"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Napoleon der Vierte

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Aus geografischer, nicht aus neutraler Distanz muss ich mich der Einschätzung der meisten anderen Türkei-Korrespondenten anschließen, wonach die Stimmen beim Referendum über die Einführung eines Präsidialsystems ausgezählt waren, bevor die Urnen überhaupt geöffnet wurden ...
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10:44 min, 25 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 25.04.2017 / 11:53

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Kultur, Religion, Internationales, Wirtschaft/Soziales, Andere
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 25.04.2017
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
... und im Nachhinein bildet sich nun auch der Eindruck zur Gewissheit aus, wonach der gescheiterte Putsch vom letzten Jahr ein Manöver von Erdogan selber war, um sich absolute Handlungsfreiheit bei der Vorbereitung der alleinigen Machtübernahme zu verschaffen. Der Putsch erlaubte die Ausrufung des Ausnahmezustands, und dieser wiederum ermöglichte die Beseitigung aller möglichen Quellen organisierten Widerstands gegen die Verfassungsreform, mit welcher der Ausnahme- zum Normal­zustand wird. Was der Typ damit aber insgesamt bezweckt, bleibt ebenso Gegenstand purer Spekulation wie mein ganzer Vortrag zu diesem Thema. Aber auch Spekulationen können Spaß machen. So zum Beispiel die, dass die Türkei als nächsten Schritt den Austritt aus der Nato vollzieht, nachdem die ja ohnehin ein Instrument aus einer untergegangenen Zeit darstellt, wie verschiedene Fachleute weltweit feststellen. Anschließend übernimmt das Land direkt oder durch Assoziationsverträge jenen Teil Syriens, der von der absolut freien syrischen Armee gehalten wird.

Davon abgesehen kann so eine Diktatur ihre Vorteile, ja sogar Schönheit haben. Sie braucht durch­aus nicht jeden Tag Menschen zu verachten, das würde ich von dem Erdogan schon gar nicht be­haupten, der hat sicher nur das Beste für das Land im Sinn, insbesondere von dem Punkt an, da das Land ihm gehört und es somit auch das Beste für ihn ist. Von der Demokratie kann man so etwas nicht behaupten, da führen Interessenskonflikte und Positionskämpfe oft dazu, dass das Gesamt­inter­esse völlig aus den Augen verloren wird, es kommt in der Demokratie gerne zu vollkommenen Blockaden, wenn man nicht sogar behaupten will, dass die parlamentarische Demokratie der Inter­essensvertreter direkt und zwingend in die Blockade führt. In Frankreich ist dies jedenfalls der Stand der Dinge, wie man es im Wahlkampf auch oft genug zu hören bekommen hat, und mit den Parlamentswahlen vom 11. und 18. Juni wird sich kein Mückenseckel daran ändern. Staatspräsident Macron müsste, um seine Vorstellungen in die Praxis umzusetzen, direktemang den Weg von Erdogan gehen und das Parlament entmachten und sich als Napoleon der IV. zum Sultan krönen lassen.

