"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Erdopfau

ID 79835
 
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Jetzt muss sich Pascha Erdogan entscheiden. 4 Monate sind vergangen seit dem Putsch­versuch, über dessen Gründe nach wie vor keine Klarheit besteht. Belege für die offizielle Version mit dem Laienprediger Gülen als großem Teufel gibt es meines Wissens nach wie vor keine, es sei denn, man würde die Aussagen von Erdogan grundsätzlich als wahr einstufen.
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10:20 min, 24 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 08.11.2016 / 11:18

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Kultur, Umwelt, Arbeitswelt, Internationales, Wirtschaft/Soziales, Andere
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 08.11.2016
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Nun sind wir in Westeuropa schon derart dekadent, dass uns allein die Vor­stel­lung eines Menschen, welcher immer die Wahrheit spricht, in lautes Gelächter aus­bre­chen lässt. Beim Lachen über das gloriole Licht der immerwährenden Wahrheit Erdogan kommt uns allerdings die Magensäure hoch, und fragt mich nicht nach dem biologischen Zusammenhang, aber dieser Reflux führt zu dauerndem Stirnrunzeln und zur immer wiederkehrenden Frage, ob der Mann noch alle Tassen im Schrank hat.

Wenn Erdogan nicht tatsächlich das reine Licht der Wahrheit ist wie andere Vorbilder im Stil von Nur­sul­tan Nasarbajew, Islom Karimov, Kim Jong Un oder Hayden Pannettiere, dann geht es nicht in erster Linie um die Gülen-Bewegung. Aus der Ignoranz, wiederum des euro­pä­i­schen Westens heraus würde man den Putsch verstehen als eine Reaktion auf die zu­neh­mend autoritäre Politik von Erdogan. Autoritär heißt zwangsläufig, dass er zahlreiche Strö­mun­gen und Interessen in der Türkei nicht mehr in die Machtgeometrie einbindet. Das schafft in einem Land mit einer reichen Tradition an subkutanen Netzwerken zahl­reiche und für den ignoranten neutralen Beobachter nicht wirklich klar bestimmbare Anti­­pa­thien, Antikörper, Gegenkräfte. In dieser, aber vermutlich eben nur in dieser Beziehung ist der Verweis auf die Gülen-Orga­ni­sa­tion korrekt. Sie steht stellvertretend für alle anderen frustrierte Kräfte, welche in einigermaßen modernen Gesellschaften ihre Freiheit, sich zu bewegen und zu exprimieren beziehungsweise zu definieren, wie es in der Sprache der Bodybuilding-Studios heißt, ohne weiteres genießen. Ohne weiteres heißt hier auch, ohne dass dadurch das System auch nur entfernt zu kippen droht. In der Türkei wurde diese Freiheit von Erdogan zuerst befördert, aber seit der Zeit vor seiner Wahl zum Präsidenten wieder zurückgenommen. Ich kann dabei über die konkrete Ver­äs­telung und Verflechtung der Nicht-Erdogan-Kräfte, die nicht einmal durchs Band Anti-Erdogan-Kräfte sein müssen, sondern erst durch die autoritäre Verhärtung dazu werden, nur spekulieren, aber ich muss ver­mu­ten, dass der autoritäre Erdogan unterdessen selber die Übersicht verloren hat, denn sonst würde er nicht auch noch heute ziel- und planlos zu Tau­sen­den Menschen verhaften und Medien und Insti­tu­tio­nen schließen lassen, sozusagen im industriellen Ausmasse, ganz einfach, weil ihm die Staatsindustrie zur Verfügung steht. Dem Mann ist irgendetwas zu­ge­sto­ßen, und jetzt kann man nur noch darauf warten, dass ihm etwas zustößt. Es sei denn, er würde sich jetzt ganz schnell entscheiden, seine Harakiri-Politik abzubrechen und den Dialog zu suchen, so, wie er das vor fünfzehn Jahren zur allgemeinen Überraschung gegenüber den Kurden getan hat. Sonst fliegt ihm das Brauhaus bei nächster Gelegenheit tatsächlich um die Ohren.

