"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - America's Cup

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Wieder einmal wird der America's Cup ausgetragen, ein Wettbewerb der Spitzentechnologien im Segelsport.
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11:12 min, 26 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 20.06.2017 / 10:50

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Kultur, Sport, Internationales, Wirtschaft/Soziales, Andere
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 20.06.2017
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Nach dem Katamaran sind jetzt die Foils angesagt, versenkbare Tragflächen, welche es erlauben, das Schiff aus dem Wasser zu heben, sobald eine gewisse Geschwindigkeit erreicht ist, aber anderseits soll es nicht höher als 5000 Meter über Meer fliegen, nein, Quatsch, 80 Zentimeter sind es idealerweise, was bei hohem Wellengang passiert, weiß ich nicht. Die Schiffe verfügen über zwei Paare dieser Foils, eines für starken und eines für schwachen Wind. Zu den bisher bekannten Aufgaben der Skipperinnen und Skipper kommt neu die Berechnung der Windstärke hinzu mit den entsprechenden Anpassungen von Kurs und Dampf und der Entscheidung, welches Foil zu fahren ist und wie man es justieren soll. Laut der Sonntagsausgabe der Neuen Zürcher Zeitung gibt es dabei aktuell, nämlich auf den beiden Wettbewerbsteilnehmern Oracle aus den Vereinigten Staaten und Team New Zealand, zwei Systeme, ein elektronisches in Kombination mit den herkömmlichen Segel-Grindern und eines, das unablässig mit Muskelkraft angepasst wird. Und woher kommt nun diese Muskelkraft? Ich zitiere: «Das Team der Herausforderer – also das Team New Zealand – setzt Athleten auf fix montierten Velos ein, die bei den Manövern strampelnd Energie liefern.» Kurz: Moderne Wettbewerbs-Segelboote fliegen über dem Wasser mit zehn strampelnden Radfahrern drauf. Dieses Bild ist nicht nur überwältigend, das System bewährt sich auch in der Praxis. Neuseeland gewann die ersten Rennen des Cups mit Abstand. Und wir, die wir uns nicht weiter mit den Finessen der Technik zu beschäftigen brauchen, wir staunen über die Phänomene, nicht des Geistes, sondern des Sports: Radfahrer auf den Renn-Segelschiffen. Es erinnert an Schach-Boxen, man stellt sich vor, dass man für den Stabhochsprung noch den Speerwurf und den Dreisprung integriert und dann alles, selbstverständlich, auf ein Segelschiff packt, Fußball mit Damen-Tango, erneut aufs Segelschiff – die Welt ist schön.

Kürzlich habe ich jemanden, der etwas davon versteht, gefragt, ob man nicht endlich einmal auch die Automobile mit einem Chip versehen könne wie Katzen und Hunde, nachdem da ja ohnehin schon so viel Chip-Technologie drin steckt, dass sich ein durchschnittlicher Autofahrer Mühe geben muss, dass er noch selber die Hände zum Fenster raus strecken kann, wenn er links abbiegen will. So ein Chip wäre doch ganz bequem, die Polizei könnte ihre gesamten technischen Einrichtungen auf ein einziges Chiplesegerät abrüsten, fertig Radarkontrollen, Tempoverlauf im Verhältnis zur vorgeschriebenen Geschwindigkeit sauber registriert, es wäre nicht mehr eine Blackbox, sondern eine echte White Box, auf so einem Chip könnte man sogar die Automobil-Innenluft nach Alkohol­promille testen, was weiß denn ich alles von den Geräten. Die Antwort des Fachmannes war: Ja und Nein. Seit zirka zwei Jahren seien alle Automobile so ausgerüstet, dass der Hersteller jederzeit wisse, wo das Fahrzeug herumkurve und was sein Zustand ist. Damit seien nicht zuletzt die um­fang­reichen Garantieleistungen verbunden, beziehungsweise der Zwang, solche Garantieleistungen auch durch Vertragsgaragen erbringen zu lassen, was die Wertschöpfungskette auch im Automobil­bereich auf den Servicebereich verlängert respektive in diesem Bereich in klar regulierte Formen überführt; soll sich ja nicht etwa eine wilde Garage trauen, so einem durchschnittlichen Audi eine Zündapp-Kerze einzuschrauben. Und damit leistet diese Branche einen weiteren Beitrag zum The­ma individuelle Freiheit, freie Marktwirtschaft und so weiter und so fort. Jedenfalls haben die Auto­mobilhersteller nicht nur die Emissionswerte, sondern das gesamte Leben ihrer Produkte inklusive lückenloser Fahrtendokumentation vollständig im Griff. Die Schnittstelle zur Polizei funktioniert aber laut dem Fachmann noch nicht so hundertprozentig, da brauche es zuerst so etwas wie einen Telefonüberwachungs-Antrag der Staatsanwaltschaft, Gefahr im Verzug und inter­na­tio­naler Terrorismus und so, dann rücken die Automobilhersteller die Daten heraus.

