"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Die Kirmes der autoritären Typen

ID 78372
 
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Was wäre die Welt ohne Rätsel? Platt, platterdings platt, und so können wir alle nur froh sein um Pascha Erdogan in seiner türkischen Türkei, denn die Gründe sowohl für den Militärputsch als auch für seine massive Reaktion darauf bleiben uns weitgehend verschlossen.
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11:09 min, 26 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 03.08.2016 / 12:57

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Internationales, Wirtschaft/Soziales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 03.08.2016
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass der Gülen-Priester seine Anhänger im Militär zu einem Aufstand anstachelt, der derart glorios in die Haupt- und Nebenhosen geht. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, dass die Gülen-Gefolgschaft überhaupt eine echte Bedrohung für den Pascha darstellte, wenn ich auch die Existenz einiger Netzwerke nicht bestreiten möchte, das gibt es ja auch bei uns, nicht nur Gülen-Netzwerke, sondern zum Beispiel liberale Netzwerke, CSU-Netzwerke, Erdgas-Netzwerke und so weiter, aber die stellen in der Regel keine Gefahr dar für den modernen Staat, beziehungsweise das zeichnet den modernen Staat und die moderne Gesellschaft ja geradezu aus, dass vollständig wesensfremde Bewegungen reibungslos aneinander vorbei kommen. Was also hat Pascha Erdogan da unter dem Titel «Gülen-Verschwörung» tatsächlich zerschlagen? – Ich habe keinen blassen Schimmer. Immerhin zeigte der Putschversuch, sofern es überhaupt ein richtiger war und nicht bloß ein von Pascha Erdogan angezettelter Vorwand für die Repression, zeigte dieser Versuch dann doch, dass sich nicht nur die Journalistinnen und Journalisten vom Möchtegern-Sultan unterdrückt fühlen, sondern weitere Teile der Gesellschaft, und insofern würde ich vermuten, dass Pascha Erdogan im Moment seine Stellung zwar autokratisch befestigt hat, aber gleichzeitig die Saat für seinen Untergang gelegt hat. Diese Repression führt nun direkt zur Konspiration, und da hinter den Konspiranten mächtige Interessen, vermutlich nicht nur aus der Wirtschaft, sondern eben erst recht aus der Armee stecken, wird die Lage für den Erdogan demnächst ziemlich ungemütlich.

Wobei, ungemütlich ist sie ja jetzt schon, und man kann sich trotzdem ein schönes Leben erlauben dabei und seiner Familie mal hier, mal da ein bisschen Geld und Privilegien zuhalten, das geht ganz gut. Trotzdem passt die autoritäre Linie nicht ins 21. Jahrhundert. Selbstverständlich bildet sie seit einigen Jahren eine unüberhörbare Komponente in der politischen Auseinandersetzung, die geis­ti­gen Erben des Faschismus orientieren sich dabei gerne an Russland, verkennen dabei allerdings glo­rios, dass Russland im Wesentlichen nichts lieber täte als diese autoritären Strukturen aufzu­ge­ben und durch moderne, liberale Lebensformen zu ersetzen. Bloß ist das nicht ganz einfach im Rahmen des neuen Kalten Krieges, der nicht erst seit der Annexion der Krim eine Realität ist. Ich bleibe bei meiner Behauptung, dass die USA den syrischen Ableger des arabischen Frühlings dazu benutzen wollten, um Russland endlich vom Mittelmeer zu vertreiben.

Selbstverständlich ist dies nicht die ganze Wahrheit zu Russland und Putin. Selbstverständlich laufen dort haarsträubende Sachen ab, Willkür, politische Morde, was das Herz begehrt. Trotzdem müssten Westeuropa und die Vereinigten Staaten zuerst einmal nachweisen, welche konkreten Unterstützungsleistungen sie für die russische Republik nach dem Zerfall der Sowjetunion erbracht haben, welche Instrumente sie aus dem Register der vertrauensbildenden Maßnahmen zum Einsatz gebracht haben, bevor sie über Russland lamentieren oder etwa gar die Demokratie in der Ukraine bejammern – dass dort reihenweise westlich und östlich orientierte Politikerinnen und Politiker versucht haben, sich eine goldene Nase zu verdienen, während sie an der Oberfläche den eben real existierenden Konflikt zwischen Ost und West anheizten, das dürfte unterdessen allen klar gewor­den sein. Und ebenso klar ist es, dass die Nato unterdessen wieder eine ständige Truppen­prä­senz in den Staaten des Warschauer Paktes hat, selbstverständlich aufgrund von dringenden Bitten und inständigem Flehen und dem geheimdienstlichen Nachweis, dass Russland über Massenver­nich­tungs­waffen verfügt, was laut und deutlich gegen die Bedingungen verstößt, unter welchen dieser Warschauer Pakt und die Sowjetunion überhaupt aufgelöst wurden.

