"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Die italienische Krankheit

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Im Moment sind die Vereinigten Staaten von Amerika im Nahen Osten nicht besonders aktiv und haben insbesondere in Syrien das Feld völlig geräumt zugunsten der Russen, welche sie noch vor fünf Jahren völlig aus der Region zu drängen hofften.
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11:02 min, 25 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 03.01.2017 / 09:48

Dateizugriffe: 2017

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Kultur, Religion, Arbeitswelt, Internationales, Wirtschaft/Soziales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 03.01.2017
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Irrtum, sprach die Kokosnuss und blieb oben hängen. Dabei ist nach wie vor kein Plan zu erkennen, der vorübergehende Friede zwischen Russ­land und der Türkei geht zulasten der Kurden, und wenn sich die Allianz als tragfähig erweist, wird ein Teil der von den Amerikanern finanzierten Rebellen demnächst Verhandlungen mit der syri­schen Regierung aufnehmen. So kann das Elend mindestens in einem Teil des Landes gemildert werden, ohne dass die Kriegsursachen vollständig beseitigt sind. Aber es gibt bekanntlich immer wieder Beispiele von Friedensprozessen, welche auf der Grundlage von nicht beseitigten Kriegs- oder Konflikt­ursachen geführt werden. Wenn man etwas großspurig sprechen will, kann man sagen, dass alles, was wir auf der Welt als Frieden zelebrieren, auf der Grundlage von nicht beseitigten, sondern irgendwie verbogenen Konflikten beruht. Die ganze Zivilisation, letztlich. Und so sind wir gespannt, wie der Zivilisationsprozess im Nahen Osten seinen Fortgang nimmt. Die Akteure haben sich in den letzten Jahren nicht groß verändert: Neben den religiösen Hauptströmungen der Schiiten und der Sunniten mit jeweiligen Machtbasen in Saudiarabien und im Iran bilden die Metzger von Al Kaida und IS eine wichtige Komponente im Kräftespiel, ebenso wie der waffenstarrende Staat Israel, und die weiteren Vektoren wie der Rohstoff Erdöl, die Kurdenfrage und die Machtinteressen der Türkei garnieren den ganzen Wurstsalat. Dabei habe ich noch nicht mal vom Jemen gesprochen, und eben, der Einfluss der USA und Russlands bleibt vorderhand ebenfalls undiskutiert. Dabei hat die US-amerikanische Politik das Geschehen seit dreißig und mehr Jahren stark beeinflusst, lange mit den beiden gegensätzlichen Standbeinen Saudiarabien und Israel und neuerdings auch mit einer gewissen Öffnung gegenüber dem dritten Erzfeind Iran. Jedenfalls ist alles vorhanden, um für weitere 50 Jahre Krieg und Frieden zu sorgen. Prognosen sind für mich aus dem Grund unmöglich, weil ich mich dafür auf die Entwicklungen im Kleinen abstützen müsste, auf Veränderungen bei den wirtschaftlichen und mentalen Grundlagen der Bevölkerung in der Region, und zu solchen Informationen habe ich keinen Zugang. Zugang habe ich nur zur einen, zentralen Information: Der Nahe Osten ist weiterhin aus dem Grund ein Pulverfass, weil er das Erdöllager an und für sich ist.

Russland hat sich erstaunlich gut aus der Affäre gezogen, was neben anderen Faktoren auch auf die wirklich besonders ungeschickte Politik der Vereinigten Staaten zurückzuführen ist, von der Unter­stüt­zung Saddam Husseins bis zu seiner Bekämpfung im ersten Golfkrieg, dann aber vor allem durch die ersatzlose Zerschlagung der irakischen Institutionen im zweiten Golfkrieg, welche der Al Kaida und später dem Islamischen Staat den Auftritt in dieser Region ebnete, bis hin zur Ali­men­tie­rung der Rebellion gegen den syrischen Präsidenten Baschir Al Assad, welche so richtig Öl ins Feuer goss. Das ist eine Reihe von ebenso erstaunlichen wie unnötigen Fehlgriffen, welche sich eine Großmacht auch in Zeiten der elektronischen Überwachung und der Drohnen­an­griffe nicht leisten sollte. Jedenfalls wenn sie groß bleiben will.

