"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Das Kalifat

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Jahrelang hat man den Türkerer misstrauisch beobachtet, zahlreiche verdächtige Vermutungen in ihn investiert, vom Gammelfleisch im Kebap bis hin zum Kopftuchverdacht bei den Frauen ...
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10:10 min, 23 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 14.03.2017 / 11:57

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Kultur, Politik/Info, Religion, Arbeitswelt, Internationales, Wirtschaft/Soziales, Andere
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 14.03.2017
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
... nach den Italienern, Spaniern, Portugiesen und Jugoslawen war der Türke als Nummer fünf bei der Einwanderung die erste Nummer mit einem Moslemerer-Hintergrund, aber irgendwann hat man sich an den Türkerer gewöhnt, so, wie man sich auch an die Niederbayern und Oberpfälzer gewöhnt hat, und irgendwann wurde er sogar zum Vorzeigeeinwanderer, es wurden schicke und hippe Filme gedreht über den gar nicht mehr so heftigen Zusammenprall der osmanischen und der abend­län­di­schen Kultur, gleichzeitig wurde es schick, hipp und vor allem günstig, im Sommer die fantas­ti­schen Badestrände Kleinasiens zu besiedeln, der Peter-Sohn des ehemaligen Bundeskanzlers Helmuth Kohl heiratete die Tochter eines türkischen, und hier kann man einsetzen, was man will: Mogul, Milliardär oder Bankers, kurz, die Türkei und Deutschland, das war ein richtiges Traumpaar. Und jetzt? Eine veritable Luftschlacht ist im Gange, obwohl die beiden Länder noch nicht mal eine gemeinsame Grenze haben.

Sicher ist es nützlich, sich immer und immer wieder die Lage der Türkei vor Augen zu führen und dabei in erster Linie zu beachten, dass sich niemand, weder die Türkei noch Deutschland noch wer auch immer, eine klare und konsequente Linie leisten kann. Die Türkei hat im Süden ein mehr­schich­tiges Problem mit Kurden, Syrern, dem Islamischen Staat, den Amerikanern und seit ein paar Monaten auch mit den Russen. Lavieren ist in diesem Kontext sicher die verständliche Lösung, und dementsprechend hat die Türkei versucht, sich mit dem Islamischen Staat zu arrangieren, solange der eine ernstzunehmende Macht im Irak und in Syrien darstellte. Sie hat sich gegen die syrische Regierung gestellt, vermutlich in erster Linie, um ihre Nato-Partner ruhig zu stellen. Im Umgang mit dem Iran hat sich wohl noch keine definitive Linie herausgeschält, die Armenier und die Grie­chen sind seit 100 Jahren Erzfeinde der Türkei, wobei im mit Armenien ebenfalls im Dauer­konflikt liegenden Aserbaidschan auch nicht immer alles nach dem Geschmack der türkischen Regierung verläuft. Kurz: Das Land Türkei befindet sich in einer, politisch und kulturell tektonisch ziemlich bewegten Zone. Unter solchen Umständen ist Stabilität im Inneren schlicht unterlässlich.