Mich geht das ja nichts an. Mich interessieren eigentlich eher jene Wege, welche der moderne Mensch unter den Bedingungen der Meinungsfreiheit, des allgemeinen Wohlstands und der relativen Demokratie einzuschlagen pflegt, zum Beispiel in seinem Freizeitverhalten oder in seinen tiefenpsychologischen Dimensionen, zum Beispiel im Verhältnis zum Tier. Eine Kol­le­gin hat unlängst etwas von einem Hunde-Spa gehört, und weil ihr die Existenz eines solchen nicht unwahrscheinlich erschien, suchte sie mit Unterstützung unserer US-amerikanischen Freunde vom Datenschutz nach dieser Attraktion auf dem Jahrmarkt der tiefen Zuneigung. Fündig wurde sie sowieso, aber sie entdeckte noch ein anderes Angebot, das mich in hellen Jubel ausbrechen ließ: Für Hunde gibt es tatsächlich auch Aroma-Therapien! Man braucht kein Spezialist in Tierrecht zu sein, um zu wissen, dass Hunde mehr oder weniger den ganzen Tag lang ausschließlich damit beschäftigt sind, sich gegenseitig am Arsch zu riechen. Als ich ein Kind war, hatte ich einen Hund, und dessen liebste Aromatherapie bestand darin, sich in Wie­sen zu wälzen, wo der Bauer soeben frische Jauche ausgetragen hatte, wenn der Begriff «fri­sche Jauche» ausnahmsweise mal erlaubt ist. Jau Wau, Aromatherapie für Hunde, ich bin mir aber salzstengel- und -stangensicher, dass hier nicht der Hund, sondern der Besitzer, genauer: die Besitzerin sowie der Kursanbieter, genauer: die Kursanbieterin die Aromen bestimmen. Aromen, von denen das arme Schwein von Hund mit Sicherheit überhaupt nichts wissen möchte.

Das erinnert mich eben an das Tier im Recht, über welches ich vor einigen Jahren auch schon mal was gehört und gesagt habe, auf jeden Fall erscheint es mir zwingend, dass man nach der Einführung von Tierrechten für die einzelnen Gattungen dann auch zur Gründung von Tier­par­la­menten schreitet, und ich höre schon jetzt vor meinem inneren, was heißt da vor meinem inneren: sobald ich das Fenster aufreiße, höre ich ja schon vor meinem äußeren, also realen Ohr die entsprechende parlamentarische Debatte, und das Hauptargument lautet immer gleich: Wuff und Wau. Insofern sehe ich tatsächlich nur graduelle Unterschiede zu den Sprech­blasen­kammern in Bern, Berlin und Bukarest.

Das nehme ich sofort wieder zurück, wie es sich gehört, weil ich nichts zu tun haben will mit jenen, welche mit den demokratischen Institutionen auch die Demokratie selber ver­ächtlich machen, ich bin durch und durch überzeugt vom Prinzip der Demo­kratie und finde bloß, man müsste dieses Prinzip mal den aktuellen Gegebenheiten anpassen, und zwar nicht etwa mit der Einführung von pseudo-direktdemokratischen Verfahren, bei denen das Volk immer nur gerade dann angehört wird, wenn es der poli­ti­schen Elite grad in den Kram passt, sondern wenn schon mit echt direktdemokratischen Insti­tu­tio­nen, also regelmäßigen Abstimmungen auch über kleine ebenso wie über komplizierte Themen, was dem demokratischen Diskurs mit Si­cher­heit nicht abträglich ist. Aber vermutlich muss die Sache noch tiefer gehen. Da wir wie gesagt nicht annehmen können, dass in absehbarer Zeit irgendeine Lichtfigur auftaucht, welche uns immer und ausschließlich die objektive Wahrheit verzapft, müssen wir uns zuerst Über­le­gun­gen zum politischen Diskurs beziehungsweise zu seinem Wahrheitsgehalt machen und dann die entsprechenden Maßnahmen ergreifen, und wie ich sowieso immer sage: Information und Sachkenntnisse sind die unabdingbaren Voraussetzungen für die Ausübung demokratischer Rechte. Also, machen wir uns doch daran, neben den Strukturen auch diese ultimativen Forderungen endlich durchzusetzen.

