"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Georg Cremer

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Letzte Woche hatte irgendeine Gratiszeitung in der neutralen Schweiz einen besonderen Aufmacher außerhalb der, wie immer ausgezeichneten journalistischen Leistung, nämlich ein Gimmick. Sie verschenkte ein paar zehntausend Virtual-Reality-Brillen, und wenn ich das richtig verstanden habe, dann kann man mit diesen Sehhilfen die Welt rund um einen herum wahrnehmen wie in 3-D oder eben: wie virtuell.
Audio
11:06 min, 24 MB, mp3
mp3, 305 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 27.09.2016 / 09:29

Dateizugriffe: 2207

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Kultur, Umwelt, Arbeitswelt, SeniorInnen, Wirtschaft/Soziales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 27.09.2016
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Ich muss zugeben, dass ich es versäumt, wo nicht bewusst unterlassen habe, mich genauer zu erkundigen, weil ich komplett bedient war allein mit der Vorstellung, eine Virtual-Reality-Brille zu tragen, mit der ich meine Umwelt wie in echt sehen kann. Auf die gleiche Art und Weise könnte man versuchen, mir eine Virtual-Reality-Membran zu verkaufen, welche es mir erlaubt, in einen echten Apfel zu beißen, als würde ich in einen echten Apfel beißen. Ihr merkt, dass ich allein bei der Konstruktion dieses Beispieles äußerste Vorsicht habe walten lassen, denn ich esse keine Äpfel, und ich beeile mich zu beteuern, dass ich dies nicht etwa aus Prinzip tue bezie­hungs­weise nicht tue, denn ohne diese Beteuerung könnte mir ja die Vereinigung Apfel produzierender Äpfelproduzenten am Schluss noch einen Prozess anzuhängen versuchen. Dies ist im Moment der Fall bei VW, wie Ihr vermutlich mitgehört habt – jaja, mitgehört, Ihr hört schon richtig, es ist in der Tat nicht nur der Geheimdienst, welche andere Leute und Institutionen ausspioniert, es ist auch der Gemeindienst, das gemeine Volk, welche dieses mit der Hilfe von Lügenpresse und anderen sozia­len Medien tut –; bei VW also liegt die Sache jetzt so, dass eine Reihe von Klagen, wo nicht über­haupt eine Reihe von Sammelklagen eingereicht wurden, weil VW wegen der Luft­ver­schmut­zungs-Software die Gewinnziele nicht erreicht hat, und das ist nun offenbar auch in Europa ein­klag­bar, nachdem die US-Rechtssprechung solche Späße seit längerer Zeit als festen Bestandteil der Marktwirtschaft etabliert hat. VW soll mit anderen Worten als Buß- und Strafgeld bezahlen, was das Unternehmen betrieblich nicht erwirtschaftet hat. Da har ick mir schon ein büsken je­wun­dert, als ich das gelesen habe, das heißt gewundert darüber, dass es irgend einem Armen­ad­vo­katen überhaupt in den Sinn kommt, im Namen seiner Klientel überhaupt solche Klagen ein­zu­rei­chen, aber vielleicht hat die Klientel bloß mit dem Lockenkopf genickt, als der Advokat vor­ge­schla­gen hat, diesen Versuchsballong mal in Richtung des Juristenhimmels aufsteigen zu lassen. Wie Ihr wisst, bin ich einer von jener Sorte, welche eine Revolution nicht zu allen Zeiten und unter allen Umständen für eine schlechte Sache hält, und falls die US-amerikanische Rechts­sprechung sich auf diesem uralten Kontinent Europa mit seinen ausgefransten Küstenlinien verbreiten oder wenn sie nur schon Einzug darauf halten sollte, dann würde ich gerne zu einer Rechts-Revolution raten, nur damit Ihr Euch vielleicht geistig heute schon darauf vorbereitet. Ich meinerseits vermeide eine Sam­mel­klage der Apfelpflückerinnenindustrie, indem ich für alle Sorten sage, also inklusive die wirk­lich wert- und geschmacklosen, dass ich keine Äpfel nicht wegen der Äpfel selber esse, sondern weil ich immer den Eindruck habe, dass die Äpfel und ihre Schale in meinem Mund beim Drauf­beißen einen elektrischen Strom zum Fließen bringen, ganz vergleichbar jenem Gefühl, das ich früher jeweils hatte, wenn ich in den Ferien die Verwandten und Bekannten meiner Eltern ihren seltsamen Dialekt sprechen hörte in einem Nieseln und Näseln, was sich ebenfalls anhörte, als würde man auf Alufolie herumkauen – ein absolut unangenehmes Gefühl, da kann ich ja gleich die Finger in die Steckdose halten.

