75 Jahre nach dem Massaker in Kragujevac/Serbien

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DANJA ANTONOVIC
KRAGUJEVAC – vor 75 Jahren

Moderationsvorschlag/Information:

Vor 75 Jahren, im Oktober 1941, erschossen Soldaten der deutschen Wehrmacht über 2000 Menschen in der serbischen Kreisstadt Kragujevac. Unter ihnen waren 300 Gymnasiasten und 18 Lehrer, sowie Kinder bis 12 Jahren. Jedes Jahr wird am 21. Oktober in Kragujevac an die Opfer erinnert: die Schulglocke ruft zur "Großen Schulstunde", der zigtausende Schüler beiwohnen.
Danja Antonovic aus Kragujevac.
Audio
09:20 min, 8749 kB, mp3
mp3, 128 kbit/s, Mono (44100 kHz)
Upload vom 26.10.2016 / 10:55

Dateizugriffe: 2465

Klassifizierung

Beitragsart: Reportage
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Jugend, Politik/Info
Entstehung

AutorInnen: Sadija Klepo
Radio: LoraMuc, München im www
Produktionsdatum: 21.10.2016
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Der 2. Weltkrieg begann im Königreich Jugoslawien am 6. April 1941: Ohne Kriegserklärung wurde Belgrad um sechs Uhr morgens bombardiert. Gleichzeitig marschierten Hitlers Truppen über die slowenisch-österreichische und kroatisch-ungarische Grenze ins Land. Jugoslawien war innerhalb weniger Wochen besetzt. In Kroatien etablierte sich der Nazistaat NEZAVISNA HRVATSKA, das "Unabhängige Kroatien", Serbien war der deutschen Militärverwaltung unterstellt. Schon im Sommer 1941 entstand hier eine flächendeckende Aufstandsbewegung, die den deutschen Besatzern überhaupt nicht gefiel: Der Aufstand sollte mit beispielloser Härte und Abschreckung im Keim erstickt werden.
Schon am 10. Oktober 1941 hatte der bevollmächtigte General in Serbien, General der Infanterie Franz Böhme, die Erschießung von Zivilisten befohlen.
In der Bekanntmachung der Standortkommandantur Kragujevac vom 21. Oktober 1941 hieß es: „Die feigen und hinterlistigen Überfälle in der vergangenen Woche auf deutsche Soldaten, wobei 10 getötet und 26 verwundet wurden, mussten gesühnt werden. Es wurden deshalb für jeden getöteten deutschen Soldaten 100, für jeden verwundeten 50 Landesbewohner, und zwar vor allem Kommunisten, Banditen und deren Helfershelfer, zusammen 2300, erschossen. In Zukunft wird bei jedem ähnlichen Fall, sei es auch nur ein Sabotageakt, mit gleicher Strenge durchgegriffen werden.“
Es handelte sich aber nicht um "Kommunisten und Banditen", sondern um Zivilbevölkerung, Städter und Bauer.
Schon am 19. und 20. Oktober wurden wahllos Bauern aus den umliegenden Dörfern gesammelt und in der unmittelbaren Nähe ihrer Häuser erschossen.
TAKE 01
Sakupljali su sve od 16 – 60 godina......
"In unserem Dorf haben sie alle Männer im Alter von 16 bis 60 Jahren aus den Häusern und vom Feld geholt, und dann haben sie, unweit der Felder auf uns geschossen", sagt ein Überlebender, in einer 40-minütigen Dokumentation vom Radio Belgrad.

Die Erschießungen wurden am 21. Oktober in Kragujevac fortgesetzt.
Menschen waren aus ihren Häusern, Geschäften und Fabriken zusammengetrieben worden, die ganze Stadt war umzingelt. Aus dem Jungengymnasium im Zentrum der Stadt wurden 300 Schüler direkt von der Schulbank abgeholt. 18 Lehrer folgten ihnen in den Tod. In der langen Todeskolonne waren auch Kinder, die am Straßenrand als Schuhputzer ihr Brot verdient haben...
TAKE 02
Najmladji streljani decak je bio rodjen decembra 1929godine, nije imao ni 12 godina
"Der jüngste erschossene Junge war im Dezember 1929 geboren, er war nicht mal 12 Jahre alt.....
Alle Männer, Jugendliche und Kinder wurden am Stadtrand erschossen. Die Erschießungen dauerten von sieben Uhr morgens bis sechs Uhr nachmittags.
TAKE 03
Stajala sam na kapiji i posmatrala. Zene su isle pored kolone, nosile su hranu.....
"Ich stand am Gartentor und sah eine lange Kolonne. Frauen, Mütter bildeten das Ende der Kolonne, sie hatten Essen und Kleidung mit, hofften ihren Kindern das geben zu können. Es war ein warmer, sonniger Tag".....


