"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Merkels Afrikareise

ID 79702
 
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Mitte Oktober hat sich eure Frau Bundeskanzlerin auf eine Afrika-Tournee begeben mit Konzerten in Mali, Niger und Äthiopien, also mit gebührendem Abstand zu Ländern wie Togo, Tansania, Kamerun und Namibia, wo man sich des kolonialen Erbes Deutschlands hätte erinnern können.
Audio
10:50 min, 25 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 01.11.2016 / 09:44

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Wirtschaft/Soziales, Internationales, Arbeitswelt, Religion, Jugend, Kultur, Politik/Info
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 01.11.2016
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Der Hauptschlager war zweifellos die Flüchtlingsfrage, und das zu Recht. In Italien rechnet man für dieses Jahr mit gut 200 000 Afrikanerinnen und Afrikanern, die den kürzesten Weg nach Europa nehmen, und eine gute weitere Million Reiselustiger wartet in Libyen auf die nächste Überfahrt-Gelegenheit. Weiter kommen sie im Moment nicht, da der Franzose und der Österreicher ihre Grenzen gegen Italien zusperren. Dem Franzmann kann man noch zugute halten, dass er schon selber genug Immigranten aus den früheren Kolonien beherbergt, während sich die Österreicher für die ungarische Variante entschlossen haben und verschiedene Testreihen mit einem Neo-Austrofaschismus laufen lassen, zuvörderst mit dem Sturm auf das Präsidentenamt durch den FPÖ-Kandidaten Norbert Gerwald Hofer. Immerhin zeigt sich gerade bei der Präsidentenwahl, dass die Karten in Österreich doch anders verteilt sind als in Ungarn, denn erstens bietet der grüne Kandidat Alexander van der Bellen dem Hofer die Stirn und hat sogar den ersten ungültigen Durchlauf gewonnen. Zweitens ist die politische Kaste in Österreich zwar links wie rechts komplett korrupt und verfilzt, aber für eine richtig tolle Neuauflage des Faschismus fehlen noch ziemlich viele Zutaten. Die Grenzschließung und die Stimmungsmache gegen Flüchtlinge und sowieso Ausländerinnen und Ausländer zeigen dennoch, dass ein schöner Teil der österreichischen Bevölkerung im donauvölkischen Sinne aufgeputscht ist und gerne den Kopf verliert, wenn es um die größeren Zusammenhänge geht. Wenigstens ist der aktuelle Bundeskanzler Christian Kern seit langem wieder einmal eine erstklassige Besetzung dieses Amtes, aber dies nur am Rande.

Deutschland hat noch an der Million Syrerinnen und Syrer und Afghaninnen und Afghanen zu beißen, welche letztes Jahr das Flüchtlingsthema auf einen Schlag sehr präsent gemacht haben. Der Nachschub auf der Balkanroute ist zwar im Moment unterbunden dank der gütigen und effizienten Hilfe von Erdogan Pascha, aber Frau Merkel und ein paar weitere Politikerinnen und Politiker wissen, dass die Frage damit nicht vom Tisch ist. In Syrien kann man in absehbarer Zeit mit einer Lösung rechnen, sodass der Druck von dieser Seite her abnimmt, auch in der Türkei; aber Afrika bleibt ein zuverlässiger Lieferant von MigrantInnen, und auf Dauer kann man diese nicht einfach in Italien sitzen lassen, das geht die ganze EU etwas an, auch wenn die Schlaumeier im Osten damit rechnen, dass sie ihren Anteil zu einer Lösung nicht beisteuern müssen oder wenigstens so gering wie möglich halten können, wenn sie bloß genug bockig, nationalistisch und sackstrohdumm tun. Vor allem aber überlegt sich ein vernünftiger Mensch, welches Angebot man denn den Menschen in Afrika unterbreiten könnte, damit sie nicht immer wieder unter Lebensgefahr die Einreise ins System Europa versuchen.