Momentan lamentieren die USA vor allem über russische Hacker-Angriffe auf verschiedene ame­ri­ka­nische Computersysteme. Man kann davon ausgehen, dass es auch in den Vereinigten Staaten den einen oder anderen Programmierer gibt, welcher in der Lage wäre, solche Attacken in einem beliebigen befreundeten oder befeindeten Land durchzuführen. Man kann auch davon ausgehen, dass es grundsätzlich dumm wäre, so etwas im Ernst und im großen Maßstab durchzuführen. Grundsätzlich wird mit Garantie spioniert, was das Zeugs hält, aber in Sachen Attacken halten sich die großen Akteure mit Garantie zurück. Hier herrscht ebenso ein Gleichgewicht wie bei den Atombomben.

In Europa feiert der Nationalismus eine ordentliche Wiedergeburt. Grund dafür sind zum einen die zahlreichen Fehler bei der Konstruktion der Europäischen Union, die zum Teil durchaus unter­schied­lichen Charakter haben. Zum einen ist es das Bürokratie-Monster, welches die Menschen und Unternehmen in Europa zu erdrücken droht. Allerdings erweist sich dieses Monster in der Praxis als Schein-Riese. So riesig, übermächtig und schlimm ist die EU-Verwaltung gar nicht, wenn man mal von der Kardinalsünde absieht, dass das EU-Parlament nichts, die EU-Kommission aber alles zu sagen hat in diesem Konstrukt. Unabhängig davon eignet sich ein solcher Popanz für die Mitgliedstaaten ganz vorzüglich zum Betreiben von Innenpolitik. Dies ist einer der Hauptmotoren des Nationalismus.

Im Moment haben europäische oder meinetwegen pro-europäische Bewegungen keinerlei Chancen. Das wiederum steht im krassen Gegensatz zum Alltag der Menschen, übrigens nicht nur in Europa, sondern in der gesamten entwickelten Welt und darüber hinaus. Die Kommunikation erfolgt seit Langem grenzüberschreitend, und seit der Verbreitung des Internet ist sie nicht kontinental, sondern global. Überhaupt fliegen praktisch alle Menschen, deren Einkommen höher ist als Hartz IV, prak­tisch ungehindert und ungehemmt auf der ganzen Welt herum, weil die Flugpreise seit Jahren gera­dezu lümmelhaft tief sind. Aber zuhause bewegen sie sich im institutionellen Rahmen der natio­nalen Steuer- und Sozialversicherungssysteme, freuen und ärgern sich über die jeweils national oder sogar regional ausgerichteten Bildungssysteme mit komplett unterschiedlichen Bildungsgängen und Lehrmitteln. Alle behaupten sie, ihr jeweiliges System sei das beste, aber vor allem sträuben sie sich mit Händen und Füßen dagegen, Kompetenzen abzutreten an eine europäische Instanz, welche zahlreiche Probleme durch die schlichte Vereinheitlichung von Institutionen mit einem Federstrich lösen würde. All das erinnert mich an die Kleinstaaterei in Deutschland vor der Einigung im Reich im 18. und 19. Jahrhundert. Ein ordentlicher Blödsinn.

Aber es profitieren halt immer und unter allen Umständen die einen, beziehungsweise: Wir sind heute dank den immens gestiegenen Produktivkräften schon soweit, dass wir uns auch dies leisten können, die Wiederkehr des Nationalismus und den Verlust an vernünftigem, wenn auch nur aus Interessenspolitik vernünftigem Denken und Handeln.

Immerhin wissen wir, dass der neue Nationalismus von der Substanz her nicht zu vergleichen ist mit jenem, der Europa in zwei Weltkriege geführt hat, zum imperialistischen Ersten und zum fa­schistischen Zweiten Weltkrieg. Der Punkt ist der, dass sowohl der neue Nationalismus als auch verschiedene andere Erscheinungen nicht mehr die dominante politische Komponente der moder­nen Welt darstellen und diese Rolle auch nicht mehr erringen werden. Die Sphäre des Politischen ist ebenso mehrschichtig und dreidimensional geworden wie die Gesellschaft insgesamt und vor allem auch: wie das einzelne Individuum. Vor wenigen Jahrzehnten wäre ein Individuum unter der Last völlig widersprüchlicher Einsichten, Ansichten und Möglichkeiten noch kollabiert, wie sie das moderne Individuum unterdessen ganz selbstverständlich spazieren führt. Eben: Die Ausländer­hetze geht einher mit der völligen Selbstverständlichkeit zum Beispiel beim Konsum ausländischer Güter oder bei Reisen ins Ausland, aber sogar bei der Anerkennung der Tatsache, dass es unter den üblen Ausländern vor allem nette, gute und tüchtige Menschen gibt. Kein Problem, ein moderner Mensch hält so etwas im Kopfe aus, und das ist wohl auch der Grund dafür, dass die modernen Men­schen in Nordamerika den Schafseckel gewählt haben. Weitere können folgen, durchaus auch in Europa, beziehungsweise überhaupt haben die Italienerinnen und Italiener bekanntlich schon vor zwanzig Jahren mit dem ganzen Klamauk begonnen. Beziehungsweise steht zu vermuten, dass die Italiener mit solchen Verwirrungen schon seit den Zeiten der Antike gar nie richtig aufgehört haben, aber das geht jetzt zu weit.

