"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Mauern und Meere

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In einem Interview mit der Frankfurter Historikerin Barbara Lüthi über die US-Immigrations­politik lese ich folgende Passage: «Schon unter Obama und davor haben die verschärften Grenzkontrollen die Todesraten hochschnellen lassen, weil die Migranten in die unerträglich heiße und unwägbare Wüste ausweichen mussten. Die Militarisierung hat die Verletzlichkeit der Migranten erhöht, und ein weiterer Ausbau der Mauer würde sie mit Sicherheit weiter erhöhen. Zu kommen versuchen werden die Leute sowieso.»
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10:03 min, 23 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 07.02.2017 / 15:42

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Kultur, Jugend, Arbeitswelt, Internationales, Wirtschaft/Soziales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 07.02.2017
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Da haben wir das Dilemma in seiner ganzen Pracht. Aus rein recht­licher Sicht könnte man ebenso argumentieren, dass die Besitzerinnen von Eigenheimen die Ver­letzlichkeit der Diebe erhöhen durch immer stärkere Sicherheitsmaßnahmen. Es handelt sich bei den Migrantinnen und Migranten aus dem Großraum Mexiko eben nicht um irgendwelche Mi­gran­ten, sondern um illegale Migranten. Ob die US-amerikanischen Gesetze zur Migration beziehungs­weise zur Immigration gut oder schlecht sind, ist ein anderes Kapitel, aber zunächst soll man ein­fach nicht unterstellen, dass die Vereinigten Staaten von Amerika den illegalen Einwanderern aus humanitären Gründen eine Autobahn errichten sollen und sie nach dem Grenzübertritt mit einem Kapital von zwanzigtausend US-Dollar pro Person ausstatten, während die legalen Ein­wan­de­re­rinnen für die Hälfte des Mindestlohns in Santa Monica Toiletten putzen dürfen. So geht das nicht mit der Logik des Gesetzes.

Den Hinweis auf die bindende Kraft von Gesetzen halte ich nicht für verwerflich, sondern für elementar. Ohne Gesetz kommt kein Land aus und keine Gesellschaft. Im Migrationskontext wird die Lage etwas schwierig, weil die Gesetze pro Land gemacht werden, während die Migration die Ländergrenzen per Definition überschreitet. Man kann versuchen, auf der internationalen Ebene höhere oder allgemeine Grundsätze geltend zu machen, die Menschenrechte zum Beispiel, aber wenn wir in den Menschenrechten herum blättern, so steht dort nirgends, dass jeder Einwohner aus Mexiko das Recht hat, in die Vereinigten Staaten einzuwandern. Wenn die Mexikanerinnen und Mexikaner dies halt gegen geltendes Recht versuchen, dann sind die Risiken, welche sie dabei eingehen, tatsächlich voll und ganz ihre eigenen. Den Amis kann man höchstens vorwerfen, dass sie Gesetze zur Regelung der Immigration erlassen haben, aber mal im Ernst: Ohne solche Gesetze gibt es keinen Staat.

In Europa war man vor zwanzig Jahren der Auffassung, dass die Zeit reif sei für die Aufhebung der entspre­chen­den nationalen Einschränkungen. Soweit ich das beurteilen kann, war diese Auffassung nicht falsch. Man hat damals in Kauf genommen, dass ein bestimmter Anteil von BewohnerInnen aus den ärmeren Ländern ihr Glück in den reicheren Ländern suchen würde. Italien zum Beispiel war für längere Zeit eine Traumdestination für die Rumäninnen und Rumänen, und die Polinnen und Polen sind nach Deutschland und Großbritannien migriert, ohne dass die Länder und Gesell­schaf­ten geradewegs kollabiert sind. Die Engländer haben nun allerdings genug davon und schlei­chen sich aufs Meer hinaus; ansonsten sind die Gesellschaften meiner Ansicht nach erstaunlich ruhig und stabil geblieben. Immerhin kann man sich ungefähr ausmalen, welche Probleme entstehen können, wenn die EU-Mitgliedstaaten die Personenfreizügigkeit mit jeweils eigenen Gesetzes­ap­pa­­ra­ten in den Griff zu kriegen versuchen. Zunächst regelt auf jeden Fall der Arbeitsmarkt die drängendsten Fragen, aber im Anhang kommen dann sofort die Fragen der sozialen Sicherung. Da lebt die EU nach wie vor auf einer Baustelle.