In der Beziehung bestehen meines Wissens im Moment keine Pläne, bloß ein paar Vorstellungen, aber manchmal entwickeln sich die Dinge schneller, als man meint; was mich selber angeht, so habe ich an dieser Stelle bereits einige Skizzen vorgestellt, auf die ich aber im Moment nicht weiter eingehen will. Vielmehr geht es mir um eine weitere Dimension der Afrikareise von Frau Merkel, auf welche ich hier ebenfalls hin und wieder verweise, nämlich um die politische und ökonomische. Erneut in Bezug auf die EU bringt die Sahel-Safari eurer Bundeskanzlerin in Erinnerung, dass im Moment die Hauptlast der Ordnungspolitik, wenn man das mal so nennen will, auf den Schultern Frankreichs liegt. Selbstverständlich liegt das in erster Linie an den postkolonialen Beziehungen, welche nicht nur das militärische, sondern auch das wirtschaftliche Engagement Frankreichs in Afrika erklären. Will man aber Europa wirklich als Europa verstehen und nicht einfach als geografisches Zufallsprodukt, wie das in diesen Wochen grad wieder mal den Anschein macht, so müssen die Europäer eben die französischen Kolleginnen und Kollegen in ihren Bemühungen unterstützen – ebenso wie die italienischen, natürlich. Frau Merkels Reise und eben vor allem die Wahl ihrer Destinationen hatte sehr viel damit zu tun. Ein weiterer zentraler Punkt liegt da, wo Afrika eben nicht nur paketweise Aus­wan­derer liefert, sondern je länger, desto mehr ein wirtschaftliches Potenzial sondergleichen darstellt. In diesem Zusammenhang sind weniger die Flüchtlingsmeldungen, sondern vielmehr die Nachrichten vom bestehenden und weiter zunehmenden Engagement von China auf diesem Kontinent von Interesse. Die China Road and Bridge Corporation bringt gegenwärtig die aus britischen Kolonialzeiten stammende Eisen­bahn­verbindung zwischen Mombasa am indischen Ozean und der kenianischen Hauptstadt Nairobi auf Vordermann. Weitere Projekte für eine Verlängerung dieser Linien innerhalb Kenias, aber auch in die umliegenden Staaten Uganda, Südsudan oder Rwanda sind in Planung, beschlossen oder bereits begonnen. Die Finanzierung erfolgt ebenfalls mit chinesischen Darlehen. Darüber spricht man natürlich nicht offiziell auf der weltpolitischen Bühne, aber ihr könnt sicher sein, dass solche Aktivitäten in Washington mit ebenso offenen Ohren und Augen verfolgt werden wie in Brüssel oder eben in Berlin.

Man kann es auch anders sagen: Wenn Europa und in Europa Deutschland den geopolitischen Einfluss stabilisieren wollen, dann müssen sie auf dem afrikanischen Kontinent der chinesischen Expansion etwas entgegen setzen. Das verträgt sich allerdings unter den aktuellen Umständen recht schlecht mit den nationalistischen Tendenzen, welche sich im öffentlichen Raum breit gemacht haben und unterstellen, Deutschland zum Beispiel könne auf längere Sicht seine Autos ebenso selber konsumieren wie es seine Kartoffeln selber zu Klößen verarbeitet. Dem ist nicht so, geschätzte Hörerinnen und Hörer. Ganz abgesehen davon, dass die Automobilindustrie immer wieder neue Absatzmärkte sucht, nachdem die Chinesen unterdessen ihre Inlandnachfrage weitgehend aus eigener Produktion decken, geht es um weitere Elemente, zunächst ganz simpel die Rohstoffe, welche die entwickelte Welt nach wie vor zu Billigstpreisen aus Afrika beziehen möchte; in diesem Punkt sind übrigens die Chinesen ebenso interessiert wie die Europäerinnen und die Amerikanerinnen. Danach aber besteht ein enormer Hunger der europäischen Kapitalien nach Neuland, das sich heutzutage fast nur noch in Afrika findet, und auf die nationale Ebene herunter gebrochen bedeutet dies: Eure Pensionsfonds werden in Zukunft vermehrt Renditen aus Anlagen in Afrika benötigen, wenn ihr einen gesicherten Lebensabend genießen wollt. So simpel ist das, und es geht trotzdem nicht rein in einen Neonazi- oder ganz einfach nationalistischen oder populistischen Quadratschädel.

Insofern ist Afrika zur reinen Metapher dafür geworden, dass Wirtschaft, Gesellschaft und Politik schlicht und einfach nicht mehr anders denkbar sind als global.