Somit könnte man sagen, dass der moderne Mensch unter der italienischen Krankheit leidet, aber ein Teil der Phänomene gehen auf andere Ursachen zurück, eben zum Beispiel die erwähnten Vek­toren in der Europäischen Union, wobei ich hier einen wichtigen Faktor noch gar nicht erwähnt habe, nämlich eine gemeinsame Außenpolitik, wo möglich und realistischerweise sogar mit einem eigenen europäischen Heer, wo dann mit großer Wahrscheinlichkeit nicht Deutschland, sondern Frankreich federführend wäre. Man müsste blöd sein, wenn man behaupten täte, dass eine solche Außenpolitik überhaupt nicht existiert. Selbstverständlich werden diese Themen im Rahmen der Europäischen Union diskutiert und die entsprechenden Einsätze weltweit abgesprochen, und zwar nicht deswegen, weil die Außenbeauftragte Mongherini eine Italienerin ist, sondern weil das ganz selbstverständlich zum Alltag hinter verschlossenen Türen zählt. Wenn ich euch hier ab und zu etwas von Afrika erzähle, dann ist dies nur ein entfernter Abglanz davon, was man im Außen­minis­terium in Berlin als Tagesgeschäft betreibt. Bloß zur direkten und demokratischen Bevölkerung dringt davon nichts durch. Im Fall von Deutschland hängt dies mit Sicherheit mit den Traumata der Hitler-Vergangenheit zusammen, aber meiner Ansicht nach wird es langsam Zeit, die Öffentlichkeit beziehungsweise das breite Publikum auch in dieser Beziehung auf den neuesten Stand zu bringen. Genau solche Dinge, solche Themen, solche Verhältnisse illustrieren am besten, wie absurd der Na­tio­nalismus, egal in welcher Form, in der entwickelten Welt unterdessen geworden ist. Aber wenn man natürlich den einfachen Menschen weiterhin vorgaukelt, sie würden in einem Staat leben oder sie hätten tatsächlich eine Perspektive, in einem Staat zu leben, welcher seine eigenen Produkte in einer vollständigen Wertschöpfungskette selber erzeugt und seine Institutionen und vor allem seine Außenwirkung eigenmächtig zu organisieren vermöge, dann braucht man sich nicht zu wundern, wenn die Menschen ihre Einsicht in die Notwendigkeit aufgrund von völlig falschen Grundlagen tätigen.

Jetzt fliegt uns mit der Zeit auch noch die Medien-Landschaft um die Ohren, das heißt, ein jeder kann sich seine höchst persönliche eigene Lügenpresse zusammen stellen, was für eine gewisse Zeit für ein ziemliches Chaos sorgen wird. Im Laufe der Monate dürften sich dann aber wieder gewisse Eck­werte etablieren, und hier haben vermutlich Häuser und Titel mit einem gewissen Renommee und einer gewissen Wahrheits-Praxis einen ordentlichen Vorsprung. Es sei denn, das Geld macht auch hier das Geschäft, aber so viel Vertrauen habe ich denn doch noch in die Qualität der europä­i­schen Ausbildung, dass all der Promi- und Camps- und Casting-Unterhaltungsbrei zwar ein Mas­sen­phänomen darstellt, von dem anderseits aber alle wissen, dass er letztlich nicht die geringste Re­le­vanz hat. Wie es dagegen bei der Ent- oder Umpolung des sozialdemokratischen Medien­kon­sen­ses von sich geht, davon habe ich im Moment keine konkrete Ahnung. Ich weiß bloß, dass man diese Entwicklung durchaus von einer spaßigen Seite her nehmen kann. In den Vereinigten Staaten ist ein Clown Präsident, und bei uns steht eine Phase realer Absurditäten bevor. Ich, als alter Freund des Absurden, freue mich darauf.