Social Phantasies-Roman "Der Zensor"

ID 792
 
Interview mit Marcus Hammerschmitt aus Tübingen über seinen neuen Roman "Der Zensor" (Argument Verlag, Reihe Social Phantasies, erschienen November 2001) 12 Euro. Politische Science Fiction, sehr empfehlenswert.
Das Interview beschäftigt sich mit dem Thema des Buchs (im 22.Jahrhundert erobern die Nachfahren der Maya Spanien), mit dem Autor als politischem Science-Fiction-Autor sowie der Entstehung der Geschichte und dessen politischem Kontext.

Abschrift des Interviews auf Anfrage bei andreasbymail@gmx.net
Audio
14:56 min, 14 MB, mp3
mp3, 128 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 22.02.2002 / 00:00

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Klassifizierung

Beitragsart: Interview
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Internationales, Kultur, Politik/Info
Serie: Lauschangriff
Entstehung

AutorInnen: Andreas, Red. Lauschangriff
Radio: WW-TÜ, Tübingen im www
Produktionsdatum: 21.02.2002
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript

Interview mit Marcus Hammerschmitt über seinen Roman "Der Zensor"
5.2.02. Abschrift des gesendeten Beitrags vom 14.2.02
Autor: Andreas Linder

Moderation
In der Mitte des 22.Jahrhunderts werden die Nachfahren der Maya nicht nur Lateinamerika beherrschen, sondern sie werden auch Spanien erobern und ihren Herrschaftsbereich auf das restliche Europa ausdehnen. Wer diese Vorstellung als geschichtlich undenkbar oder gar als aberwitzig empfindet, braucht die nächsten 15 Minuten nicht zuzuhören. Wer aber in der eigenen Phantasie real werden lassen möchte, daß die Maya im nächsten Jahrhundert wirtschaftlich, militärisch und technologisch an die Weltspitze gekommen sein werden und in einer Art Reconquista die Geschichte auf den Kopf stellen, dem oder der sei die Lektüre des neuen Romans von Marcus Hammerschmitt empfohlen. "Der Zensor" heißt dieses im November letzten Jahres erschienene neueste Werk des Tübinger Science Fiction-Autors. Das Buch ist in der Reihe Social Phantasies im Argument Verlag erschienen. In der nächsten viertel Stunde könnt ihr ein Interview mit Marcus Hammerschmitt über seinen neuen Roman hören. Ich habe ihn zum seinem speziellen Interesse für das Thema des Buches befragt, über seine Rolle als politischer Science-Fiction-Autor und über die Entstehung der Geschichte. Über die Handlung selbst werdet ihr nur am Rande was erfahren. Das soll auch nicht vorweggenommen werden.
"Der Zensor", ein spannender, literarisch versierter und politisch gehaltvoller Roman. Hier das Interview mit dem Autor:

Frage (Andreas Linder)
Was hat dich zum Thema dieser Geschichte motiviert? Ist es die Faszination für die Maya-Kultur oder ist es das Auf-den-Kopf-Stellen einer 500-Jährigen Unterdrückungsgeschichte der südlichen Welt durch die europäischen Kolonialmächte?

Antwort (Marcus Hammerschmitt)
Es ist beides. Ich war für diese indianischen Kulturen schon früher fasziniert, bin dann auf die Schrift der Maya gestoßen und das hat mich restlos begeistert, weil diese Schrift eine unglaubliche Kulturtechnik darstellt. Natürlich war ich in verschiedenen Zusammenhängen informiert über die Geschichte der indigenen Urbevölkerung in Südamerika seit der Conquista und das hat sich doch amalgamiert zu einem Wunsch, das Ganze mal erzählerisch zu packen und das in einem Science-Fiction-Rahmen zu tun, war für mich eine doppelte Herausforderung.

Jedes Kapitel in der Geschichte fängt mit einem Datum aus dem Maya-Zeitrechnung an. Dieser Maya-Kalender erschließt sich für Menschen, die diese Kultur nicht kennen, schwer. Kannst du den Kalender mal erklären?