Allerdings hat auch die politische Blockade ihre Schönheit, einmal abgesehen davon, dass sie sich stets in fantastische politische Diskurse kleidet, für welche es auch einmal einen Wettbewerb geben sollte, von der radikalen Linken über die radikale Mitte bis zur radikalen Rechten, sie versprechen alle immer das Gleiche, um dann, gesetzt der Fall, sie kämen an die Macht, allesamt nichts zu ändern, aber was sollten sie auch ändern am Sozialdemokratismus, bitte schön? Die Institutionen sind soweit gefestigt, die soziale Absicherung wird zwar in der Menge, aber nicht grundsätzlich in Frage gestellt, die Eliten werkeln vor sich hin und die Massen lassen sich massieren. Es besteht kein dringender Reformbedarf, mit Ausnahme jener Bereiche, wo die Zukunft beginnt in die Gegenwart hinein zu lappen und von denen ich hin und wieder spreche. Das Grundeinkommen, geschenkt, wobei sich dieses Thema im französischen Wahlkampf einmal mehr als Desideratum von Verlierern herausgestellt hat, aber dazu hoffentlich demnächst mehr und besseres; vor allem aber sollte auf der europäischen Ebene mal etwas von sich gehen, nämlich die Ausstattung von Parlament und Bevölkerung mit echter Macht, und jetzt halt doch demokratischer Macht, und im Zusammenhang damit und vor allem die konsequente, abschließende Vereinheitlichung von Steuern und Sozialsystemen, ganz im Gegensatz zu den Forderungen der Idioten von rechts, welche auf die Souveränität der Nationalstaaten pochen statt die bestmögliche Lösung flächendeckend zu postulieren. Bei den Befürworterinnen und Befürwortern der Europäischen Union umgekehrt hört man gegenwärtig immer wieder, dass das Erstarken der Rechtsnationalisten eine Lehre sein müsse für die europäischen Eliten. Einen Dreck wird es das, diese Gremien haben sich in dieser Form erschöpft beziehungsweise rangeln nur noch um einen möglichst maximalen Zugang zu den Fördertöpfen, die sie verwalten. Das wird eine schwierige Aufgabe, welche mindestens nach Schema iX nur von einer gesamteuropäischen Bewegung, welche die entsprechenden Ableger in den wesentlichen politischen Bewegungen der jeweiligen Mitgliedsländer ausbildet, erreicht werden kann. Es sei denn, es entstünde so etwas wie eine Europapartei mit jeweils nationalen Ablegern, aber einem zentralen europäischen Sitz in Brüssel oder Paris oder Berlin oder Madrid oder London oder gar in der neutralen Schweiz.

Tatsächlich übernimmt der Staat eine zentrale Rolle bei der Transformation von Zukunft in Gegenwart, namentlich bei den sozialen Sicherungssystemen, welche jene Menschen auffangen müssen, die aus dem alten System herauspurzeln, und davon wird es einige geben, so wie es schon in den letzten vierzig Jahren immer wieder Opfer der technologischen Revolutionen gegeben hat, die sich in der Zwischenzeit bereits ereignet haben. Also sollen mindestens in Europa die Staaten nicht untereinander in Konkurrenz treten, wie dies aktuell der Fall ist und in der hohen Politik eben grad als Reaktion auf die Rechtsnationalisten noch stärker betrieben wird, sondern Verein­heit­lichung muss das Ziel lauten, und zwar wie gesagt eine Vereinheitlichung, an welcher die Menschen in den Mitgliedstaaten auch partizipieren können. Ich würde hierin nicht eben eine einfache Aufgabe sehen, unterscheiden sich doch die Systeme zum Teil ganz krass voneinander, aber je schneller hier Lösungsvorschläge erarbeitet werden, warum denn nicht eben endlich von so einer Europapartei, desto rascher können sich die Menschen darauf einstellen.

Die Umverteilung des Reichtums muss in dieser Phase in den zweiten Rang zurückgestellt werden, aus dem einfachen Grund, weil sie allzu viele fortschrittliche politische Kräfte in einen nationalen Rahmen bindet, während die echte Umverteilung erst dann stattfinden kann, wenn man der reichen Säcke beziehungsweise der Kapitalien auch effektiv habhaft werden kann. In einem Gefüge, in dem in der Mitte immer noch eine neutrale und steuerprächtige Schweiz sitzt oder in welchem General Electric mit einem Federstrich 15 Milliarden Euro aus der Schweiz nach Ungarn und von da nach Holland verschieben kann, ist das zum Vornherein aussichtslos. Na gut, nicht ganz, an gewisse Teile kommt man schon heran, aber in der Substanz ist leider auch Umverteilung zu einem billigen Schlagwort geworden, das bloß die eigene Unfähigkeit oder den eigenen Unwillen kaschiert, etwas Konkretes zu tun.