Nur auf einen Schritt warte ich noch: dass auf dem Dach der Automobile Fahrräder montiert wer­den, auf denen Berufssportler für An- und Auftrieb sorgen. In den billigeren Fahrzeugklassen reichen Amateursportler aus, und für Dacias und Kias und sowieso für das ganze Fiat-Sortiment reichen auch Familienmitglieder aus, ich denke vor allem an die älteren Menschen, die sich vielleicht so ein Zubrot zu ihrer Rente verdienen können, während sie im frischen Fahrtwind das Leben von seiner schönen Seite zu schätzen lernen und vielleicht auch mal Gegenden kennen lernen, von denen sie bisher noch nicht einmal wussten, dass sie überhaupt existieren.

Dass sich aber das Automobil als solches neben dem Mobiltelephon zum Träger der lückenlosen Überwachung der Individuen im modernen Staat entwickelt, daran hatte ich bisher noch gar nicht gedacht, aber voilà: Es ist soweit, meine Damen und Herren, geschätzte Hörerinnen und Hörer, und falls ihr mal unüberwacht einen Ausflug machen möchtet, empfiehlt sich dann doch wieder die Pferdekutsche, denn zweifellos werden demnächst auch in den Fahrrädern jene Chips eingebaut, welche mit versicherungstechnischen beziehungsweise haftungsrechtlichen Argumenten erkennen, wer darauf herum fährt, ob die Bremsen richtig angezogen wurden vor dem Stoppsignal und dergleichen Dinge mehr. Sogar wenn die Fahrräder auf dem Dach festgezurrt sind.

Die Grünen fordern in ihrem Programm für die Bundestagswahlen das Aus für Neuwagen mit Verbrennungsmotoren bis im Jahr 2030. Da habe ich an und für sich nichts dagegen, aber für die Entwicklung der Menschheit ist in meinen Augen die, innert kürzester Zeit Realität gewordene Rundum-Überwachung, unter anderem mit dem Mittel des Automobils, sämtlicher Individuen ein viel drängender Programmpunkt. Ein Punkt übrigens, den man nicht mit einem einfachen Nein in die Tonne treten kann. Auch hier muss man sich um Einsicht in die Notwendigkeit bemühen. Aber es ist schon jetzt klar erkennbar, dass in Zukunft der Kampf des Individuums mit einem Anspruch darauf, ein solches Individuum zu sein, gegen die allgemeine Normierung, von der Masern-Impfpflicht über den Fahrradhelm bis am Schluss hinein in die Befolgung aller möglichen Auflagen, unter anderem aus dem Bereich Umweltschutz, dass der Kampf des Individuums gegen die staatliche und gesellschaftliche Normierung zum epischen Generalthema der ersten Hälfte des einundzwanzigsten Jahrhunderts wird.

