"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Die schöne Lügnerin

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Die Menschen bilden im Zusammenleben Organe und Organisationen aus, welche sie Gesellschaften nennen und Staaten, und die entwickeln sich im Lauf der Zeit ebenso wie die Quastenflossler, welche vor vierhundert Millionen Jahren an Land krochen und vor 200 Millionen Jahren wieder ins Meer zurückkehrten, wobei mir jetzt grad einfällt ...
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10:33 min, 24 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 06.12.2016 / 11:35

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Kultur, Arbeitswelt, Internationales, Wirtschaft/Soziales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 06.12.2016
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
... dass sie sich dabei nicht so richtig entwickelt haben, man sieht ja immer noch Spuren ihrer Geh-Organe am Fischkörper und nennt sie Quasten, wobei mich die Wikipedia hier mit einer Flut an rechthaberischen Bemerkungen korrigiert und zum Beispiel behauptet, dass das Genom der aktuellen oder rezenten Quastenflossler mit den 400 Mio. Jahren alten fossilen Quastenflosslern nichts mehr zu tun habe und dass die beiden in erster Linie aus morphologischen Gründen den selben Namen trügen. Wie auch immer: Die Entwicklung der im Zusammenleben der Menschen entstehenden Organisationen hat in den letzten Jahren keineswegs Halt gemacht. Im Moment beschleunigt sich die Mutation vor allem auf der Kommunikationsebene. Vor zwanzig bis dreißig Jahren zum Beispiel galten Witz und Satire noch als unseriös, dergestalt, dass man in Erfurt Werbung für ein Kabaretthaus machte mit dem Wahlspruch: Satire mit Humor. Dann hielten Witz und Satire ihren Einzug ins Fernsehen und in den Alltag, es konnte bald schon alles ironisch gemeint sein, und die allerfadesten Kabarettisten wie Dieter Nuhr oder Eckhardt von Hirschhausen erhielten sogar eigene Formate im nationalen Programm. Jetzt sind wir wieder einen Schritt weiter, jetzt haben wir jene Stufe erklommen, wo es überhaupt nicht mehr drauf ankommt, was man sagt, Witz und Ironie hin oder her. Im ober-, nieder- und zentralösterreichischen Ausleseverfahren bei der Wahl zum neuen Bundespräsidenten saßen Herr Alexander van der Bellen und der fesche Nazi Hofer einander gegenüber und stanzten sich unerschrocken gegenseitig ins Gesicht: «Das ist eine glatte Lüge!» – Ich muss zugeben, dass ich einerseits parteiisch bin und anderseits die feschen Nazis, Burschenschaftler und Kotzbrocken leider aus passiver publizistischer Erfahrung kenne, sodass ich davon ausgehe, dass Alexander van der Bellen derjenige war, der im Recht war, und ich gehe auch davon aus, dass auch die Anhängerinnen und Anhänger von Norbert Hofer das im Grunde genommen wissen, aber es scherte sie keinen feuchten Dreck, sie scharrten einfach zuhause erstens vor ihren Fernsehautomaten und zweitens vor Glück und wieherten, ebenfalls vor Glück über diesen magistralen Lügen-Witz. Insgesamt aber sehen wir uns in dieser spezifischen Situation vor der klassischen Frage oder vor dem klassischen Problem, dass alle Kreter Lügner sind, bloß weiß niemand, wer jetzt grad aus Kreta kommt.

