"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Die Partei

ID 80796
 
AnhörenDownload
In den letzten Tagen bin ich gleich von zwei Menschen angepflaumt worden, welche sich ausgerechnet bei mir unflätig über die linken Schmarotzer beschwerten, die es sich im Staatsdienst oder in An­walts­kanzleien oder als Soziologinnen und Historikerinnen wohl ergehen ließen und jeglichen Bezug zur arbeitenden Bevölkerung verloren hätten.
Audio
11:49 min, 27 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 10.01.2017 / 13:35

Dateizugriffe: 2054

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Kultur, Arbeitswelt, Internationales, Wirtschaft/Soziales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 10.01.2017
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Der eine von ihnen fügte an, dass in Deutschland gerade mal zwei Frauen noch vernünftige Positionen vertreten würden, nämlich Frauke Petry und Sahra Wagenknecht. Nun habe ich nicht mehr gegen Frau Wagenknecht als nötig – ihre wirtschaftspolitischen Vorschläge verschwinden in meinen Augen hinter geblümten Ludwig-Erhardt-Vorhängen, und ihre Einschätzung Eurer Bundeskanzlerin ist allzu offensichtlich parteipolitisch beziehungsweise wahltaktisch gefärbt, als dass man sie ernst nehmen könnte. Insbesondere die Frage, welche Entscheide denn wäh­rend der Flüchtlingsinvasion eine allfällige Bundeskanzlerin Wagenknecht gefällt hätte, bleibt auf ewig unbeantwortbar, sodass sie munter dergleichen tun kann, als hätte sie inner­halb von Sekundenfrist griffige Kontrollmechanismen eingerichtet. Das ist einfach blöd, gehört aber wohl zum Geschäft, und insofern bin ich ihr auch nicht gram und halte sie für eine anständige Politikerin mit allen Vorteilen und Defiziten einer linken Herkunft. Was sie dagegen mit Frauke Petry zu tun haben soll, kann ich beim schlechtesten Willen nicht sagen, und auch die beiden Kollegen waren und sind nicht in der Lage, mir den plötzlichen Ausbruch ihres Res­sen­timents gegen domestizierte Linke und Sozialdemokraten zu erklären. Auch der Hinweis darauf, dass die Sozialdemokraten immerhin noch eine gewisse Nähe zu den Gewerkschaften pflegen, was nach wie vor Organisationen von ArbeiterInnen sind, nützt in solchen Fällen nichts. Das dumpfe Gefühl bricht sich Bahn, von, ja genau: von den Sozialdemokraten verraten worden zu sein, und das trifft bis zu einem gewissen Grad ja auch zu, indem die Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten in der Regel keine systemverändernden Ideen kultivieren oder gar in eine politische Realität umsetzen. Sie sind ganz einfach der politische Ausdruck der herrschenden Machtverhältnisse, wie ich an dieser Stelle seit Jahr und Tag zu sagen pflege.

Aber die beiden Jungs hielten den Salonlinken ja nicht einfach ihren Mangel an alternativen Projekten vor, sondern sie schäumten richtiggehend jenseits aller Raison. Der eine bezeich­nete sich zudem plötzlich als Marxist, und der andere mag als Individual-Anarchist durch­gehen, aber beides ist kein Grund, plötzlich allen Anstand über Bord zu werfen und sich den gesichts- und programmlosen Wutbürgern anzuschliessen. Es gilt: Man kann der Sozial­demo­kratie alles vorwerfen, was man ihr vorwirft, aber man muss es im Hinblick darauf tun, was denn konkret zu verändern wäre. Wenn die Reichen immer reicher werden und man etwas dagegen tun will, ist es zweifellos nicht eine gute Idee, sozialdemokratische Politik zu betrei­ben, denn diese unternimmt rein gar nichts gegen die Einkommens- und Vermögens­unter­schiede, das stimmt. Dagegen hat es die sozialdemokratische Politik geschafft, im unteren Bereich die Einkommensverhältnisse zu stabilisieren. Man kann sich fragen, ob dies nicht so oder so der Fall gewesen wäre, und nicht fragen muss man sich, sondern feststellen, dass Hartz IV auch im Jahr 2017 ein übler Streich ist, den man massiv nachbessern müsste. Wer tut dies? Welche Vorschläge zur Finanzierung legt er vor? – Das ist eine wichtige Frage, zu welcher man von Kühlerfiguren wie Frauke Petry niemals eine Antwort nicht kriegen wird.