So viel hierzu. Daneben kam ich nicht drum rum, ein paar Berichte zum Parteitag eurer AfD zu sehen und mich zu wundern, weshalb die Alice Weidel genau so ein Gesicht hat wie der Björn Höcke. Ist das dort Pflicht? Auch ihre Versuche, mal eine echte demagogische Rhetorik à la Hitler und Goebbels aufzusetzen, habe ich mit Verwunderung zur Kenntnis genommen, das ist ein bisschen eine Manie bei diesen Deutschtum-Lehrlingen, die meinen offenbar, das Brüllen gehöre dazu, ebenso wie anschließend das zustimmende Gejaule der Parteibasis, aber die Weidel kanns eindeutig nicht, die Frau muss noch ordentlich üben, sonst sind dann bald neben den Ambitionen innerhalb der AfD auch jene als Unternehmensberaterin im Eimer. Und überhaupt die AfD: Zwar hat der Obergauleiter Gauland offiziell Ruhe im Kartong angeordnet vor den Wahlen, aber so richtig glaubt niemand daran, dass das völkische Intrigieren nun blitzblank aufhört. Man fragt sich geradewegs, ob die AfD eigentlich bereits vom Bundesverfassungsschutz unterwandert ist.

In dem Zusammenhang übrigens doch noch der Hinweis, dass man den Adorno zwar durchaus kritisieren kann wegen verschiedener Sprüche wie zum Beispiel jenem, dass es kein richtiges Leben im falschen gebe, der halbe Generationen an fortschrittlichen Köpfen zur Einigelung in einer absolut unfruchtbaren Systemkritik veranlasst hat. Aber seine Bemerkungen zur Bereitschaft oder gar zum Wunsch, irgendeinem Demagogen oder irgendeiner Populistin zuzujubeln und im Verein mit den anderen Mitmenschen in der Masse begeistert «Ja, ja» oder «Nein, nein» zu schreien, die haben unglücklicherweise immer noch eine gewisse Aktualität und sind nicht zuletzt aus diesem Grunde richtig geblieben. Also, Mensch, der du irgendetwas auf deine Identität als Individuum hältst, nimm dich in acht und stimme niemals, hörst du: niemals etwas zu, dem soeben mehr als drei weitere Individuen zugestimmt haben. Das ist eine einfache Sicherheitsmaßnahme, da kann man gar nie schief gehen, es ist so etwas wie ein Sicherheitsgurte für den eigenen Verstand und, eben, die eigene Identität. Das erinnert mich übrigens an einen Artikel, den ich letzte Woche gelesen habe über einen Herrenklub in Kurdistan: Vorderhand sind es zwar nur zwei Herren, aber die haben doch mit einem stolzen Hipster-Bart, Anzug, Krawatte und Zigarre in die Kamera gegrinst und wollen nun in ganz Europa teure Produkte aus kurdischer Ziegenwolle verkaufen, in erster Linie aber so etwas wie ein Dandytum einführen im tiefen Kurdistan. Das gefällt mir ganz außerordentlich, das ist eine derart absurde Haltung in diesem Konflikt zwischen dem Türken-Esel und den Stammesclan-Eseln, dass ich mir wünschte, ich hätte eine Generalvertretung für diese Produkte und in erster Linie für diese Geisteshaltung. Englisch, nennt man das wohl, und hier ist eine englische Attitüde sicher so wunderbar wie nie und nirgends sonst in der Geschichte.

Was ich ebenfalls mit Verwunderung zur Kenntnis genommen habe, ist die Tatsache, dass bei euch in Mai dieses Jahres eine sogenannte Sozialwahl stattfindet. Ich wusste nicht, dass es so etwas gibt, und ich kann euch versichern, dass die direktdemokratische Schweiz keine solchen demokratischen Verfahren in der Sozialversicherung kennt. Nun gut, ich nehme an, dass die Kompetenzen dieser Organe beschränkt sind, indem die gesetzlichen Rahmenbedingungen im Parlament festgelegt werden und nicht in den Aufsichtsräten der verschiedenen Versicherungsträger. Weiter nehme ich an, dass auch hier die Realität der Kassenbücher ein größeres Gewicht hat als die programmati­schen Verlautbarungen der Kandidatinnen. Trotzdem finde ich das schon eine gelungene Veranstaltung, zu welcher ich euch hiermit gratuliere.

Und zum Schluss nicht die Lottozahlen für die nächste Woche, welche ich früher jeweils an dieser Stelle bekanntzugeben pflegte, sondern ein Spruch, den ich ebenfalls im Lügenpresse-Fernsehen aufgeschnappt habe am Schluss der Verkündung der Lottozahlen. Da sagte die Moderatorin nämlich wörtlich: «Nächste Woche gibt es wieder schöne neue Zahlen.» Sehr wahr.