Hat euch das in irgendeiner Weise weiter geholfen? Nein? – Dann ist ja alles gut, denn wirklich weiter kommen wir auf dieser Ebene nicht. Die Kommunikation ist im Kern korrumpiert, wie wir auch im US-amerikanischen Wahlkampf gesehen haben. Aber man sollte sich davor hüten, diese Korruption allein dem rechten Lager zuzuschreiben, egal, ob nationalistisch oder neoliberal, was übrigens ein unauflösbarer Gegensatz ist: Wer nationalistische Politik macht, kann nicht neoliberal sein und umgekehrt. Das ist mit ein Grund dafür, dass die Rechtsnationalisten so viel Zulauf haben, aber dies nur am Rande. Wie gesagt, ist auch der sozialdemokratische Medienkonsens voll von Floskeln und Berichten, hinter welchen oftmals eine gute Absicht steckt, die aber im Kern einfach falsch sind. An dieser Stelle habe ich mich in letzter Zeit häufig über die Armutsdebatten geärgert. Gerade in der Vorweihnachtszeit drücken sowohl Politikerinnen als auch karitative und humanitäre Organisationen wieder besonders stark aufs Armut-Pedal, was mich immer wieder zum Schreien bringt. Ich finde es absolut skandalös, dass es in Europa Menschen gibt, welche sich unter Umständen mit Gütern versorgen müssen, die sie selber als erniedrigend empfinden, zum Beispiel an der Tafel. Gleichzeitig ist es ein Skandal, dass man diesen Menschen weiterhin Leistungen ausrichtet, welche letztlich unter die Kategorie Almosen fallen. Über diesen Zustand ist unsere Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens doch längstens hinaus gewachsen. Die Menschen, alle Menschen haben ganz einfach Rechte, nicht ein Anrecht auf noch genießbare Abfallware aus dem Supermarkt, sondern ein Recht auf ein anständiges Grundeinkommen, unabhängig davon, was sie sonst noch verdienen oder eben nicht. Aber mit Armut hat all das längstens nichts mehr zu tun. Wir müssen aufhören, so zu tun, als würde sich irgendwer, und sei es Andrea Nahles, ernsthaft mit der Bekämpfung von Armut beschäftigen. Das gehört sich einfach nicht. Das ist kein politisches Programm, das ist einfach Nonsense.
Das zweite A, das ich hier aufführe, ist die Berichterstattung aus Aleppo. Wie der Diktator und das Regime in Syrien hier ausschließlich Krankenhäuser, Schulen, Altenheime und weitere soziale Einrichtungen bombardiert und zerstört, während die Rebellen allesamt mit weißen Helmen und in Arztkitteln besagte Kranke mit Wattebäuschen operieren, das geht doch auf keine Kuhhaut. Dass in Aleppo katastrophale Zustände herrschen, hat mit dem übergeordneten Umstand zu tun, dass dort Krieg herrscht, und den sollte man nicht mit humanitären Ellen messen, auch wenn ich hier nicht die Arbeit des Roten Kreuzes in Schutt und Asche legen will, ich spreche eher von der medialen Verwertung des Kriegselends, welche mir immer perverser erscheint, je länger ich mir diese sackdoofen Berichte und das vermeintliche Entsetzen über die Übeltaten des Baschir-Al-Assad-Monsters anhören muss. Hört auf damit! Schweigt! Nur schon ein Bericht über die Entdeckung eines neuen chemischen Elementes, welches in einem Keller eines zerbombten Hauses in Aleppo entstanden oder gar von Widerstandskämpfern entwickelt worden ist, würde meine Stimmung um mehrere Grad heben.

Der sozialdemokratische Medienkonsens ist tatsächlich in einigen Stukturelementen eine Lüge. Insofern haben eben die Volksgenossen von der AfD und von der NPD und von den weiteren flockigen Jungnationalisten durchaus recht mit ihrem Slogan von der Lügenpresse. Und wenn ihr jetzt die Frage stellt, was denn Wahrheit sei, dann kann ich nur sagen: Wahrheit war schon immer ein Konstrukt oder eine Hypothese, die man zu allerletzt im Medienbereich findet. Schon immer war die Presse in der Regel Partei, und die Leserinnen und Leser befinden sich nicht erst seit Facebook und Twitter in ihrer Blase, das ist eine Realität, die so alt ist wie die Presse selber. Immerhin zähle ich zur Fraktion jener Leute, welche nach wie vor an Wahrheit glauben als einem diffusen Ort, nach welchem immer gesucht werden muss. Wir befinden uns sozusagen ein Leben lang auf der Reise an diesen Ort, und der Unterschied zu einer religiösen Veranstaltung ist nur der, dass man der Wahrheit in der letzten Lebensphase in der Regel nicht näher kommt. Wenn dies ausnahmsweise doch einmal der Fall ist, darf man von Weisheit sprechen.