Ihr bemerkt, dass ich schon wieder gesagt habe, dass ich den Eindruck hätte, es würde ein Strom fließen, also nicht, dass tatsächlich ein Strom fließe, denn wegen letzterer Aussage könnte mich die Äpfelindustrie doch noch am Schlawittchen kriegen, während ich so jetzt fein raus bin und den Regeln der internationalen Diplomatie komplett Genüge getan habe.

Wollte ich also sagen, dass ich noch für dieses verstandesverachtende Beispiel einer hypothetischen Membran, welche mir die real existierende Welt, Umwelt und überhaupt Realität als eine virtuell erfahrbare real existierende Welt vermitteln sollte, ein Beispiel gewählt habe, mit dem ich unter keinen Umständen Ernst machen würde, ganz anders als zum Beispiel mit einer Wurst. Dieses Membranbeispiel möchte ich nun um keinen Preis auf irgendeine Wurst anwenden, da graust es mir ja schon bei der Vorstellung. Die Vorstellung einer eine Vorstellung erzeugenden Membran zwischen mir und der Umwelt, darüber sollte man nicht einmal mehr sprechen, aber genau so etwas haben diese Gratiszeitungen beziehungsweise konkret der «Blick am Abend» mit ihrer virtuellen Brille vorgenommen. Glaube ich.

Etwas früher, nämlich am 7. September 2016, erschien in der Zeitung «Le Monde» ein Artikel von Thomas Piketty, welcher nicht von der Verteilung von Vermögen und Einkommen handelte, son­dern von der «schulischen Segregation», der Rassen- und Klassentrennung im französischen Bil­dungs­bereich. Piketty und seine Mitarbeiterinnen haben ganz einfach eine statistische Korre­la­tion zwischen Haushalteinkommen und Gymnasiumsbesuch erstellt. Die Ergebnisse sind keines­wegs erschreckend, sondern bestätigen das, was man bereits gewusst hat: In den Gymnasien ist der Anteil von Kindern aus nicht privilegierten Schichten beziehungsweise aus den unteren Klassen sehr klein, und dazu gesellt sich, dass Kinder aus den mittleren und oberen Gesellschaftsklassen zunehmend in Privatschulen entsandt werden, zu welchen die unteren sowieso keinen Zugang haben, weil sie die Schulgelder nicht bezahlen können. Dabei versteht sich von selber, dass alle Regierungen und insbesondere die sozialdemokratische Staats- und Stadtregierung immer wieder versprechen und möglicherweise sogar Ansätze dazu unternehmen, diese Segregation zu bekämpfen, aber einen richtigen zielorientierten Ansatz dazu hat man bisher noch nicht beobachtet. Insgesamt, wie gesagt, keine wirkliche Neuigkeit, aber es schadet sicher nicht, wenn ein aufrechter empirischer Ökonom wie Thomas Piketty solche Verhältnisse auch mal mit statistischen Daten belegt.

