"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Diverses

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Zu den unzähligen Dingen, die ich nicht begreife, zählen die Vorwürfe an den regierenden bra­silianischen Präsidenten, er sei korrupt. Das ist ungefähr gleich viel wert, wie wenn man einer Sportzeitung ankreidet, dass sie über Fußball berichtet.
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11:46 min, 27 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 06.06.2017 / 09:22

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Arbeitswelt, Internationales, Wirtschaft/Soziales, Andere
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 06.06.2017
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Selbstverständlich ist Temer korrupt, das wusste man schon, als er Dilma Rousseff stürzte. Der Präsident der brasilianischen sozial­demo­kratischen Partei Aécio Neves ist korrupt, aber selbstverständlich. Ignacio Lula da Silva, die Licht­figur der nuller Jahre in Brasilien, ist korrupt und hat die Korruption im ganzen Land erst so richtig in die Breite getragen. Immerhin verband Lula die Verteilung der Erdölmilliarden von Petrobras mit einer Beteiligung der einfachen Bevölkerung in der Form der Bolsa Familhal, abgesehen vom wirt­schaftlichen Aufschwung, den er zumindest nicht verhinderte und welcher den Lebens­standard breiter Bevölkerungsschichten in die Höhe schnellen ließ. Und er sorgte immerhin dafür, dass die praktisch einzige Person in der Politikerkaste, welche mit halbwegs sauberer Korruptionsweste dastand, zu seiner Nachfolgerin wurde, nämlich Dilma Rousseff. Gerade dies kostete sie letztlich das Amt, weil ihre Minister, ihre eigene Partei und schließlich das ganze Parlament, verkörpert durch den aktuellen Präsidenten Temer, eine Person einfach nicht gebrauchen konnte, deren Preis für die jeweiligen politischen Deals nie berechenbar war. Das ist in Brasilien ganz und gar system­widrig, so funktioniert dieses Land nicht, und wenn man eine andere Funktionsweise will, dann muss man Brasilien von Grund auf revolutionieren. Es ist aber in Brasilien keine Revolution in Sicht, weder eine kritische Masse an meuternden Bewohnerinnen und Bewohnern noch eine Bewegung, welche eine solche Revolution an- und durchführen könnte, inklusive ideologischem Überbau und mit präzisen Angaben zur Neuorganisation der brasilianischen Gesellschaft. Nein, mein Herr, in Brasilien gehört die Korruption zum Modus operandi.

Was will ich damit sagen: Dass die gesamte Politikerkaste in Brasilien eine Bande von korrupten Schweinehunden ist, natürlich, aber auch, dass sie die notwendigen Rahmenbedingungen darstellen, innerhalb derer die Entwicklung dieses Landes gegenwärtig vonstatten geht. Dazu gehört auch die anhaltend immense Kluft zwischen den reichsten Säcken im Land und der Durch­schnitts­be­völ­ke­rung, von den Armen ganz zu schweigen; die Wachstumsperspektiven gehören dazu, die im Moment etwas gedämpft sind im Erdölbereich, dafür in anderen Sektoren immer besser werden; es gehört der ganze Sack von Widersprüchen dazu zwischen anhaltendem Raubbau an der Natur und einer immer breiteren Schicht an gebildeten und aufgeklärten Menschen in der Mittelklasse und an den Universitäten, und so weiter und so fort. Wie gesagt: dass unter solchen Verhältnissen die Korruption blüht, kann letztlich nur jemanden erstaunen, die oder der eine völlig naive Sicht auf die Realitäten der Entwicklung hat. Immerhin ist Politik und Entwicklung in Brasilien noch etwas anderes als zum Beispiel in Frankreich, und dort kippen wir sozusagen am oberen Ende wieder hinaus. Im Moment ist dort gerade angesagt, die neue Bewegung von Emanuel Macron der moralischen Reinheitsprüfung zu unterziehen, und da gehen nicht alle Repräsentantinnen und Repräsentanten so makellos durch, wie es der Macron angekündigt hat. Einer von Macrons Ministern hatte eine Frau, ein anderer einen Sohn, ein dritter einen Vetter und wieder ein anderer den Kollegen einer Kusine. Irgendwelche Kleckse im Reinheft findet mindestens die Enthüllungs­zeitung Canard Enchaîné immer, wenns sein muss auch im Voraus, und hier frage ich mich bloß, worauf die Canard-Enchaînisierung der französischen Politik letztlich hinaus soll.

