämtliche Themen bis zur Unkenntlichkeit zerredet haben. Im Zeitalter der Sozialdemokratie zeigen sich die miteinander um Einfluss ringenden Interessengruppen nicht mehr als klar konturierte Ringkämpfer, welche gegeneinander antreten. Stattdessen werden die Deals in unzählige Kleindeals aufgedröselt und ergeben dann in der Summe einen Gesamtdeal, der keine eigene Identität mehr hat; letztlich kann man diesem Gesamtdeal weder applaudieren noch ihn richtig bekämpfen, da er aus allen existierenden Tendenzen gleichzeitig besteht. Was dem Durchschnittsmenschen in der Politik übrig bleibt, das ist der Kampf gegen Popanzen, wie zum Beispiel gegen die Europäische Union, welche an allen möglichen Ecken und Enden zum Prügel­knaben erklärt wird, am liebsten dort, wo die eigene Interessenvertretung kaschiert werden soll.

Intelligenz ist gefragt, soviel steht fest, und zwar wie immer eine Intelligenz, welche nicht im Dienst einer Interessengruppe steht, sondern nur im Dienst der Wahrheit. Man kann davon ausgehen, dass diese Sorte von Intelligenz nicht in den Parteizentralen und auch nicht in den Bildungseinrichtungen der Parteien heran wächst, aber offensichtlich auch nicht in den vermeintlich systemkritischen Organisationen, welche im Hamsterrad ihres jeweiligen Ansatzes herum traben. Man muss davon ausgehen, dass an den Universitäten noch Restbestände von unabhängiger Intelligenz vorhanden sind und sich gegen das Aussterben wehren. Hier besteht Hoffnung. Und etwas weiter gefasst besteht Hoffnung dann im ganz normalen Leben, wo die Sterne ihre Bahnen ziehen wie eh und je und wo der Alltag mindestens in den entwickelten Gesellschaften durchaus nicht viel schlechter geworden ist im Vergleich zu früher.