Man kämpft ja immer ein bisschen mit sich selber, wenn man über Frankreich spricht und nach­denkt: Geht das denen jetzt tatsächlich so schlecht? Ist das die volle Wahrheit mit den Stadt­quar­tieren, wo der Wahabismus tatsächlich die effektive Staatsgewalt übernommen hat? Stimmt das mit der Katastrophe der französischen Kleinbetriebe in der Landwirtschaft? Hat es seine Richtigkeit mit den Berichten über die absurde Macht der Gewerkschaften, welche nur um ihre eigenen Privilegien, also um jene der Kader ebenso wie um jene ihrer Mitglieder kämpfen und sich um den Rest von Wirtschaft und Gesellschaft einen feuchten Furz kümmern? – Und in der Regel muss man sich dann eingestehen, dass in diesen kritischen Bildern doch sehr viele Elmente fehlen. Dann geht man halt wieder mal ins Kino und schaut sich zum Beispiel ein Stück an wie «Médecin de campagne», zu Deutsch «Der Landarzt», welchem in verdienstvoller Weise François Cluzet, der mit dem Film «Les intouchables» in den Olymp der französischen und überhaupt globalen Schauspielkunst Einzug gehalten hat und damit dem Film an der Seite der ebenfalls überzeugenden Marianne Denicourt einen PR-Anschub verleiht, welchen eine andere Besetzung wohl kaum gebracht hätte. In diesem Film ist einerseits einmal die Hauptfigur, nämlich eben der Landarzt, selber krank, was auch der Titel eines eigenen Films sein könnte und vielleicht oder angesichts der Unmengen an gedrehten Filmen wohl auch schon war: «Der Arzt ist krank!» – Aber darum geht es im Grunde genommen nicht, sondern es geht um die Realität, um die Menagerie an Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohnern, welche da in irgendeiner ländlichen Umgebung in der Nähe einer kleineren Stadt in das Wartezimmer des Arztes drängen. «Le Médecin de campagne» zeigt, wie hier die wirklichen Helden der modernen Heilkunst wirken, abseits des Rummels um Starchirurgen und um die Fortschritte der modernen Medizin, wenn sie auch selber von Berufes wegen mit all den Wassern dieses Fortschrittes gewaschen sein müssen und ihre Patienten und am Schluss eben auch sich selber halt mal unter den Krebsbestrahlungsapparat legen müssen. Aber die wirklichen Heldentaten ereignen sich rund um die eigentliche medizinische Behandlung selber, indem die Ärztinnen beziehungsweise hier eben das Duo Landarzt und seine Stellvertreterin die Patientinnen mit all ihren Eigenheiten erfassen, einschließlich der finanziellen und familiären Situation, und erst unter Berücksichtigung der außermedizinischen Krankenakten zum richtigen Behandlungsergebnis kommen. Natürlich immer, soweit es in ihrer Macht steht. Dieser Lobgesang auf die Helden des Alltags außerhalb der Zentren hat mir sehr gut gefallen, obwohl man den Film nicht etwa besonders spannend oder gar künstlerisch anspruchsvoll nennen möchte. Aber er gibt gerade in der vorher erwähnten Angelegenheit der Frankreichkritik ein gewisses Maß an Zuversicht, so wie andere Aspekte auch, über welche ich mich hier von Zeit zu Zeit ebenfalls auslasse, mit Vorliebe über die republikanische Konzeption von Demokratie, in welcher Frankreich nach wie vor unerreicht dasteht.

Daneben habe ich eine Ankündigung zu machen, von welcher ich nicht weiß, ob ich sie einhalten kann. Am letzten Donnerstag las ich auf Spiegel online, dass ein Viertel aller Einwohnerinnen Bremens als arm gälten, gefolgt von Berlin und Mecklenburg-Vorpommern. Ich runzelte vorsichts­halber meine Stirn, denn hier ist wieder jene Definition aktiv, welche Menschen als armutgefährdet einstuft, wenn sie weniger als 60 Prozent des Median-Einkommens zur Verfügung haben. Gemäß solchen Definitionen kann die Armut schon rein begrifflich niemals besiegt werden, wie ich an dieser Stelle auch schon gesagt habe, denn damit wären die Menschen auch dann noch arm, wenn das Median-Einkommen fünfhunderttausend Euro betrüge, also bei einem Einkommen von weniger als 300 000 Euro. Nun weiß ich natürlich, dass die Armutsbetroffenen in Bremen nicht über 300 000 Euro verfügen; die Armutsschwelle lag vor zwei Jahren für eine Einzelperson bei 917 Euro netto, also knapp unter jenem Betrag, welche die meisten Befürworterinnen eines bedingungs­losen Grundeinkommens als Höhe ebendieses Grundeinkommens fordern und damit justament der Armut den Garaus machen wollen.

Aber darum geht es mir gar nicht, sondern um ein Interview, das ich in der gedruckten Ausgabe des Spiegels vom 17. September gelesen habe. Es äußerte sich Georg Cremer, der Generalsekretär des Caritasverbandes, welcher laut der Überschrift dieses Interviews fordert: «Stoppt den Nieder­gangs­diskurs!» Der Herr spricht mir nicht aus der Seele, sondern aus dem Kopfe, und aus diesem Grund möchte ich die Argumente etwas ausführlicher darstellen. Mir scheint, Georg Cremer sei in seiner Funktion mehr als genug legitimiert, um den anhaltenden und mit der Zeit leierhaften und lang­wie­li­gen Diskurs eben genau über die Armut und solche Sachen von Grund auf in Frage zu stellen und mit der Kritik an zentralen Elementen dieses Diskurses verschiedene Fenster und Türen auf­zu­stoßen für neue Überlegungen, welche sich mit den Möglichkeiten beschäftigen, welche aus dem allgemeinen Reichtum eben für alle erwachsen – auch, und vielleicht sogar vor allem für die Unterprivilegierten in den modernen Gesellschaften.