In den entwickelten Ländern gilt ja, wie ich hier immer wieder betone, dass es keine Unterschiede mehr gibt zwischen den Parteien, was die Sphäre des Politischen im klassischen Sinn etwas seltsam gestaltet. Die Parteien tun dergleichen, als würden sie sich auf ideologischer Ebene voneinander unter­scheiden, was nur bedeutet, dass der Liberalismus zur reinen Karnevalsfigur verkommen ist mit Apologeten, welche weder von Freiheit noch von Markt noch von Wirtschaft auch nur das geringste verstehen. Oder aber sie wollen sich moralisch hervortun gegenüber den anderen, so wie wir uns mit letzter Sicherheit und Genugtuung überlegen fühlen gegenüber Ländern wie zum Beispiel Brasilien. Die Verstöße gegen das moralische Schauspiel bilden das Hauptfutter für den Canard Enchaîné und ähnliche Zeitschriften, zum Beispiel den Espresso, und ich hoffe, dass diese Zeitungen und Zeitschriften noch lange ihre ausgezeichnete Arbeit vollbringen mögen, wenn sie auch insofern nicht viel nützt, als auch bei uns keinerlei Revolutionen direkt vor der Drehtür stehen. Nicht zuletzt dank diesen Medien ist die moralische Camouflage mehr oder weniger aufgeflogen, keine Partei ist mehr in der Lage, von sich zu behaupten, sie hätte keinen Dreck am Stecken, und die Wählerinnen und Wähler haben den Plot durchschaut und bleiben zu Hause. Es sei denn, und das ist immerhin auch eine interessante Erscheinung, weil sie trotz allem nach wie vor recht breite Bevölkerungskreise erfasst, es sei denn, dass die Wählerinnen und Wähler zu jenen zählen, welche in einem entlegenen Winkel ihres Weltbildes der Auffassung sind, dass der große Firlefanz halt doch irgendwie mit Demokratie und Aufklärung und Grundwerten etwas zu tun habe. Hat er ja auch, bloß sind diese Abläufe und Mechanismen schon längst zu Selbstverständlichkeiten ge­wor­den. Niemand stellt sie in Frage, auch die Allianz für Deutschland nicht und der Front National eben­so wenig. Und es besteht auch kein Hauch einer Gefahr des Rückfalls in den National­sozia­lis­mus. Dass der Nationalismus grassiert, ist zwar fürchterlich, aber es ist nur fürchterlich dumm, weil der Nationalismus zirka neunzig Prozent der bestehenden lebendigen Beziehungen auf der Welt schlicht und einfach negiert. Auch eine autoritäre Lichtgestalt, wie sie sich einfachere Gemüter angesichts der Unmöglichkeit sauberer Politik und sauberer Politikerinnen und Politiker gerne wünschen möchten, ist ganz und gar undenkbar geworden. Die Vereinigten Staaten von Amerika versuchen sich im Moment gerade mit einer Karikatur einer solchen Lichtgestalt, und was dabei heraus kommt, haben unterdessen alle gesehen.

Gewisse Leute behaupten, dass es auf der politischen Ebene Unterschiede gebe zwischen dem Norden und dem Süden, und hier spreche ich jetzt von Europa. Wenn man mal den Osten beiseite lässt mit seiner eigenen jüngeren Geschichte oder den Westen mit seinem Brexit, dann stellt man tatsächlich fest, dass in Skandinavien und in Deutschland das sozialdemokratische Modell mit recht hohen Moralstandards funktioniert, während Italien und Griechenland solche Kriterien gar nicht anwenden. Frankreich bildet eigene Standards aus mit einer Elite, welche sich mit der größten Selbstverständlichkeit aus allen Töpfen bedient, aber gleichzeitig ein republikanisches Unter­be­wusst­sein verinnerlicht hat. In Spanien gibt es den Nord-Standard ebenso wie den Süd-Standard, es gibt das Streben nach einer moralischen Regierung ebenso wie die Korruption als Form der Ver­tei­lung des Bruttoinlandproduktes. Aber mit oder ohne Moral herrschen eklatante Missverhältnisse, was Reichtum und Einflussmöglichkeiten angeht, bis hin zu den Bildungsmöglichkeiten.