Ich würde die Türkei von den Grundlagen her als stabiles Land einschätzen. Es gibt einen Konflikt zwischen konservativen Kräften und Modernisierern, aber diesen Konflikt gibt es überall. In der Türkei weiß man nicht immer so genau, wer zu den Bewahrern zählt und wer zu den Erneuerern, aber auch dies ist nichts spezifisch Türkisches. Wirkliche Probleme waren lange nur im Verhältnis zu den Kurden erkennbar, wo aber justament unser Erdogan bis vor zehn Jahren recht erfolgreich auf Annäherung und Lockerung setzte. Damals gab es allerdings den Krieg in Syrien noch nicht, aber der dürfte kaum den gesamten Aufruhr erklären, in dem sich das Land jetzt befindet. Man weiß nur, dass sich der Erdogan seit mehreren Jahren um die Einrichtung eines neuen Sultanats mit ihm an der Spitze bemüht. Vom Rest weiß man nicht sonderlich viel, zum Beispiel von diesem famosen gescheiterten Militärputsch, den Erdogan ebenso gut selber inszeniert haben kann wie ein tat­säch­licher innenpolitischer Gegner, der sich allerdings erfolgreich versteckt hält; man weiß auch nicht, wie es um die famose Gülen-Bewegung steht, welche Erdogan mit aller Energie bekämpft und verfolgt; aus der Entfernung sieht das aber aus wie Schattenboxen oder indonesisches Marionetten­theater, denn auch hier ist bisher kein einziger Hinweis auf die tatsächliche Existenz einer Verschwörung aufgetaucht. Was umgekehrt nicht beweist, dass es überhaupt keine Verschwörung gegeben hat; der berühmte «tiefe Staat» existiert in der Türkei seit Menschengedenken, vielleicht ist er sogar ein Erbe der osmanischen Regierungstradition, so wie man in Wien am Laufmeter an die k.u.k.-Verwaltungsvergangenheit erinnert wird. Unter diesen Umständen bräuchte es auch nicht unbedingt die tatsächliche Gülen-Bewegung, sie wäre in diesem Fall einfach der Name für ein Phänomen, das Erdogan tatsächlich bedroht, sei es als normaler Regierungs- oder Staatschef oder vor allem bei seinem Versuch, auf demokratischem Weg ein neues Sultanat einzurichten. – Was heißt da Sultanat – ich will es aus aktuellem Anlass präziser mit Kalifat bezeichnen. Was der Erdogan da im Moment an Faschismus-Vorwürfen rauslässt gegen Deutschland und die Nieder­lande und überhaupt, das ist eines Sultans nicht würdig.
Beiläufig stellt sich die Frage, ob Kalif Erdogan, der sich im Moment gebärdet wie ein durch­ge­knall­ter Esel, vielleicht demnächst eure Bundeskanzlerin als Hure und den niederländischen Minis­ter­präsidenten als Ziegenficker bezeichnen wird. Ich hätte es, meiner Treu, nicht für möglich ge­halten, dass die sozialen Medien beziehungsweise die schweigende Mehrheit derart ungefiltert ins Vokabular von führenden Politikern eindringen, wie dies bei der türkischen politischen Klasse im Moment zu beobachten ist. Was die bloß alle haben?

Wie auch immer: Man kann davon ausgehen, dass sich das Klima nach geschlagener Schlacht beziehungsweise gewonnener Abstimmung wieder mäßigen wird, und in der Zwischenzeit staunen die Beobachterinnen und Beobachter aus dem entfernten Westeuropa über die Kapriolen des Kalifen in spe, der über weite Strecken vor allem an einen Irrwisch denken lässt.

Zwischendurch mal eine andere Nachricht aus der Welt der Migration: In Genf haben der liberale Polizeidirektor Maudet und die ehemalige SP-Bundesrätin Ruth Dreifuss ein Projekt aufgesetzt, mit dem sie ein paar hundert Sans-Papiers regularisieren wollen. Es geht um Menschen ohne gültige Papiere, die sich schon seit längerer Zeit in der Stadt aufhalten, schwarz arbeiten und praktisch keine Rechte haben. Das wird nun geändert. Manchmal geht auch das, und wenn es in der Schweiz irgendwo geht, dann sicher in Genf.