Ja, wie sieht es denn diesbezüglich aus in Afrika? Die Zeitschrift Jeune Afrique hat eine kleine Serie über die Erwerbslage einiger Afrikanerinnen veröffentlicht. Eine davon ist die 30-jährige Michelle, die in einer Bank in der größten kamerunischen Stadt Douala arbeitet. Sie verdient dabei
553 Euro im Monat, wobei der Mindestlohn in Kamerun 55 Euro beträgt. Sie leistet sich eine Wohnung für 114 Euro und legt jeden Monat rund 230 Euro zur Seite. Ein anderes Beispiel ist die 37-jährige Sylvie, welche in einem Auffanglager für Kriegsflüchtlinge im zentralafrikanischen Bangui Krapfen verkauft. Daneben gibt sie noch Nähkurse in einem Ausbildungszentrum für Schneiderinnen. Zusammen kommt sie auf 136 Euro pro Monat. Oder der 30-jährige Yves-Landry, der für die Qualitätskontrolle bei einem Kraftwerkbau in der Hauptstadt der Elfenbeinküste Abidjan verantwortlich ist. Er erhält dafür 1220 Euro im Monat. So sehen kleine Beispiele aus dem Alltag dieses Kontinentes aus. Übrigens gibt es auch echte Schmankerl dabei: In der guineischen Hauptstadt Conakry musste im September die Privatschule La Citadelle den Betrieb einstellen auf Geheiss der Regierung, und zwar, weil die Schulleitung zu den Anhängern der Gülen-Bewegung zählt. Die Verantwortlichen kriegten es nach diesem Verbot mit der Angst zu tun und machten sich aus dem Staub in Richtung Senegal; Mitte Oktober entsandte die türkische Regierung dann eine neue Schulleitung, welcher mit ziemlicher Garantie keine Gülen-Anhänger angehören. – Ja, so sieht es aus in Afrika; dazu gehört auf einer anderen Ebene auch, dass unterdessen drei Staaten ihren Austritt aus dem inter­na­tio­na­len Gerichtshof von Den Haag bekannt gegeben oder angekündigt haben. Es entbehrt nicht jeglicher Wahrheit, wenn die Jungs sagen, dass der Internationale Gerichtshof einseitig aus der Perspektive eines etablierten Wohlstands in Europa untersuche und urteile, was in der afrikanischen Realität halt nicht immer die angemessene Haltung sei. Diesen Standpunkt kann ich mindestens verstehen, unabhängig von den konkreten Vorwürfen, zum Beispiel an den sudanesischen Präsidenten al Baschir. Wer die Einhaltung nördlicher oder west­licher Demokratie-Standards fordert in Gesellschaften, die auf dem Weg aus Steinzeit­gesell­schaften in die Moderne sind, der läuft Gefahr, ahistorisch zu denken und zu handeln. Ich nehme zwar nicht an, dass die afrikanischen Diktatoren genau diese Argumente vorbringen werden, aber für mich ist das plausibel.

Damit will ich nicht den Internationalen Gerichtshof in Den Haag für überflüssig erklären oder gar zum Hauptquartier des neokolonialen Gehabes. Man braucht hier bloß an Fälle zu denken wie jenen des Menschen- und Kulturschänders Faqi Al Mahdi. Es war gut, dass dieser Fall vor diesem Gericht behandelt und dass ein Urteil gefällt wurde. Mir geht es um Folgendes: In Genf haben ein paar Typen einen Diktatoren-Alarm eingerichtet. Jedes Mal, wenn ein Flugzeug mit einem solchen Machthaber drin auf dem Flughafen Cointrin aufsetzt, wird die am Alarm angeschlossene Community benachrichtigt und die dazu gehörige Empörung ausgelöst. Nun ist Genf aber eine der Hauptstädte der internationalen Diplomatie. Die Erfahrung lehrt, dass es manchmal sinnvoll ist, auch mit Diktatoren zu verhandeln. Das wunderbar demokratisch-aufrechte Instrument des Diktatoren-Alarms denunziert möglicherweise justament ein solches Geheim­treffen. Ein schönes Herz und eine saubere Gesinnung, mit anderen Worten, garantieren nicht immer für die objektiv richtige Erkenntnis. Auch nicht im Falle Afrikas.

Aber da haben wir in Europa sowieso noch ziemlich viel zu lernen und zu überlegen.