Die schreckliche Bilanz der Vergeltung waren am Ende 2799 hingerichtete Menschen und eine von Schock und Trauer gelähmte Stadt. Es hieß, jedes Haus hatte einen Toten zu beklagen. Jahrzehnte lang trugen Frauen von Kragujevac schwarze Kleidung – als Zeichen ihrer Trauer.
Heute gibt es keine Überlebende mehr.
Ihre Stimmen sind als Hüter der Erinnerung in der Audiodokumentation von Radio Belgrad noch zu hören. Unter dem Namen "KRAGUJEVACKI OKTOBAR", in serbischer Sprache, ist die Dokumentation auf You tube zu hören.
TAKE 04
Krvava bajka
Das hier ist die Stimme der serbischen Dichterin Desanka Maksimovic, die ihre Ballade KRVAVA BAJKA – "Das blutige Märchen" vorträgt. Das Gedicht beginnt mit den Worten: "Es geschah in einem Land der Bauer, auf den Hügeln des Balkangebirges, an einem Tag fand eine große Schülerschar den grausamen Tod "....
Den gleichen Namen KRVAVA BAJKA – "Das blutige Märchen" trägt auch ein Raum im "Museum 21. Oktober" in Kragujevac: es ist ein großer, verdunkelter, fast schwarzer ovaler Raum. Die einzige Lichtquelle sind tausende von Sternen – so scheint es. Es sind jedoch Namen und Fotos der Toten, die den Raum beleuchten.
Das Museum besteht aus 33 fensterlosen Türmen, die 33 Massengräber symbolisieren.
Auf mehreren Ebenen sind Geschichtsdaten, Dokumente, Fotos, Artefakte untergebracht, unter ihnen auch in deutscher und serbischer Sprache die Ankündigung der Massenerschießung. Das Museum befindet sich in einem 350 Hektar großen Erinnerungspark, das 12 Denkmäler zieren. "Der Gebrochene Flügel" ist das größte von ihnen.
Zwei überdimensionale Flügel aus weißem Beton halten die Wache am Massengrab der erschossenen Schüler. In jedem Flügel sind ihre Gesichter eingearbeitet.
Jedes Jahr, am 21. Oktober werden die Toten von Kragujevac betrauert.
Im Stadtteil SUMICE, in dem die Opfer begraben sind, lautet jedes Jahr die Schulglocke und ruft zur Großen Schulstunde – VELIKI SKOLSKI CAS auf. Zehntausende Schüler aus ganzem Land verneigen sich in Ehrfurcht. Es gibt kaum eine serbische Schulklasse, die den Gedenkpark in Kragujevac nicht besucht hat. Unter ihnen sind auch Schüler aus Deutschland.
TAKE 05 you tube
In Kragujevac wurden 2799 Menschen erschossen. Unter ihnen 300 Schüler des Jungengymnasiums und 18 Lehrer. Zudem waren 20 Kinder im Alter zwischen acht und zwölf Jahren unter den Opfern....
Das ist der Beginn einer Reportage, die Schüler eines Gymnasium aus Pancevo und Mitglieder der Jugendorganisation "Roter Baum" aus Berlin ins Netz gestellt haben.
Nach gemeinsamem Besuch in Kragujevac entstand die Videoreportage "Das Massaker von Kragujevac". Unter diesem Namen ist sie auch auf YOU TUBE zu finden.
In den letzten 40 Jahren haben über fünf Millionen Menschen aus der ganzen Welt die Pilgerstätte besucht. Deutschland hielt sich lange zurück. So ist nur in der DDR, im Jahre 1967, eine Briefmarke erschien, die an Opfer von Kragujevac erinnert.
In West-Deutschland wusste man lange Zeit über die Massenerschießungen wenig.
Erst die Wanderausstellungen "Verbrechen der Wehrmacht", erinnerte an Kragujevac und bezeichnete das Geschehen in Kragujevac, "als eines der größten Verbrechen der Wehrmacht". Neben Kragujevac wurde in der Ausstellung ein großer Platz den Massenerschießungen von Kraljevo eingeräumt. Dort wurden in Herbstmonaten 1941, nach dem gleichen Prinzip – ein toter deutscher Soldat – 100 tote Zivilisten – über 7000 Menschen erschossen. "Verbrechen der Wehrmacht", wurde zwischen 1995 bis 2004 in mehreren deutschen Städten gezeigt, ein gleichnamiges Buch folgte.
2011, zum 70-jährigen Jubiläum der Befreiung vom KZ-Buchenwald, wurde in den ehemaligen KZ-Räumen, die Ausstellung "Die Tragödie von Kragujevac – der größte Wehrmachtsmassenmord an der serbischen Bevölkerung" gezeigt. Die Eröffnungsrede hielt Ivan Ivanji, serbischer Schriftsteller und ehemaliger KZ-Häftling in Buchenwald.
Nach dem Krieg war Kragujevac einer der aktivsten Vorkämpfer für Frieden und Zusammenarbeit in der Welt. Dafür wurde die Stadt 1986 von der UNO ausgezeichnet, zwei Jahre später bekam Kragujevac die Friedensmedaille der französischen Stadt Verdun.

Auch am Freitag, am 21. Oktober 2016, 75 Jahre nach dem Massenmord klingelte die Schulglocke am Denkmal "Der gebrochene Flügel" und rief zu "Großen Schulstunde". Unter Anwesenden waren viele Jugendliche aus dem ganzen Land, Regierungsvertreter, Vertreter der antifaschistischen Organisationen aus Ex-Jugoslawien, Botschafter mehrer Staaten. Wie jedes Jahr hat der deutsche Botschafter einen Kranz auf das Schülermassengrab gelegt.