Mach ich gerne und zwar anhand des ersten Datums, der ersten Kapitelüberschrift im Roman. Der 12.Juni 2136 wäre in Mayaumschrift das Datum 13 6 5 4 17 4 Kaban 0 Schul Nachtgott 7. Das Datum besteht aus drei Komponenten. Erstens dieser Ziffernblock am Anfang, der die tagtägliche durchgängige Zählung seit einem bestimmten Ausgangsdatum vor etwa 6000 Jahren darstellt. Der zweite Block "4 Kaban = Schul" ist die sogenannte Zollkin-Zählung, die man sich vorstellen kann wie zwei Zahnräder, die ineinander greifen und jeden Tag durch eine bestimmte Zahnlücke-Kombination darstellen. Nachtgott 7 bezeichnet die dritte Hauptkomponente im Maya-Datum, wo jedem einzelnen Tag ein bestimmter von acht verschiedenen Nachtgöttern zugeordnet wurde. Allein das Herausfinden dieser Kalenderstruktur hat einige sehr entschlossene Wissenschaftler Jahrzehnte gekostet.

Die Geschichte beschreibt ja eine nach der Eroberung Europas durch die Maya hochtechnologisierte und militarisierte Kultur. Was ist eigentlich die Nanotechnologie, von der die Maya-Gesellschaft geprägt ist?

Heutzutage haben wir sehr gute, sehr routinierte Möglichkeiten, Technologien auszuführen, die bis hinab in den Mikrometer-, also Tausendstelmillimeterbereich gehen. Computertechnologie und CDs sind gute Beispiele dafür. Wir stehen an der Schwelle zu einem, wird man doch sagen können, neuen Zeitalter, in dem die Manipulation von Materialien im Nanometerbereich, also einem Millionstel Millimeter, möglich wäre, und da dringen wir dann in den Bereich vor von der Größe von Atomen. Da ist ein sehr faszinierendes Forschungsfeld und technologisches Betätigungsfeld. Die Möglichkeiten, die dadurch gegeben wären, also zum Beispiel in der Materialforschung, in der Medizin, in vielen verschiedenen Bereichen, sind gleichermaßen erschreckend wie faszinierend. Noch bedeutender wird werden das Zusammenwachsen von Nanotechnologie, Biotechnologie und Computertechnologie. Was da möglich werden kann, ist kaum mehr durch die Phantasien der Science Fiction mehr zu begreifen.

Ist die Geschichte auch als Polit-Horror zu verstehen, der vor Augen führen soll, welche gesellschaftlichen Auswirkungen die Weiterentwicklung von Bio- und Waffentechnologie auf die Gesellschaften im nächsten Jahrhundert haben werden, während die sozialen Fähigkeiten der Menschen wie auch im Buch zu spüren im Vergleich zum Heute stagnieren?

Noch stärker gefaßt: Es gibt ja den schönen Ausspruch von Walter Benjamin, der sagte: ‚Unsere Gesellschaft bezahlt jeden technologischen Fortschritt mit einem sozialen Rückschritt'. Die Maya-Gesellschaft, die ich portraitiere in "Der Zensor" exemplifiziert das ja in einem extremen Ausmaß. Wir haben hier eine Gesellschaft, die im Grunde technologische Fähigkeiten hat, die von Magie kaum mehr zu unterscheiden sind, so fortgeschritten sind sie. Die soziale Organisation ist eine barbarische Theokratie, die an der Spitze einen einzigen Herrscher kennt und alle anderen haben dem zu folgen. Das ist eine Art Gottkönig, der unbefragt in seiner Macht herrscht und regiert und alle anderen sind im Grunde Menschenmaterial zur Ausführung seiner angeblich heiligen und hochethischen und moralischen Ziele. Und dieses extreme Auseinanderklaffen von technologischer Hypermodernität und sozialer Barbarei ist das gesellschaftliche Thema des Romans. Das wird übrigens auch durch das Titelbild klar gemacht, wo eine Original-Maya-Maske mit Schläuchen versehen ist wie in der Apparatur, wie sie im Roman dann vorgestellt wird, die bestimmte Manipulationen an menschlichen Gehirnen vornehmen kann. Das ist eine Original-Maya-Maske auf dem Bild und gleichzeitig diese Apparatur drum herum, das Ineinander von Modernität und Rückschrittlichkeit ist der Kernpunkt dieser gesellschaftlichen Fiktion.

