"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Der Steuerzahler

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Eine der verschiedenen Erscheinungsformen des modernen und freien Individuums ist der Steuer­zahler oder die Steuerzahlerin. Die Steuerzahlerin oder der Steuerzahler ist eine absolut fiktive Gestalt ...
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Upload vom 28.06.2017 / 11:27

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Arbeitswelt, Internationales, Wirtschaft/Soziales, Andere
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 28.06.2017
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
... denn das zugrunde liegende Naturgesetz, wonach die Steuerzahlerin oder der Steuerzahler über eine bestimmte Summe Geldes verfüge, von welcher ihm der Staat sozusagen widerrechtlich einen Teil abnimmt, existiert nicht. Die Steuern sind ein integrierender Bestandteil des Wirt­schafts­systems, man könnte Lohnsteuern theoretisch direkt bei den Unternehmen erheben, wie dies mit der Quellenbesteuerung ja bereits geschieht, und man bräuchte sie nicht einmal als Lohnbestandteile auszuweisen; der Lohn wäre dann einfach um die entsprechende Summe geringer, und es bliebe uns die entwürdigende logische Missgeburt erspart, dass wir da tatsächlich etwas abzudrücken haben, das je auch nur entfernt unser eigen gewesen wäre. Dementsprechend lächerlich sind Verlaut­barungen oder gar Forderungen von Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern, was mit jenem Geld zu geschehen habe, das sie als das ihrige ausgeben. Es gehörte ihnen nie, gehört ihnen heute nicht und wird ihnen auch in Zukunft nicht gehören.

Die Steuern fließen in den Haushalt des Staates, und hier präsentieren sich die Dinge anders. Hier haben die Individuen tatsächlich mitzureden, in der parlamentarischen Demokratie in der Regel über den Umweg der von ihnen gewählten Politikerinnen und Politiker und der Parteien, welche sie vertreten; theoretisch sollten sich die politischen Parteien gerade in diesem Punkt voneinander unterscheiden. Dieser Punkt kann sich wiederum in verschiedene Unter-Punkte aufteilen, am wenigsten bestritten ist wohl die Finanzierung der Infrastrukturen, wobei hier in der Regel erstaunliche Defizite bestehen. Andere Punkte betreffen die öffentliche Verwaltung, sowohl im Umfang, den sie abdecken soll, als auch in der Art und Weise, wie sie dies tut, wobei für die öffentliche wie für jede Verwaltung der Grundsatz gilt, dass sie eine ihr innewohnende Tendenz zur stetigen Ausdehnung hat, auf welche die Verantwortlichen in der Politik jeweils ein besonderes Auge haben sollten.

Sodann eröffnet sich ein ungeheures Feld an Subventionen und Fördertöpfen auf allen Ebenen, von der Kommune über die Länder bis zum Bundesstaat, und parallel dazu gibt es noch die Fördertöpfe der Europäischen Union, welche ebenfalls in allen Regenbogenfarben schillern und sämtliche Bereiche und Größenordnungen beschlagen können, von der Raumfahrt bis zur Jugendarbeit. Dies ist vermutlich der wichtigste Tummelplatz der Politik, das Aushandeln der Anteile am Steuer­auf­kommen für die verschiedenen Sektoren von Wirtschaft und Gesellschaft. Der Land­wirt­schafts­sektor ist dabei vergleichsweise bekannt, ebenso der Energiesektor oder das Militär, wo Jahr für Jahr gigantische Summen in eine spezifische Unterabteilung der Wirtschaft geblasen werden. Manchmal werden Sonderaktionen erforderlich wie zum Beispiel nach der Finanzkrise oder zur Rettung der europäischen Banken, welche faule Kredite für Griechenland in ihren Büchern hatten. Hier wird allerdings nicht einfach die Steuerzahlerin zur Kasse gebeten, hier hat vor allem die Zentralbank eingegriffen mit einer künstlichen Ausweitung der Geldmenge, deren Folgen bis heute eigentlich nicht sichtbar geworden sind, mindestens nicht in der Realwirtschaft. Dies wirft, wie immer in Geld- und Währungsangelegenheiten, die Frage auf, wie real die Währungs- und Finanzwelt überhaupt noch ist, und auf diese Frage folgt umgekehrt wieder die Nachfrage, wie real überhaupt unsere gesamte Welt noch sei, gemessen mindestens an den Realitätsstandards früherer Jahrzehnte. Damit will ich mich aber hier nicht auseinander setzen, sondern ich komme zurück zum Bankensektor, wo die italienische Regierung am Sonntag beschlossen hat, die Veneto Banca und die Banca Popolare di Vicenza aufzulösen. Dies könnte, wie es heißt, die Steuerzahler bis zu 17 Milliarden Euro kosten. Und zwar wird das gemäss der Neuen Zürcher Zeitung so gespielt, dass die gesunden Teile der beiden Institute für den symbolischen Preis von einem Euro an die zweitgrößte italienische Bank Intesa San Paolo gehen; die Problemkredite werden in eine Bad Bank ausgelagert. Intesa San Paolo erhält vom italienischen Staat eine Kapitalspritze von fast 5 Milliarden Euro; damit soll die Zunahme der Eigenkapitalanforderungen durch die Zunahme der Bilanzsumme um die Aktiven der beiden venetischen Banken ausgeglichen werden, mit anderen Worten: Allein die gesunden Teile der zwei Institute waren um 5 Milliarden Euro unterkapitalisiert.
Es gibt zu dieser Geschichte noch eine Variante, und die besagt, dass Intesa San Paolo diese Übernahme dazu benutzt, um ihre eigene Kapitalbasis zulasten der Steuerzahlenden zu sanieren. Die Wahrheit dürfte gemäß einer ewigen Wahrscheinlichkeitsrechnung ungefähr in der Mitte der beiden Varianten liegen, wogegen die Wahrheit bezüglich der Steuerzahlenden gar nicht existiert.