Oder die Frage, wie man etwas unternehmen kann gegen die zunehmenden Unter­schie­de zwischen den ärmeren Bevölkerungsschichten und den reichen und reichsten, inklu­sive die Methoden der Geldsäcke, den eigenen Reichtum vor dem Fiskus zu verstecken. Nach meinen Beobachtungen ist so etwas nur auf internationaler Ebene zu organisieren. Ansätze dazu finden sich in Spurenelementen bei der EU, etwas mehr bei der OECD und zum Teil bei supranationalen Organisationen wie beim internationalen Arbeitsamt oder anderen UNO-Stellen. Aber früher einmal, geschätzte Hörerinnen und Hörer, gab es noch so etwas wie die internationale Arbeiter-Solidarität. Davon ist heute nichts mehr zu sehen, noch nicht mal mehr die Sozialistische Internationale ist heute mehr als eine Orga­nisation zum Schutz einiger Schur­ken aus Drittweltstaaten. Und dementsprechend gac­kerte auch der vermeintliche Mar­xist, dass die einzige Lösung für die anstehenden Pro­bleme in einem verstärkten Nationa­lis­mus liege. Selbstverständlich sagte er dies nicht ausdrücklich, aber als ich ihm steckte, dass die Bewegungs- und Nieder­las­sungs­freiheit grundsätzlich so etwas wie einen Bestandteil der Menschenrechte darstelle, da kriegte der fast einen Herzanfall. Derartige Ausrutscher hat sich der vernünftige Teil der Menschheit in den letzten 70 Jahren nicht mehr geleistet. Im Moment aber scheinen die Menschen gedanklich derart verlassen und verwaist zu sein, dass sie sich an solchen Versatzstücken halten wie die Biologiestudentinnen am Wurmfortsatz am Elefantenrüssel.

Herleiten kann ich den Blödsinn zur Not noch, nämlich eben aus dem Absterben der Erzählungen rund um die kollektive Identität, namentlich eben im Bereich der internationalen Arbeiterklasse. Die Arbeiter als solche sind ja ebenfalls weitgehend verschwunden, weg rationalisiert durch Roboter oder verschwunden, weil die entsprechenden Tätigkeiten ins Ausland abgewandert sind. Der Großteil der ehemaligen Arbeiterklasse übt heute besser qualifizierte Tätigkeiten aus, und gleichzeitig sind einige Teile der früheren Akademikerklasse eindeutig proletarisiert worden. All dies müsste eigentlich zu einer dramatischen Zunahme des Mittelstandes führen, aber es ist offensichtlich ein Mittelstand ohne Ideologie und Selbst­bewusstsein und dementsprechend auch ohne eigene Schlagkraft. In jenem Bereich, da sich die kollektive Identität außerhalb der Klassenfrage organisiert, stand aus Sicht der EU-Propagandisten immerhin als Ersatz das vereinigte Europa bereit; allerdings haben allzu viele Gruppen und Klüngel mit den Abneigungen gegen dieses Konstrukt ihre eigenen Interessen befördert, als dass daraus jemals eine überzeugende Alternative hätte werden können. In der Tat: Kümmert es die BewohnerInnen Deutschlands, wenn sich die BewohnerInnen Frank­reichs Sorgen machen über ihre politische und wirtschaftliche Zukunft? – Die Antwort ist klar und Nein. Vielmehr haben die Bewohnerinnen Deutschlands allenfalls ein bisschen ein schlechtes Gewissen, weil sie vermuten, dass der Wirtschaftsaufschwung, den Deutschland in den letzten Jahren erlebt hat, möglicherweise und zu Teilen zulasten der anderen EU-Mit­gliedländer erfolgt sein könnte; aber grundsätzlich ist es ihnen wurscht. Und auf ihre Art haben sie ja auch Recht. Wie sollte es ihnen nicht wurscht sein, wenn zwischen den beiden Ländern noch derart blödsinnig große Unterschiede in der institutionellen Organisation bestehen? Das reicht von den Landwirtschaftssubventionen über das Steuersystem bis hin zu den Sozialversicherungen. In einem richtigen, geeinten Europa wären die Sorgen und Nöte Frankreichs auch die Sorgen und Nöte Deutschlands, soviel steht fest, und wir sind davon heute weiter entfernt denn je. Das ist eine verdammte Schande. Jede politische Partei auf dem ganzen Kontinent, welche kein glühendes Bekenntnis zur Vereinheitlichung der Standards und Institutionen auf dem Kontinent im Programm aufweist, müsste geradeaus zur Hölle fahren. Und dem glühenden Bekenntnis müssten eben immer auch ebenso glühende Taten folgen.

Stattdessen feiert der Nationalismus seine Auferstehung, wenn vielleicht auch nur auf einer peripheren Kommunikationsschicht, aber es reicht doch schon aus, um die atavistische Dumm­heit bei zahlreichen Menschen durchbrechen zu lassen, die man bis anhin als durchaus normal eingeschätzt hat.