Welche Bedeutung hat eigentlich für die Geschichte, daß die Hauptfigur der Geschichte, der Zensor, der Yaqui, eine Art Antiheld ist?

Mehr und mehr sehe ich mich herausgefordert von der Aufgabe, das Denken und Fühlen von Menschen darzustellen, die mir persönlich eigentlich nicht nahestehen, die nicht nach meinem Geschmack sind. Das sehe ich als eine Herausforderung an meine Fähigkeiten als Schriftsteller, jemanden plastisch darzustellen. Und von daher ist natürlich jemand wie dieser Mayafürst selber eine ideale Figur, denn er ist mir vollkommen unsympathisch. Er ist ein Machtmensch. Er ist jemand, der grausame Strafen verhängt. Er ist ein Überwachungsspezialist, ein Geheimdienstler par excellence. Und trotzdem ist er ja einer, und das ist das Interessante an ihm, der an irgendeinem Punkt feststellt: So geht das nicht weiter. Ich kann in dieser Kultur, in der ich aufgewachsen bin, in der ich lebe und für die ich kämpfe und für die ich anderen Menschen massiven Schaden zufüge, kann ich nicht weiterleben. Und als solche gebrochene Gestalt kann er ja eigentlich dem zweiten Helden der Geschichte, Enrique, die Hand reichen. Wäre er eins zu eins identisch oder einverstanden mit seiner Kultur, würde er niemals mit dem Guerillaführer, dem er begegnet, auch nur ein Wort wechseln. Er würde ihn vernichten wollen. Aber so kann er zu einem Anker werden für Enrique und Enrique kann für Yaqui ein Anker werden in der Welt außerhalb dieser Maya-Stadtstaaten. Und das ist genau die Funktion von Yaqui, zu zeigen, wie er als gebrochener aus dieser Gesellschaft herausfällt und nachzudenken beginnt und Möglichkeiten schafft für Kontakt zu anderen, nach draußen.

Mir ist im "Zensor" vor allem der Spannungsbogen gefallen und aufgefallen ist mir auch die Leichtigkeit der Sprache. Hast du das als absichtliches Stilmittel eingesetzt, um auch ein breiteres Publikum erreichen zu können?

Ja, weil ich von meinem Lektor und meinem Verleger nachdrücklich gebeten worden bin, meine überlangen Sätze doch in Einzelteile zu zerlegen, darauf zu achten, wie Spannung in einer Geschichte erzeugt wird, das Ganze zu bündeln und zu straffen, nicht zu viele Nebenkriegsschauplätze aufzumachen, um den ganzen Stoff leichter lesbar und spannender und unterhaltsamer zu machen. Wir haben viel daran gearbeitet und ich bin eigentlich froh, festzustellen, daß viele LeserInnen mir rückmelden: ‚Ja genau, dein Roman ist flüssiger und leichter zu lesen als die vorherigen Sachen.' Obwohl eine hochkomplexe Situation, ein hochkomplexes Szenario und glaubhafte Charaktere hier dargestellt werden, also eine Verbesserung der Struktur der Erzählung ohne Verlust an Substanz. Und das freut mich schon, daß diese Arbeit sich ausgezahlt hat, denn die war anstrengend.

Das Genre, in dem das Buch im Argument Verlag erschienen ist, nennt sich dort Social Phantasies. Was ist eigentlich der Unterschied zwischen Science Fiction und Social Phantasies?

Wenn man jetzt beckmesserisch sein wollte, könnte man sagen, daß alle Science Fiction, die einen Wert für sich reklamieren kann, social phantasy ist. Denn: Wie soll man denn über die Zukunft spekulieren, über Gesellschaftsformen insgesamt oder über alternative Gesellschaftsmodelle spakulieren ohne politisch zu sein? Das geht ja gar nicht. Ich vermute, daß der Verlag mit dieser Bezeichnung einfach darauf hinaus will und das Profil in dieser Richtung stärken will, im Unterschied zu den reinen Abenteuergeschichten, den großen Fortsetzungszyklen, die das Feld in der Science Fiction, bedauerlicherweise, wie ich meine, bestimmen. Der Verlag will einfach sagen: Wir haben hier ein Angebot zu machen für Menschen, die über Weltraumschlachten und über Roboterkriege hinaus sich noch über andere Dinge Gedanken machen wollen. Ich denke, das ist der Sinn dieser Bezeichnung.