Eine weitere Nachricht hat mich am Wochenende aus dem Kalifat Ungarn erreicht, und zwar geht es um die rechtsextreme Schlägerpartei Jobbik. Deren Führung hat sich offenbar zu einem Kurswechsel entschlossen, nachdem der amtierende Ministerpräsident Orban so weit nach rechts gedriftet ist, dass der Jobbik keine eigenständige rechtsextreme Betätigungsmöglichkeit mehr übrig gelassen hat. Nun macht die Jobbik-Führung auf liberal, weil sie sich sonst in Orbans Partei auflösen müsste. Es scheint sich um eine ähnliche Bewegung zu handeln wie sie seinerzeit bei den italienischen Neofaschisten unter Gianfranco Fini, als dieser plötzlich der einzige Politiker im ganzen Land war, der sich für eine offene Politik gegenüber den Flüchtlingen aussprach und Abstand nahm vom Rassismus seiner Parteigenossen. Es ist dann keine richtige Erfolgsgeschichte daraus geworden, und auch der Jobbik gebe ich keine größeren Chancen in der Mitte oder vielleicht in ein paar Jahren am linken äußeren Spektrum der Parteienlandschaft in Ungarn. Dagegen verblüfft mich doch sehr stark, wie sogar rechtsextreme Hosenbrunzer und erklärte Neofaschisten ihre Ideologie plötzlich vergessen, wenn sie sich keine Wahlchancen mehr ausrechnen bei der Bevölkerung. Man hat den Eindruck, als wären auch Ideologien heutzutage bloß noch Varianten einer Virtuellen Realität. So hatte ich mir dieses Spiel eigentlich nicht vorgestellt. Aber wenn die meinen, bitte, ich bin flexibel. Das einzige, was mich dabei stört, ist die Bevölkerung, welche offenbar mindestens in Ungarn Gefallen findet an diesem rechtsextremen Volkssport, sich selber einzubrunzen, alles aus dem volkseigenen Leib heraus zu erklären und alles auf den völkischen Magen-Darm-Trakt zu zentrieren. Man braucht gar keine Kriege anzuzetteln, um einzusehen, dass so etwas ganz und gar falsch ist. Man braucht sich nur ein durchschnittliches Mobiltelefon anzusehen, dessen Gebrauch man als ungarische Durchschnittsbevölkerung vermutlich einen substanziellen Anteil seiner Identität verdankt, um festzustellen, dass zu besagtem Mobiltelefon kein einziger Ungar auch nur einen Gedankenfetzen beigesteuert hat. Und noch wenn ein paar nationalungarische Ideen in irgendeinem Produkt stecken täten wie zum Beispiel im Szegediner Gulasch, wäre dies kein Beweis dafür, dass der Ungar und die Ungarin die besten und schönsten Übermenschen sind. Der einzige Mensch, der sich heutzutage wie ein Übermensch geriert, ist übrigens meines Wissens Cristiano Ronaldo auf dem Fußballplatz, aber das ist eine andere Geschichte. Und ebenfalls übrigens ist die Stadt Szeged eine der wenigen, welche tapfer Widerstand leistet gegen die nationalistische Verblödung im Kalifat Orban.

Nüchtern betrachtet muss man davon ausgehen, dass die Ungarinnen und Ungarn all dies genauso gut wissen wie wir alle anderen auch, dass mit anderen Worten ihre politische Aktion und Reaktion nicht viel mehr ist als die pure Verzweiflung darüber, dass es keinerlei Anzeichen für eine politische, soziale und wirtschaftliche Verbesserung der Lage in Ungarn gibt, schon gar nicht etwa unter Zuhilfenahme der Europäischen Union. Aber ist es denn so auswegslos, dass man auch noch das letzte verspielen muss, was einem verblieben ist, nämlich den Ruf? Lässt sich nicht irgendwo und irgendwie doch eine Bewegung zusammen nageln, welche die Einrichtung moderner Institutionen zum Ziel hat, beispielsweise?

Offenbar liegt hier ganz allgemein der Hund begraben. Europa sei eine Wertegemeinschaft, sagen die nationalen Rechten, und darüber hinaus wollen sie keinerlei Zusammenschlüsse. Wenn man ihnen vorschlägt, in Zukunft wieder unterschiedliche Maßeinheiten für Zeit, Länge und Gewicht je Land einzuführen, gehen sie aber auch nicht darauf ein. Und genau darum geht es, nicht um irgendwelche feuchten Werte, die für jeden wieder anders sind; Europa ist alles andere als eine Wertegemeinschaft, mit anderen Worten. Stattdessen gibt es nun mal nicht eine unbegrenzte Anzahl an Institutionen und Gesetzen, welche für die Modernisierung von Staat und Gesellschaft korrekt sind, sondern in der Regel gibt es ziemlich exakt eine Lösung. Europa braucht eine einzige Verfassung, ein Europaparlament, welches die Gesetze unterhalb dieser Verfassung beschließt, die entsprechende Gerichtsbarkeit sowie eine abgestufte Kompetenzordnung von der Kommune über die Kantone oder Departemente oder Bundesländer hinauf bis zur jeweiligen Nation und dann eben die gesamteuropäische Ebene, wobei diese Kompetenzen in einer möglichst effizienten Mischung zwischen Föderalismus und Zentralismus aufgeteilt werden sollen. Das kann man mit links am Reißbrett entwickeln und braucht sich keineswegs um etwaige Besonderheiten einzelner Mitgliedstaaten zu kümmern. Diese Sache ist wirklich einfach. Europa ist einfach. Dass derart viele Kräfte alles daran setzen, um die Realisierung dieser einfachen Sache zu verhindern, ist schon äußerst merkwürdig.