Dass aber die Europäer nicht wie die Amerikaner eine Mauer bauen im Süden, sondern ein Meer ausheben, um die Migrantinnen fernzuhalten, das ist nichts als verständlich. Grundsätzlich sind bekanntlich ausreichend Transportkapazitäten vorhanden, um jährlich um die 100 Millionen Afrikanerinnen und Afrikaner nach Europa einzuführen, und ungefähr soviel, stelle ich mir, vor, würden es liebend gerne versuchen, weil nämlich das Leben in Europa eine ganz andere Qualität aufweist, wie sie aus dem Fernsehen und vor allem aus dem Internet und von den Berichten ihrer Verwandten und Bekannten über die Mobiltelefonie wissen. So etwas kann Europa nicht verkraften, oder sagen wir es korrekt: Es kann es nicht verkraften, ohne seine Strukturen aufs Spiel zu setzen, und ich spreche hier von den Errungenschaften, nicht von den Mängeln, in erster Linie eben von der sozialen Sicherung, wie mangelhaft die auch immer ausgestattet sein mag. Nein, Grenzen bedin­gungs­los öffnen ist keine Option. Also muss man sich über die Bedingungen und über die Defi­ni­tionen unterhalten, und man muss sich in erster Linie Gedanken machen darüber, wie man die Lage in den Ursprungsländern verbessert, und zwar möglichst schnell.

Im Schatten der Migrationsdebatte geschieht ja schon recht vieles, sowohl in Lateinamerika als auch in Afrika und namentlich mit den ver­schie­de­nen Investitionen von China, aber auch die ehemaligen Kolonialmächte sind durchaus nicht passiv. Selbstverständlich fallen bei diesen Initia­tiven zahlreiche oder sogar zahllose Verstöße gegen alle möglichen Sorten von Kodizes an, von der simplen Bestechung bis hin zu Umwelt­skandalen und so weiter. Es wäre sicher sehr schön, wenn all diese Fremdinvestitionen nach dem Knigge des großen zivilisierten Investors abgewickelt werden könnten, und ich gehe davon aus, dass die Investoren selber dies auch sehr gerne täten, denn da wären die Ausfallgefahren kleiner. Aber die Realität ist eine andere, und wenn man am Axiom festhält, dass der wirtschaftliche Aufbau letztlich der nachhaltigste Aufbau ist, dann muss man hier einfach Abstriche machen. Was ja nicht heißt, dass in Zukunft jede Kritik am entsprechenden Gebaren verboten wäre, bewahre. Aber man muss die Relationen im Auge behalten.

Und die Antwort auf die Migrationsfrage kann weder grundsätzlich noch praktisch jene sein, dass man die Grenzen radikal öffnet. Dies würde ein echtes fremdenfeindliches und nationalistisches Spektakel provozieren, gegenüber dem sich der aktuell grassierende Nationalismus wie pure Nächstenliebe ausnehmen täte. Grundsatzbekenntnisse helfen hier nicht weit. Selbstverständlich ist kein Mensch illegal, wie der schöne Slogan heißt, aber Gesetze gibt es dennoch, im Interesse aller Beteiligten, und es gibt auch Gesetze, welche die Einreise und den Aufenthalt regeln. Dieser Bereich von Gesetzen kann erst zu dem Zeitpunkt wegfallen, in dem auf der ganzen Welt gleiche, ähnliche, vergleichbare Wohlstandsniveaus und staatliche Organisationsformen herrschen.