Man hat manchmal wirklich den Eindruck, die Jungs hätten vergessen, vor welchem Hintergrund sich das Gurgeln der Nato-Generäle abspielt. Es ging anfangs der 1990-er Jahre darum, dass die mehr oder weniger komplett wegfallenden inneren Strukturen der Sowjetunion durch neue Struk­turen abgelöst werden mussten. Dementsprechend scheußlich fiel das Ergebnis aus mit der Ent­ste­hung einer kleinen Gruppe mafiöser Superreicher, zu denen übrigens auch der Held Chodorkowski zählt, neben ziemlich desolaten Verhältnissen auf den meisten übrigen Ebenen. Der Putsch der rückwärts gerichteten Kräfte ist auch nicht mehr in Erinnerung, ebenso die Tatsache, dass Russland während ein paar Jahren von einer Wodkaflasche regiert wurde. Seit fünfzehn Jahren herrscht wieder ein Ansatz von Ordnung, was leider Gottes auch heute noch ein Fortschritt genannt werden muss. Wem es darum geht, diese Ordnung in eine moderne Form weiter zu entwickeln, der wird davon absehen müssen, Russland auf den Zehen herumzutreten. Der Weg kann nur wirtschaftliche Zusammenarbeit heißen – auf dieser Ebene kann man heute auch Forderungen stellen nach Ver­trags­sicherheit, welche von Russland noch vor zehn Jahren durchaus nicht garantiert wurde. Hier muss man anknüpfen, und auf dieser Grundlage können sich dann auch Investitionen entwickeln, welche wiederum die Grundlage werden für den gegenseitigen Austausch.

Alles andere ist Blödsinn.

Davon gibt es ja genug; Putin drängt sich in dem Zusammenhang für alle Mehrzeller im Medien­ge­schäft geradezu auf. Unter anderem bezichtigt man ihn der angeblichen Unterstützung von Donald Trump im US-amerikanischen Wahlkampf. Zwar ist es offenbar eine Tatsache, dass Trump nach einer seiner verschiedenen Pleiten vor ein paar Jahren keine Kredite mehr von amerikanischen Banken und Financiers erhielt, sodass er sich an russische Oligarchen wenden musste, was ihm dann seine Wiedergeburt als Donald erlaubte. Aber Putin weiß wohl besser als alle anderen, dass ein derart unberechenbarer Trottel als US-Präsident die tausend Mal größere Gefahr für Russland darstellen täte als Frau Clinton. Ganz abgesehen davon, dass sich die beiden Großmächte offenbar in der Zwischenzeit mindestens bezüglich des Syrien-Konfliktes geeinigt haben, was nicht nur zu einer, hoffentlich baldigen kompletten Niederlage des Islamischen Staates führen wird, sondern auch zu einer Entspannung zwischen Ost und West in Europa. Wir haben schließlich andere, wichtigere Probleme als die Verteilung von Pfründen unter der korrupten Herrscherklasse in der Ukraine.

Ich meine mit den wichtigen Problemen übrigens nicht den Terrorismus, auch wenn der selbst­ver­ständ­lich das öffentliche Bewusstsein besetzt wie kein anderes Thema. Im gegenwärtigen Drunter und Drüber gehen alle Diskussionen unter, die uns eigentlich beschäftigen sollten. Zum Beispiel bezüglich des Finanzsystems. Letzte Woche wurden die halbwegs ordentlichen Ergebnisse des Stresstests für die europäischen Banken veröffentlicht. Aber was heißt das schon, halbwegs ordent­lich; im Norden hat man die Finanzinstitute offenbar von ihren übelsten faulen Papieren befreit, während die italienischen Häuser jetzt erst recht daran zu beißen haben, aber die haben vermutlich auch keine faulen griechischen Staatspapiere in ihren Beständen, sondern ganz normale faule italie­nische Kredite, und das scheint im Moment den gesamten italienischen Kapitalfluss zu lähmen. Rei­chen denn die Anleihenkäufe der Europäischen Zentralbank nicht bis nach Italien? Das ist seltsam, zumal Mario Draghi ja aus diesem Land stammt und seine Beziehungen zur italie­nischen Politik intakt sind. Vor allem aber: Was geschieht, wenn sich die enorme Liquidität, welche die Europä­ische Zentralbank geschaffen hat, dereinst einmal in die Märkte ergießt? Bleibt dann noch ein Stein auf dem anderen stehen? Oder aber umgekehrt gefragt: Wenn es eine Garantie dafür gibt, dass diese Unmengen an Liquidität keinen Schaden anrichten für den Geld- und Kapitalverkehr in Europa und auf der ganzen Welt, weshalb hält sich dann noch irgendein Zentralbankier an irgendwelche Spiel­regeln? Dann sind ja offenbar die Geldschöpfungs­mög­lich­keiten komplett unbeschränkt. Und das würde dann wiederum die gesamte Wirtschaftstheorie auf den Kopf stellen, sodass die Wirtschafts­praxis dann auf dem Fuße folgen könnte. In dem Falle würde ich mich gerne um eine Stelle als Finanzwirtschaftsexperte an irgendeiner beliebigen Universität bewerben unter der Bedingung, dass ich in den Experten-Beirat aller wichtigen Regierungen der Welt aufgenommen werde.

