"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Restanzen 2016

ID 80676
 
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Anfang November streifte mich die Nachricht von der Verurteilung des britischen Bankers Rurik Jutting in Hongkong, nicht wegen der Bank-Transaktionen, welche er im Namen seines Arbeitgebers Bank of America Merrill Lynch mit dem einzigen Zweck der Steuerminimierung tätigte, sondern wegen der Ermordung zweier Frauen Ende Oktober beziehungsweise Anfang November 2014.
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12:01 min, 28 MB, mp3
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Upload vom 27.12.2016 / 16:05

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Kultur, Religion, Arbeitswelt, Internationales, Wirtschaft/Soziales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 27.12.2016
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Er hatte an ihnen seine sadistischen Phantasien ausgelebt; morgens um 4 Uhr nach dem zweiten Mord rief er dann selber die Polizei an. Ich will hier nicht in Truman Capote machen und den Aufeinanderprall zweier Welten schildern, jener des internationalen Bankangestellten mit einem Jahreslohn von 600 000 Dollars im Jahr und jener der beiden Frauen, welche neben ihren misslich bezahlten Jobs als Pflegehelferinnen, Putzfrauen oder Kindermädchen noch in Bars und Bordellen arbeiteten, um zu etwas Knete zu kommen. Dies tat bereits der China-Spezialist Michael Forsythe in der New York Times vor zwei Jahren, allerdings ohne besondere journalistische Verve und ohne die existenzielle Dimension jenes Heeres von weitgehend rechtlosen jungen aus­län­di­schen Frauen, die sich zur Verfügung der gut bezahlten Männer aus dem Westen und aus der Volksrepublik halten, tiefer auszuloten. Die entsprechenden Tatsachen, Fakten oder Verhältnisse sind den normalen Nachrich­ten­kon­su­mentinnen unterdessen geläufig und insofern nicht der weiteren Rede wert. Dagegen stach mir im Bericht über den Prozess ein Satz ins Auge: Die Verteidigung Juttings führte ins Feld, dass er unter den Folgen von Kokain- und Alkoholmissbrauch leide neben Persönlichkeitsstörungen im Bereich sexueller Sadismus und Narzissmus, welche seine Fähigkeiten zur Selbstkontrolle beeinträchtigt hätten. Mit anderen Worten: Der Mann war eigentlich schuldunfähig, und zwar nicht nur, weil er voll gepumpt war mit Kokain und Alkohol, sondern wegen der Persönlichkeitsstörung, und das heißt kurz zusammengefasst nichts anderes als: Die Sexmorde selber machen ihn schuldunfähig. Laut der Verteidigung von Rurik Jutting sind solche Taten also grundsätzlich straffrei.

Da habe ich etwas gestutzt, nicht etwa, weil das Gericht dieser Argumentation gefolgt wäre, im Gegenteil, Jutting wurde selbstverständlich zu lebenslanger Haft verurteilt, sondern ganz einfach weil sich diese Argumentation so juristisch gibt und dergleichen tut, als wäre dies eine ganz normale, wo nicht sogar übliche Haltung, wie man sie im Rahmen der allgemeinen Grundsätze des Strafrechtes mit Fug und Recht vertreten könne. Das ragt durchaus über die durchschnittliche Höhe der rechtlichen Spitzenargumente hinaus. Und damit will ich auch gleich wieder aufhören, dergleichen zu tun, als verstünde ich mehr von Rechtsgrundsätzen als andere Leute.

Etwas früher, nämlich im Oktober hatte ich einen Bericht zur Ausschüttung des Alaska Oil Fund im Jahr 2015 gelesen. Ihr erinnert euch vielleicht daran, dass in Alaska seit den 1970-er Jahren ein Teil der Einkünfte aus der Vergabe von Mineralöl-Lizenzen in einen Fonds investiert wird, dessen Erträge wiederum zum Teil an die ganze Bevölkerung ausgeschüttet werden, was so etwas wie ein Teil-Grundeinkommen ergibt. Der Fonds geht also nicht etwa zurück auf die Erdölkatastrophe der Exxon Valdez im Jahr 1989, als rund 80 000 Kubikmeter Erdöl in den Prince-William-Sound in der Nähe von Alaskas Hauptstadt Anchorage ausliefen, sondern war vielleicht so etwas wie eine Voraus-Entschädigung oder Vor-Rückversicherung für das, was dann eben tatsächlich eingetreten ist. Der Präsident der Vereinigten Staaten hieß zu diesem Zeitpunkt George H. Bush. Exxon wurde fünf Jahre später zu Entschädigungszahlungen von 287 Millionen Dollar und zu einer Buße von 5 Milliarden Dollar verurteilt. Gegen die Buße legte Exxon Rekurs ein, und das zuständige Bezirksgericht reduzierte sie auf die Hälfte, wogegen Exxon erneut Rekurs einlegte, worauf das Oberste Bundesgericht im Juni 2008 den Betrag dann auf 507,5 Millionen Dollar senkte. Im August desselben Jahres erklärte sich Exxon Mobil endlich bereit, drei Viertel dieser rechtskräftigen Buße zu bezahlen. Der Präsident hieß zu diesem Zeitpunkt Wilhelm Busch. Ein Jahr später hieß der Präsident Barack Obama, und aufgrund eines Bundesbeschlusses wurde Exxon dazu verdonnert, Zinsnachzahlungen in der Höhe von 480 US-Dollar zu leisten. Im Jahr 2016 schließlich ernannte der Schafseckel den Exxon-Präsidenten zum Energie-, nein, ich glaube Umwelt- oder Außenminister.