Heißt in der Praxis dann vermutlich nichts anderes als in Europa ein möglichst großzügiges System von Green Cards einzuführen und Sorge tragen dazu, dass die Ausbildung und insbesondere die Universitäten über die Grenzen und Kontinente hinweg abgeglichen werden. Zu diesem Thema hat Frau Lüthi noch eine weitere Aussage getätigt, welche ich bemerkenswert fand, nämlich dass Chi­nesen und Japaner nach massiven Zuwanderungsbarrieren im 19. Jahrhundert und auch in der ersten Hälfte des zwanzigsten seit 1965 nicht nur in größeren Mengen nach Amerika strömten, sondern dass sie sich auch auf der ökonomischen Leiter hocharbeiteten, «ganz anders als Mexi­kaner, die als “low skilled” galten und auch zum größten Teil bis heute noch immer gelten. Wenn man den ameri­ka­ni­schen Arbeitsmarkt betrachtet, die Universitätsabschlüsse, dann tauchen viele Chinesen weit oben in den Statistiken auf. Mexikaner sind dort jedoch kaum zu finden.» Soweit Barbara Lüthi. Ange­sichts der Bedeutung der Ausbildung im modernen Leben stellen sich hier zahlreiche Fragen. Im pazifischen Raum, namentlich in Japan, China und Südkorea, ist offensichtlich die Bildung zu einem der wichtigsten Werte für die gesamte Gesellschaft aufgerückt. Weshalb dies in Mexiko und in weiteren Teilen Lateinamerikas nicht so ist, müsste ebenfalls Gegenstand einer Grundsatzdebatte sein. Planung und Absicht kann nicht dahinter stecken, einmal abgesehen davon, dass die mexi­ka­nischen Universitäten zum Teil ganz ansehnliche Ergebnisse produzieren. Und noch abgesehener davon muss man spätestens seit den Wahlen im letzten Jahr das Bildungsniveau in den Vereinigten Staaten selber ernsthaft in Frage stellen, aber dies führt jetzt zu weit, obwohl auch hier einige Pro­ble­me der landesinternen Migration zu diskutieren wären: Weshalb gibt es innerhalb der Ver­ei­nig­ten Staaten keine größere Wanderungsbewegung aus den ehemaligen Industriestaaten an den Gro­ßen Seen in Richtung Süden, wo offenbar die Arbeitsplätze wie Sand am Meer herum­liegen? – Selbst­verständlich sind die schlecht bezahlt, aber sie ernähren offenbar doch ihren Mexikaner, wes­halb sollten sie denn nicht einen US-Amerikaner ernähren? – Da kommt eine ganze Argumenta­tions­maschine ins Rattern, und davor will ich nun sofort entfleuchen, nachdem ich das Thema erst angestoßen habe.

Abgesehen davon wäre die andere Idee vielleicht gar nicht so blöde, wie sie auf Anhieb tönt, nämlich dass man den mexikanischen Hereinspazierern an der Grenze tatsächlich einen Kapital­grundstock in die Hand drückt. Unter Umständen könnte daraus etwas Unerwartetes, wo nicht Unerhofftes passieren, immer gesetzt den Fall, dieses Grundkapital wird nicht sofort in Whisky umgewandelt. Dafür bräuchte es dann wieder eigene Gesetze.

Während sich also kluge Köpfe wie ich selber Gedanken machen über die Zuwanderung und unter anderem auf so schlaue Ideen kommen wie jene, dass die Vollautomatisierung unterdessen so weit gediehen ist, dass man sich wieder einen wirtschaftlichen Nationalismus auf ihrer Grundlage leisten kann, während wir also vor uns hin murmeln, ereignet sich die Realität weiter und munter vor sich hin, wie dies eine Erhebung von Bauer Media bei den 12- bis 19-jährigen Leserinnen von Bravo Girl zeigt. Sie haben ihre Kosmetik-Favoriten aus 40 Produkten gewählt, und dabei gewannen die Marken Maybelline New York mit «The Colossal Spider Effect», Kategorie Make-up, Labello mit «Lip Butter Red», Kategorie Gesichtspflege, Garnier mit «Wahre Schätze Sanfte Hafermilch»-Maske, Kategorie Haare, Eos mit «Berry Blossom»-Handcreme, Kategorie Körperpflege, Babyliss mit «Curl Secret», Kategorie Tools und Ariana Grande «Sweet Like Candy», Kategorie Duft. Die Sieger wurden mit dem Gartenhag-loveit-Award 2016 ausgezeichnet. Und das erinnert mich wiederum daran, dass ich mich schon länger frage, was eigentlich Hayden Panettiere macht. Aber davon ein anderes Mal.