Oder eine Stufe tiefer: Kann mir jemand sagen, wann man endlich die verschiedenen Steuer- und Abgaben- und Sozialversicherungssysteme in Europa einander angleichen wird? – Letzthin habe ich wieder mal versucht, irgendeinen Wert aus dem deutschen Steuersystem zu ermitteln, und es ist mir bisher noch nicht geglückt, obwohl euer Steuersystem vielleicht als solches nicht übermäßig kompliziert ist, auf jeden Fall wohl kaum komplizierter als das französische. Aber was um alle Welt hindert die Staaten der Europäischen Union daran, sich endlich mal auf ein einziges, einheitliches Steuersystem zu einigen, und zwar natürlich nicht auf irgendeines, sondern schlicht und einfach auf das beste? – Und welches das Beste ist, das ist ja klar: Jenes, welches mit dem kleinsten Aufwand die besten gewünschten Ergebnisse erzielt.

Aber solche Themen sind gerade mit dem nervösen Herumgezicke nach dem Beschluss der briti­schen Bevölkerung, aus der EU auszutreten, absolut un-aktuell, obwohl gerade sie es wären, welche in der Substanz begründen täten, weshalb man sich der Europäischen Union anschließen sollte. Wir machen in Zukunft nicht mehr das historisch Gewachsene, sondern das Richtige – das wäre mal ein Ansatz, den man doch auch ein paar Teilen der Bevölkerung verkaufen könnte. Das wäre überhaupt ein Ansatz, zur Abwechslung mal auf die Intelligenz der Bevölkerung zu setzen anstatt auf ihre Dumm­heit. Ich weiß schon, es ist ein Axiom, also eine nicht beweisbare Tatsache, dass die Bevöl­ke­rung überhaupt Intelligenz besitzt. Aber es gibt immer wieder Ereignisse und Erscheinungen, welche auf zum Teil massive Vorkommen solcher Intelligenz verweisen.

Aber lassen wir das. Zum Schluss nur noch dies: Also habe ich diesen Film Toni Erdmann pflicht­gemäß angeschaut, und ich finde den überhaupt nicht schlecht, mit Ausnahme jener Szenen, welche nicht in Rumänien spielen. Da herrscht nach wie vor dieser kleinbürgerliche Mief, den auch ein Satz falsche Zähne nicht besser macht, beziehungsweise: Leidergottes entstammt ein schöner Teil des Witzes von Toni Erdmann aus solchen kleinbürgerlich vermieften Beständen, und vor deutscher Kulisse wird da überhaupt nichts draus. Erst die Kollision mit der rumänischen Film-Realität, welche ganz im Gegensatz zur deutschen Film-Realität mit der realen rumänischen Realität wohl nicht allzu viel zu tun hat, kommt ein richtig komisches Element zum Tragen. Daneben oder rund herum hätte ich am liebsten ein wenig geweint, und zwar grad schon bei der allerersten Einstellung, als der Postmann ein paar Mal klingelt, was an und für sich noch keine Schande ist für den Film, aber dass die Kamera, die auf diesen Postmann gerichtet ist, auch derart unmissverständlich wackeln muss, ohne dass irgendeine filmische Notwendigkeit dafür vorliegt, das provozierte bei mir einen ersten und ziemlich tiefen und mehrere Minuten nachhallenden Seufzer.

Kommentare
15.08.2016 / 20:20 Türkische Redaktion Münih FM,
Ausschnitt übernommen
Besten Dank, wir haben den ersten Teil des Kommentars, soweit er Erdogan betrifft, am 8.08.2016 in unser Programm übernommen.