Übrigens ist die Geschichte des Tankers Exxon Valdez, die im schlauen Buch des Fähnleins Fieselschweif dokumentiert ist, so lustig, dass ich sie hier kurz nacherzähle: Anstatt ihn kommentarlos zu versenken, wie dies heutzutage vermutlich die Kommunikationsabteilung eines solchen Unternehmens empfehlen oder gar anordnen würde, ließ man das Schiff reparieren und entließ es unter einem neuen Namen wieder in die freie Seeschifffahrt. Neu hieß es Exxon Mediterranean, und kurze Zeit später gab es einen neuen Namen: SeaRiver Mediterranean, im Zusammenhang mit der Auslagerung des Schifffrachtgeschäfts von Exxon in eine neue Tochtergesellschaft mit dem Namen River Martime Inc.; nochmals etwas später kürzte man den Namen ab auf S/R Mediterranean und im Jahr 2005 schlicht auf Mediterranean. Exxon versuchte, den Kahn wieder für die Nordamerika-Flotte laufen zu lassen, aber unterdessen gab es eine gesetzliche Vorschrift, welche die Rückkehr des Tankers in den Prince William Sound verbot. So kam er in Europa, im Nahen Osten und in Asien zum Einsatz. 2002 wurde er erneut aus dem Verkehr gezogen und revidiert, um 2005 wieder in See zu stechen, diesmal aber unter der Flagge der Marshall Islands. Da die Europäische Union aber ein Verbot für Tankschiffe ohne Doppelwand-Verschalung erließ, wie die Exxon Valdez eines ist, verkaufte die Eigentümerin, die Exxon-Tochtergesellschaft SeaRiver Maritime, die Mediterrannean an das Hongkonger Frachtunternehmen Hong Kong Bloom Shipping Ltd., welche dem Boot einen neuen Namen verpasste, nämlich Dong Fang Ocean, sowie eine neue Flagge, nämlich jene von Panama. Im Jahr 2008 wurde der Frachter erneut revidiert und umgebaut und diente fortan der Beförderung von Eisenerz. Ende November 2010 kollidierte die Dong Fang Ocean im südchinesischen Meer mit dem maltesischen Frachter Aali, worauf sie in den Hafen von Longyang in Shandong geschleppt wurde, und im März 2012 kaufte Global Marketing Systems, Inc., den Kahn zu Verschrottungszwecken für 16 Millionen Dollar, worauf er nach verschiedenen Hand- und einem weiteren Namenwechsel zu Oriental Nicely schließlich im indischen Hafen Alang eintraf, wo die Ausschlachtung begann.

Etwas Ähnliches wie den Alaska Permanent Fund kennt man in Norwegen, bloß sind es dort nicht Lizenzen, sondern direkt die Erdöleinnahmen, welche der Staat einkassiert und die zum Teil das Kapital der nationalen Pensionskasse alimentieren, wodurch die Norwegerinnen und Norweger je nach Höhe des Erdölpreises recht hohe Ansprüche aus diesem Fonds ausweisen können. Aber zurück zum Erdölfonds in Alaska: Dieser war im Juli 2015 52.8 Milliarden US-Dollar wert und erbrachte Nettoeinkünfte von knapp 3 Milliarden Dollars, von denen wiederum etwas weniger als die Hälfte an 645 000 Begünstige ausgeschüttet wurden, das sind 2072 US-Dollars pro Person und Jahr. Das heißt, und nun merkt aber auf, geschätzte Hörerinnen und Hörer: Für ein bedingungsloses Grundeinkommen, welches allein aus Kapitalerträgen finanziert wird zu einem Satz von sagen wir mal 4%, wie dies in Alaska im Jahr 2015 der Fall war, benötigt es pro Million Einwohnerinnen und Einwohner und für ein Grundeinkommen von 20 000 Dollar pro Jahr ein Fondsvermögen von 500 Milliarden Dollar. Für 80 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner wären dies also 40 Billionen Dollar, zum Tageskurs umzurechnen in Euro. Man sieht, dass diese Finanzierungsform einen langen Atem brauchen täte, außer man säße auf schönen Erdölreserven wie Norwegen.