Ja, jetzt ist es definitiv: Wir sind im Zeitalter der Lüge angekommen, der offenen, unverhohlenen Lüge. Wenn es kommunikationstechnisch opportun ist, wird gelogen, und wenn nicht, dann sagt man halt die Wahrheit, aber kommunikationstechnisch besteht kein Unterschied mehr. Darüber kann man sich die Haare zerraufen oder ein Tattoo stechen lassen, aber es ist nun mal so, und in diesem Zusammenhang möchte ich einfach darauf hinweisen, dass das Zeitalter der Lüge auch seine wunderbaren Seiten hat. Ihr könnt und dürft ab sofort auch in der Öffentlichkeit herum plaudern, was euch gerade in den Sinn kommt, wonach ihr Lust habt, und wenn ihr darin sogar eine gewisse Meisterschaft erlangt, dann wird als nächstes Stadium in der Entwicklungsgeschichte des menschlichen Zusammenlebens, Unterabteilung Kommunikation, die Stufe des Absurden erreicht. Und mit Bezug auf den sozialdemokratischen Medienkonsens: Den müssen wir dann wohl verabschieden, aber das tut auch nicht weh; sowieso kann sich unter den aktuellen Umständen eine jegliche in ihr eigenes Medium verabschieden, ganz wie es ihr beliebt.

Die Verhältnisse dagegen, die bleiben so, wie sie sind, respektive sie bleiben so, wie sie sowieso noch nie waren, und unter uns, wir können uns wohl darauf verständigen, dass es in den letzten fünfzig Jahren sowieso niemals gelungen ist, das durchzusetzen, was eine wohl meinende Pro­gramm­sprache gefordert hat. Ich möchte weiter beruhigen insofern, als ich durchaus davon ausgehe, dass weder die Neonationalisten noch die Neoliberalen auch nur das geringste Interesse daran haben, die Ärmsten der Armen noch ärmer werden zu lassen, als sie es ohnehin nicht sind; so etwas von unökonomisch wäre das, das kann sich unsere Wirtschaft gar nicht leisten.

Stattdessen rate ich zum Zusammenschluss in Organisationen, welche sich der Wahrheitssuche widmen, wie zum Beispiel in famosen freien Radioanstalten, wo man sich nicht einmal über die Maßen in die eigene Tasche zu lügen braucht, sondern wo man ganz locker die alten Vorlieben pflegt und insonderheit alle Bürgerinnentugenden hoch hält, die ich nicht im einzelnen aufzuzählen brauche. Dazu braucht es selbstverständlich weiterhin eine intensive Forschungstätigkeit im Bereich der sich stets neu formierenden Organe des menschlichen Zusammenlebens, man kann durchaus auch die neuen Kommunikationsformen einer genauen Prüfung unterziehen. Ich habe letzthin gelesen, dass der neu gewählte US-amerikanische Präsident, dessen Name mir entfallen ist, ich glaube, er beginnt mit Schaf und endet mit Seckel, dass dieser also in seinem Wahlkampfteam Spezialisten für die Social-Media-Kommunikation hatte, welche potenzielle Wählerinnen und Wähler bis auf den Häuserblock oder sogar auf das Individuum genau mit maßgeschneiderten Botschaften ansteuern konnten. Erreicht wurde dies durch den Abgleich von Social-Media-Profilen mit all den anderen Daten, welche unterdessen von allen Unternehmen über die Kundinnen und Kunden gesammelt werden; es gibt unterdessen zahlreiche Unternehmen, welche solche Daten aufkaufen und dann mit Gewinn weiter verkaufen oder eben direkt auswerten, und dann kommt man auf sehr präzise Profile praktisch aller Einwohnerinnen und Einwohner des Landes. Macht euch alles vor, aber bloß nicht, dass so etwas nicht auch in Deutschland existiert. Nicht der Staat, sondern verschiedene private Daten-Warenhäuser verfügen über mehr Informationen über euch, als ihr sie selber in eurem Wachzustand zur Verfügung hält.

Mit anderen Worten: Die Aufgaben sind gestellt. Packen wir sie an!