In Deutschland haben die Arbeiten am demokratischen Hochamt, nämlich den Parlaments­wahlen vom nächsten Jahr längst begonnen. Im Moment wird gerade die Armutsfrage abgefackelt, damit sich die Parteipolitik vor dem Wahltermin selber dann auf die wirklich wichtigen Fragen konzentrieren kann, also auf die Zelebrierung von Nullbegriffen wie Wirtschaftswachstum, unternehmerische Freiheit, Solidarität, liberal, sozial und was der Standardfloskeln mehr sind. Wie ihr euch erinnert, bin ich mit den beiden Protagonisten in diesem Widerstreit nicht einverstanden, nicht mit jenen, welche die Ausgaben für die unterbemittelten, nämlich schwach versorgten Bevölkerungsschichten kürzen wollen noch mit jenen, welche behaupten, jedeR siebte EinwohnerIn Deutschlands sei arm oder armutsgefährdet. Das ist ganz großer Quatsch. Ich warte auf den Moment, wo man die Versorgung der unteren Bevölkerungsschichten mit genügend Geld nicht mehr mit dem Begriff Armut rechtfertigt. Der hat in unserer Gesellschaft nichts mehr zu suchen. Wir müssen die Geringverdiener, die Arbeitslosen, die Menschen mit existenziell knappen Renten nicht deshalb mit genügend Geldmitteln ausstatten, weil sie arm wären, diese Zeiten sind vorbei. Wir müssen ihnen ein anständiges Einkommen von sagen wir, einfach mal ein Beispiel an den Haaren herbeigezogen, eintausend Euro pro erwachsene Person und Monat garantieren, weil wir es uns leisten können und weil wir es uns leisten müssen. Wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert, es braucht ein Grundeinkommen für alle von tausend Euro pro Person, nicht weil damit die Armut bekämpft werden soll, sondern grundsätzlich. Und daneben wollen wir uns auch noch dem Kampf um eine gerechtere oder überhaupt gerechte Verteilung des allgemeinen Besitzes widmen und dabei durchaus eine internationale oder internationalistische Perspektive einnehmen; denn unser Reichtum basiert zwar nicht auf der Armut der anderen, wie das oft in einer falschen Verknappung vorgetragen wird, aber unser Reichtum beziehungsweise die Grundlagen seiner Erzeugung sind derart mächtig, dass es geradezu eine moralische Pflicht ist, ihn auch den Menschen in den anderen Teilen der Welt zugänglich zu machen, was absolut nicht auf Kosten unseres Wohlstandes erfolgen muss. Reichtum kann man tatsächlich schaffen, ohne dass zuvor eine Umverteilung stattgefunden haben muss.

Trotzdem müssen die Besitzverhältnisse geändert werden, zum einen, und zum anderen ist unser Wohlstand unterdessen so weit gediehen, dass wir ihn auch ohne Umweltzerstörung erzeugen und vermehren können. Die entsprechenden Anstrengungen gibt es schon längstens, und somit geht es nur noch darum, sie in eine allgemeine Praxis umzuwandeln. Ein Beispiel für alle anderen: Schafft die Billigfliegerei ab! So bequem auch die Malle-Hopperei sein mag, sie schadet erstens der Umwelt und ist zweitens Ausdruck einer Gedankenlosigkeit, welche der Gesellschaft und eines aufgeklärten Individuums im 21. Jahrhundert schlicht nicht würdig ist.

Aber dies nur als Beispiel, wobei es ein gutes Beispiel ist insofern, als die einzige Ressource, die wir eigentlich seit Anbeginn der Menschheit zur Verfügung hätten, nämlich die Intelligenz, ja zunehmend in Verruf gerät, und auch hier muss man wohl demnächst mal wieder Pflöcke einschlagen und die übelsten Missetäter, welche eine direkte Verbindung zwischen Mund und Bauch oder Hirn und Scheißdreck herstellen, in verschiedenen Schauprozessen öffentlich bloßstellen. Wenn das möglich ist; in der Ära von Donald Trump muss man daran allerdings Zweifel haben.