Die ganzen Entwicklungen ermatten einen normalen Menschen mit der Zeit, und da ist es auch kein Wunder, dass sich auch für die Politik nicht immer die breiten Volksmassen interessieren. Die Wahlbeteiligung bei der zweiten Runde der Parlamentswahlen in Frankreich betrug nur noch 43%. Das soll der niedrigste Wert sein, der im Nachkriegsfrankreich je gemessen wurde. So oder so hat das Land eine eigene Form einer großen Koalition entwickelt, nämlich die explosionsartige Entstehung einer völlig neuen Partei, welche die solide Trägerschaft der sozialdemokratischen Po­litik der nächsten Jahre bilden soll. Erstaunt hat mich die Implosion der Sozialistischen Partei trotz­dem, denn ich ging davon aus, dass die Parteistrukturen im lokalen und regionalen Bereich einen ausreichenden Rückhalt für die Wahl einer ansehnlichen Delegation ins französische Parla­ment bil­den würden. Irrtum, sprach der Igel und sprang vom Kaktus, wie unser Lateinlehrer zu sagen pfleg­te. Dass die neue Partei von Emanuel Macron noch nicht überall oder möglicherweise noch über­haupt nirgends so recht weiß, was sie demnächst wollen wird, tut vorderhand nichts zur Sache. Etwas verblüfft bin ich, neben der Implosion des Parti Socialiste, auch von der nur hauchzarten Vertretung des Front National. Mein kurz- und mittelfristiges Gedächtnis sagt mir, dass sich verschiedene Kommentatorinnen und Kommentatoren noch vor wenigen Wochen vor einer umfassenden Machtergreifung der Rechtsextremen in Frankreich wähnten. Das muss auch ein lustiger Beruf sein, jener der Kommentiererinnen und Kommentierer, und im Grunde genommen weiß ich ja, wovon ich hier spreche, da ich ihn im Radio F.R.E.I. ebenfalls ausübe, wenn auch nur im Nebenamt. Also kommentiere ich jetzt halt, dass ich keine Ahnung habe, was das Parlament in den ersten Monaten seiner Tätigkeit unternehmen wird. Rund um die Arbeitsmarktreform wird es wohl eine kleinere oder größere Attacke auf die Gewerkschaften geben, was in Frankreich durchaus nicht unbedingt verdammenswert sein muss angesichts der zum Teil offenen Kastenstrukturen in diesem Arbeitsmarkt, welcher die Gewerkschaften eben nicht zu Arbeitnehmerinnenvertretern macht, sondern zu Wahrerinnen von Kastenprivilegien. Sie verhindern so selber ganz elementare Diskussionen wie zum Beispiel über die 35-Stunden-Woche, welche ja eigentlich die Technologie-Fortschritte institutionell auffangen sollte, unterdessen aber wie ein Klotz am Bein der französischen Entwicklungsfähigkeit aussieht. – Ich muss einräumen, dass ich dies nachplappere, weil mir grad nichts besseres in den Sinn kommt, ich meine auf jeden Fall, dass die Wirtschaft oder Industrie 4.0 scheinbar nichts am Hut hat mit Arbeitszeitregulierung, und das muss ja auch nicht unbedingt schlecht sein, wenn nämlich die Arbeitsbedingungen gut sind und die Ausgleichs­massnahmen für längere Arbeitszeiten ihre Wirkung tun. Aber wie gesagt: Ich kenne mich da nicht so genau aus.

Dagegen weiß ich, dass der französische Staat mit seiner Armee eine Invasion durchführen müsste, und zwar eine Invasion in den mittelalterlich dominierten Vorstädten, wo die Islamisten der saudiarabischen Sorte die Herrschaft über die Straße ausüben. Vor dieser Invasion müsste der Staat Ersatz-Wohnmöglichkeiten herstellen, das können durchaus Provisorien sein, in welchen aber ein striktes Verbot wahabitischer Leitkultur herrscht zum einen, wo die Leute anderseits anständig bezahlte Arbeitsstellen angeboten erhalten. Dann werden die Viertel saniert und anschließend hübsch durchmischt neu bezogen. Diesen Programmteil traue ich unglücklicherweise weder Emanuel Macron noch sonst einer politischen Kraft in Frankreich zu. Aber irgendetwas wird auch Macron sich einfallen lassen müssen zu diesem Thema. Vielleicht ist er etwas origineller als ich.

Unglücklicherweise hat sich in London letzte Woche gezeigt, weshalb Jeremy Corbin auch ohne Programm so viele Stimmen erhielt. England ist schlicht und einfach noch kein sozial­demo­kra­tisches Land. Die Tories sind ein Hafen vorsintflutlicher Reaktionäre und Dummköpfe, welche sich einen Deut um die einfachen Leute scheren. Anders kann man es sich nicht erklären, dass sich die Verantwortlichen für die Sanierung der Sozialwohnungen im berühmten Hochhaus in Kensington nicht im Traum um die international geltenden Vorschriften für Isolationsmaterialien kümmerten. Es handelt sich meines Wissens um eine baugeschichtliche Premiere: Dass ein Haus von der Außenhaut her nach innen brennt. Vielleicht waren ja auch die Bauvorschriften gelockert worden oder schlicht und einfach nicht auf der Höhe der Zeit oder der verhassten Europäischen Union, was weiß ich. Auf jeden Fall fällt dieser Brand mit seinen Dutzenden oder vielleicht sogar Hunderten von Toten zurück auf die Politik und Mentalität, mit welcher die Tories das Land regieren, seit sie es wieder übernommen haben von den immerhin noch sozialdemokratischen Pudeln Blair und Brown. Hierfür, sagt mein von Zorn recht umnebeltes Herz, hierfür könnte man die Scharia ohne Weiteres einführen.