So, jetzt habe ich meine Pendenzen für dieses Jahr abgearbeitet, es sei denn, Ihr hättet gerne noch die November-Umfrageergebnisse des Economist für die Wirtschaftsprognosen 2017 bezüglich des Wachstums realen Bruttoinlandprodukts und der Konsumentenpreise: Für Deutschland rechnet man beim BIP mit einer Zunahme von 1.0 bis 1.9% und bei den Konsumentenpreisen von 1.4%. Dass letzteres stark untertrieben ist, habe ich bei meinem letzten Besuch in Erfurt gesehen, ebenfalls im November. Ein Jahr zuvor gab es am Bahnhof noch eine Thüringer Bratwurst für, was weiß ich, einen Euro fuffzig, vielleicht zwei Euro; dieses Jahr kostete sie im Stand im Radhaus beim Bahnhof satte 3 Euro. Das sind nicht 1.4%, sondern ein Euro fuffzig. Naja, vermutlich ist das Wieder­auf­leben der Inflation nichts weiter als ein Anzeichen dafür, dass die Real- und die Finanzwirtschaft nach den Verwerfungen vor zehn Jahren wieder einigermaßen ein Gleichgewicht gefunden haben. Ganz sicher ist das nicht, aber eines ist sicher: In all den Jahren, in denen die Preise jetzt nicht gestiegen sind, ist doch der Wert der Ware mehr oder weniger konstant gesunken, oder aber man erhielt für das gleiche Geld im gleichen Produkt mehr Leistung. Das ist ja auch eine Form der Inflation, wenn auch halt eine versteckte.

Berlin hat zum Abschluss des Jahres einen ähnlichen Terroranschlag erlebt wie Nizza am französischen Nationalfeiertag, am 14. Juli. Außer meinem Beileid für die Opfer in Berlin wie in Nizza und bei anderen Anschlägen fällt mir dazu nicht viel ein. In Frankreich mag der Terror eventuell eine sozusagen militärische Funktion haben, indem dort eine erhebliche Anzahl an jungen und leichter radikalisierbaren Moslems leben. In Deutschland gibt es so etwas nicht. Hier sind die Gewalttaten nichts anderes als Explosionen reinen Hasses und reiner Verblendung. Mit Religion haben sie weder in Frankreich, Belgien noch in Deutschland etwas zu tun. Die einzige objektive Funktion, die man nachweisen kann, ist die Stärkung des Bedürfnisses nach einem autoritären Staat zum einen, die offizielle Schließung der letzten Lücken bei der Überwachung ausnahmslos aller Personen, also nicht nur der so genannten islamistischen Gefährder, sondern am Schluss wirklich aller, auch der Mitglieder der AfD, zum anderen. Allerdings hätten wir für die Komplettüber­wa­chung der Menschen durch den Staat durchaus keine Anschläge benötigt, daran arbeiten die Geheimdienste in Zusammenarbeit mit den großen Datenwarenhäusern schon seit Jahren. Aber die Terroristen sorgen nun sehr effizient dafür, dass dies auch die hintersten und letzten Daten­schüt­ze­rin­nen für wünschenswert halten und halten müssen, wenn sie nicht den Volkszorn auf sich ziehen wollen. Gottseidank haben wir nichts zu verbergen. Oder etwa doch? Dann bleibt uns nur noch eines: Wir müssen uns in Zukunft verhalten wie die Exxon Valdez und uns alle paar Jahre einen neuen Namen und einen neuen Heimathafen zulegen. Mit anderen Worten: Jedem halbwegs freien Individuum steht bald nur noch eine Zukunft offen, nämlich jene der permanenten Mobilität. Die ist technisch dank der Cloud sowieso schon längstens machbar, allerdings galt die Cloud bis jetzt auch als eines der Instrumente der Totalüberwachung. Da besteht also ein interessantes technisches Problem, auf dessen Lösung wir im neuen Jahr warten.