Wir sind unter den aktuellen Umständen dazu verdammt, einfach nicht zu kriegen, was wir möch­ten: Gleichheit, Gerechtigkeit und eine saubere Politik mit möglichst einfachen und transparenten Abläufen. Geht alles nicht, aber es ist nicht einfach die Schuld von korrupten Politikerinnen und Politikern oder auf einer abstrakteren Ebene des Systems, sondern das hat damit zu tun, dass die Verhältnisse einen Grad an Komplexität erreicht haben, der in einer anderen Galaxie anzusiedeln ist als ein simples Weltbild, zum Beispiel nach dem Muster Lohnarbeit und Kapital oder Herrscher und Beherrschte und so weiter. Und es hat damit zu tun, dass wir in den entwickelten Ländern, aber zunehmend auch die Menschen in den Schwellenländern die Probleme der Existenzsicherung dauer­haft losgeworden sind. Gleichzeitig bilden genau diese Probleme nach wie vor das Herzstück jeglicher politischen Bewegung, die sich als fortschrittlich definiert, nämlich sozial. Das ist eigent­lich zum Schießen. Die Aus­ein­an­der­setzungen um Budgets und Milliardenaufträge finden in einer vollständig anderen Sphäre statt als die Alltagsrealität sämtlicher Arbeitnehmerinnen und Arbeit­neh­mer. Und wenn man sich im Alltag aus einem gewissen Grundtrieb heraus irgendwie kritisch verhalten will, dann muss man die Finger oftmals in Wunden legen, die man selber vorher aufreißt, Tierquälerei, Konsumentinnenschutz und alle Sorten von Allergien und Krebs erzeugenden Sub­stanzen.

Es ist verzwickt. Politik in Zeiten, in welchen die Ziele erreicht sind und die Prinzipien abgedankt haben, ist eine schwierige Sache. In dieser Situation erhält der Terror als Mischung aus Blood and Honour respektive Blut und Horror eine besondere Note. Er wird gegenwärtig mit einem Belag aus Religion überzogen und tritt an die Stelle der verschwundenen Ideologien, auf der einen Seite, mit den bekannten Zutaten aus dem Vokabular des Antiimperialisten, die wir auch bei den rechtsextremen Attentätern finden. Auf der anderen Seite bestätigt er gewisse atavistische Bedürfnisse im modernen Individuum; man möchte die Ärscher allesamt erschießen, abmurksen, vierteilen, nach Möglichkeit ohne Prozess, wie der Begriff «kurzen Prozess machen» korrekt zum Ausdruck bringt. Zum dritten kaschiert oder rechtfertigt der Terror eine zentrale Entwicklung im modernen Staat, nämlich die Totalüberwachung des modernen Individuums, welches sich so etwas lange Zeit überhaupt nicht vorstellen konnte und jetzt mit dem Terror die Notwendigkeit komplett einsieht. Zusammen mit der Anbindung jedes hintersten und letzten Persönchens auf dem ganzen Erdball ins Mobiltelefonienetz ist die digitale Kontrolle der Menschheit unterdessen so gut wie perfekt. – Abgesehen von der formalen Seite von Macht und Einfluss ist dies vielleicht die wichtigste Entwicklung der letzten zwanzig Jahre, die Totalorganisation sämtlicher Menschen via Mobiltelefonie respektive der Anwenderebenen mit Facebook und Instagram, gekoppelt mit den Angaben aus Big Data, welche vorderhand allerdings erst in den entwickelten Ländern vorliegen, im Gegensatz eben zur Mobiltelefonie selber.

Was die Terroristen selber angeht, welche Teenager nach einem Konzert in die Luft sprengen und so etwas offenbar noch als Bestandteil eines heiligen Krieges rechtfertigen, so steht mein Sinn allerdings tatsächlich nach Durchgreifen, soweit das möglich ist, ohne tragende Prinzipien des Rechtsstaates außer Kraft zu setzen. Wenn die Behörden schon überwachen und offenbar allein in England um die dreitausend potenzielle Attentäter im Visier haben, dann sehe ich nicht ein, weshalb man diese Personen nicht einmal einziehen sollte. Dafür bräuchte es entsprechende Infrastrukturen, wozu unter anderem auch unabhängige Rechtsbeistände gehören; sie müssten auf jeden Fall strikt vom bisherigen Strafvollzug getrennt sein, da dieser Strafvollzug offenbar das größte Reserve­becken für dumme Selbstmörder geworden ist, mindestens in Frankreich. Und ich sehe nicht ein, weshalb man nicht Schritte gegen radikale islamische Organisationen unternehmen sollte, denen man oftmals richtiggehend anmerkt, wie sie ihren, früher nannte man das klammheimlichen Stolz nur mit Mühe unterdrücken, wenn sie sich von ihren eigenen Djihadisten distanzieren. Und schließlich würde ich, aber das ist vielleicht schon etwas überschwänglich, sämtliche salafistischen und wahabitischen Organisationen unter staatliche Aufsicht stellen und darauf drängen, dass Saudiarabien in der bestehenden Form als Staat und gleichzeitig Hauptfinanzierungsquelle der islamistischen Bewegungen aller Arten zerschlagen wird. – Übrigens habe ich gelesen, dass Saudiarabien gegenwärtig Qatar den Prozess machen will von wegen Unterstützung des IS und Al Kaida in Jemen. Das ist ja allerliebst.