Der politische Kontext spielt ja in deinen Bücher, so, wie ich sie gelesen habe, eine große Rolle. Welche Bedeutung hat es denn für dich als politischer Autor im Bereich Science Fiction tätig zu sein?

Die Bedeutung ist relativ einfach. Ich kann es nicht vermeiden, weil mich das hunderste Darstellen einer Roboterarmee, die den Krebsnebel erobert und zurückgeschlagen wird von einer feindliochen Insektoidenrasse, überhaupt nicht interesiert. Mich interessiert, wie Menschen mit Dingen zurecht kommen, mit denen sie eigentlich nicht zurecht kommen können. Und dieses Konfliktfeld, das ja genau im Spannungsfeld zwischen Menschen und denen von ihnen geschaffenen Artefakten, Menschen und ihrer Technologie, Menschen und den Gesellschaften, die von dieser Technologie bestimmt werden, auftaucht, das interessiert mich. Deswegen bin ich da per se von Anfang an politischer Autor.

Kommen wir vielleicht zum Schluß nochmal ganz zum Anfang. Mich würde noch interessieren, wie die Geschichte entstanden ist, wie du arbeitest, wie lange du gebraucht hast, um die Geschichte zu schreiben, was sich vielleicht auch im Laufe der Geschichte verändert hat.

Geschrieben habe ich an dem Buch etwa ein Jahr lang. Der Vorlauf war dieses Mal ungewöhnlich lange. ich würde das auf insgesamt zweeinhalb Jahre berechnen wollen, weil die Recherche sehr aufwendig war. Ich habe mich wirklich sehr intensiv mit der Mayakultur beschäftigt. Ich habe sogar teilweise mit dem Gedanken gespielt, Mayanistik in Bonn zu studieren, was natürlich nicht im Verhältnis zum Ziel steht, aber ich war sehr fasziniert davon. Ich hatte diese Idee mit dem Speer im Pariser Flughafenboden. Ich hatte die Idee von der Revolte in Südmexiko im Kopf, die EZLN in Mexiko, Subcommandante Marcos und so weiter. Und dann war plötzlich, und das ist was, was mich immer wieder fasziniert beim Schreiben, die Figur Yaqui, der Zensor, war so, wie sie im ersten Kapitel des Romans auftaucht, da - auf dieser Terrasse, so bekleidet, wie sie war, vor dieser Kulisse, die dort dargestellt wird. Und von dort aus hat sich die Geschichte entwickelt. Im Verlauf des Erzählens hat sich dann herausgestellt, daß der zweite Hauptcharakter, Enrique, der Guerillarenegat, immer stärker und immer bedeutender wurde, was ihn dann letztendlich zum emotional und psychologisch überzeugenderen Charakter macht innerhalb des Romans. Das drohte teilweise zum Roman von Enrique zu werden. ich hab dann noch, glaube ich, ein praktikables Gleichgewicht gefunden, aber es war eine faszinierende Erfahrung, wie eine zweite Figur, die am Anfang nicht mitgedacht wird, plötzlich erzählerische Energie ansaugt. Und so denke ich ist letztendlich eine interessante Erzählung über diese beiden ungleichen Zwillinge herausgekommen.


Das war das Interview mit Marcus Hammerschmitt aus Tübingen, dem Autor des Romans "Der Zensor". Das Buch ist im November 2001 im Argument Verlag in der Reihe Social Phantasies erschienen und kostet 12 Euro. Wer das Buch vom Autor selbst live vorgelesen bekommen möchte, hat dazu die Gelegenheit am Dienstag, den 9.April. Auf Einladung des Club Zatopek und des Freien Radios Wüste Welle liest Marcus Hammerschmitt im Club Voltaire in der Haaggasse 26 ab 21 Uhr.


Musiktrenner aus Manu Chao: Clandestino - Lagrimas de Oro

Audiobeitrag gesendet im Freien Radio für Tübingen und Reutlingen am 14.2.02 in der Info-Politik-Sendung "Lauschangriff".
Zum Nachhören auf www.freie-radios.net, exakt unter http://www.freie-radios.net/content.php?...