Europa ist sicher eine Dimension, welche gegenüber dem alten Nationalismus Vorteile hat. Daran muss gearbeitet werden, nicht zuletzt deshalb, weil europäische Interessensgruppen, zum Beispiel ein fortschrittlicher und gut ausgebildeter proletarischer Mittelstand viel die größeren Aussichten auf echte Verbesserungen bei der Verteilung des Reichtums haben. Die Milliardärinnen und Milliarden mögen ihre Besitztümer heute in Steuerparadiesen wie der Schweiz oder auf den Kanalinseln in Sicherheit bringen, aber wenn mal die Besitzverhältnisse an den Produktionsmitteln auf dem ganzen Kontinent in Griffweite einer einheitlichen politischen fortschrittlichen Organisation lägen, könnte man ganz anders Zugriff nehmen auf die Unternehmenspolitik. Ich spreche hier übrigens von Mischformen zwischen Partei und Gewerkschaft, wie dies schon lange bekannt ist, allerdings heute schon lange nicht mehr praktiziert wird. Gerade in Frankreich sind die Gewerkschaften zum Teil zu üblen Privilegien­vereinigungen geworden, welche sich in der aktuellen Form keinen Tag lang halten könnten, wenn die Grenzen fallen täten. Das ist ebenfalls ein Bestandteil der Wahrheit. Diese verknöcherten Organisationen müssen ebenfalls beseitigt werden, und an ihre Stelle müssen Organisationen treten, welche ein viel breiteres Verständnis der Interessenvertretung haben und ihren Mitgliedern, ich wiederhole mich: den fortschrittlichen, gut ausgebildeten proletarischen Mittelstand nicht nur ein ideologisches Zuhause anbieten, sondern auch an echten Perspektiven arbeiten, wie denn die Zukunft in einer absolut armutsfreien Gesellschaft auszusehen hätte. Um auf mein Steckenpferd zurückzukommen: das bedingungslose Grundeinkommen wäre dabei nur noch eine äußerst geringe, fast unbedeutende Teilmenge.

Gut ausgebildet – das ist eine Forderung, die so alt ist wie die Konstituierung der Arbeiterklasse als solche. Sie ist heute aktueller denn je. Wenn ich mir die Reaktion der beiden Berserker anschaue, muss ich schließen, dass die Bildung und die Ausbildung massiv nachgelassen haben. Also, an die Säcke, und in Zukunft auch mit Weiterbildungskursen für Leute in fortgeschrittenem Alter, damit sie nicht in Dummheit versumpfen.

Fortschrittlich: Denkt doch nur mal ansatzweise darüber nach, welches Potenzial bereits heute voll ausgebaut für sämtliche Menschen der gesamten entwickelten Welt bereit stünde. Man braucht nur noch ein paar Details an den Verteilungsfragen zu lösen, dann hat man die gesamte Welt der freien Gestaltung des eigenen Lebens vor sich, und zwar wirklich im breiten und gesellschaftlichen Maßstab. Und was machen wir bis jetzt daraus? Die Bevölkerung flucht über die Ausländerinnen und Ausländer, welche ihnen die Butter vom Brot fressen und sie schleichend islamisieren. Was für ein schleichender, nein, galoppierender und himmelschreiender Blödsinn.

Von einem proletarischen Mittelstand spreche ich insofern, als ich nach wie vor überzeugt bin davon, dass die gesellschaftliche Arbeit zu erledigen ist von Menschen, welche diese Arbeiten erledigen, egal, ob es sich um die Kanalisation oder um die IT-Netze handelt. Das können nicht alles Unternehmer sein, welche in zehn Jahren zu Milliardären werden. Das mag es auch geben, und manchmal handelt es sich sogar um Menschen, welche das verdient haben. Fähige Menschen soll man auf jeden Fall fördern, und wenn sie dickes Geld machen mit ihren Fähigkeiten, umso besser. Andere Menschen werden nicht über jene zusätzlichen Talente verfügen, welche es benötigt, um aus den persönlichen Fähigkeiten Milliarden zu schlagen, und dies wird die Mehrheit sein, und dieser Mehrheit muss man ebenfalls jenes Auskommen sichern, das ihnen zusteht, das allen zusteht, im Grunde genommen. Es kommt gar nicht drauf an, ob sie als unselbständig Beschäftigte arbeiten oder als Freelancer, das spielt heute nicht mehr eine so große Rolle, und in der Regel können auch unsichere Vertragsformen abgesichert werden durch einen festen Sockel, und hier sind wir wieder beim Grundeinkommen. Aber auf jeden Fall: Diese Organisation muss man schaffen und die Partei, welcher ihr die notwendigen ideologischen und programmatischen und propagandistischen Mittel zuhält, gleich hintendrein.

Und eines noch: Bei aller Sympathie wird diese Partei nicht DIE PARTEI sein, der scherzpolitische Arm der Satirezeitschrift Titanic. Die Zeit der Satire ist vorbei.

Kommentare
10.01.2017 / 17:59 Monika, bermuda.funk - Freies Radio Rhein-Neckar
bermuda.funk
lief in sonar am 10.1.. Danke!
 
11.01.2017 / 09:44 matthieu, Radio Dreyeckland, Freiburg
gesendet im MoRa am 11.1.
danke