Dabei gibt es neben den 5 Milliarden für Intesa San Paolo noch Kreditgarantien des Staates von 12 Milliarden Euro, vor allem als Schutz für die Inhaber von Bankkonten bei den beiden falliten Instituten, und damit kommt man eben auf die erwähnten 17 Milliarden zulasten des nicht existierenden Steuerzahlers. Zu erwähnen bleibt, dass die Abwicklung der Regionalbanken im Rahmen der nationalen Verfahren Italiens von sich geht, da sie zu klein sind, um zu einem Thema für die gesamte Euro-Zone zu werden. Die EU-Kommission musste trotzdem noch ihre Zustimmung erteilen, was aber umgehend erfolgt ist.

Wie kratzt jetzt der fiktive Steuerzahler diese 17 Milliarden Euro zusammen? Na, überhaupt nicht. Laut der Statista-Webseite nimmt der italienische Staat in diesem Jahr knapp 800 Milliarden Euro ein und gibt 830 Milliarden Euro aus. 2016 waren es 790 Milliarden Euro Einnahmen gegenüber 830 Milliarden Ausgaben, 2015 785 Milliarden Einnahmen und 830 Milliarden Ausgaben, da fallen diese 17 Milliarden gar nicht auf, wenn man sie über ein paar Jahre verteilt. Wie der Italiener übrigens diesen anhaltenden Ausgabenüberschuss von 5% mit den Stabilitätskriterien für die Eurozone vereinbart, weiß ich nicht, und eben: auch der italienische Steuerzahler hat wohl keine Ahnung davon.

Dafür hat das Mitte-Links-Lager des Partito Democratico bei den Kommunalwahlen in 25 Städten
eine erhebliche Schlappe eingefahren, auch wenn es sich hier nicht um ein wirklich bedeutendes Ereignis für das ganze Land handelt. Bisher besass Mitte-Links die Mehrheit in 16 Städten, Mitte-Rechts in 6. Jetzt steht Mitte-Links bei 5 Städten und Mitte rechts bei 15. Mit der Politik in Deutschland und Frankreich hat Italien nicht besonders viel am Hut, mit der einen Ausnahme, dass praktisch alle Parteien in etwa das gleiche Programm haben, nämlich ihrer Klientel einen möglichst hohen Anteil am Budget und auch an Jobs in der Verwaltung zu verschaffen. Seit Massimo D'Alema hat die Linke in dieser Beziehung massiv aufgeholt und liegt jetzt gleichauf mit den Erben von Berlusconi beziehungsweise verliert an Terrain.

Der Steuerzahler aber bezahlt und schweigt. Beziehungsweise in Italien versucht er, sich von der Pflicht zur Bezahlung von Steuern so gut wie eben möglich zu drücken im Rahmen der Schatten­wirtschaft, wenn es den nicht kriminellen Bereich betrifft, oder eben des organisierten Verbrechens, wobei sich das organisierte Verbrechen immer mehr für die Geld- und Fördertöpfe des Staates inter­essiert, was umgekehrt vermutlich einen gewissen zivilisatorischen Einfluss auf das organisierte Verbrechen hat, sodass es am Schluss doch noch zur Vermählung von Staat und Mafia kommen könnte. Dem Land wäre damit vermutlich gedient. Vorderhand muss sich die Mafia noch brachialerer Methoden bedienen. Die Vereinigung Avviso Pubblico publiziert jährlich einen Bericht über Drohungen und Angriffe auf lokale Politiker, allerdings nicht immer durch die Mafia; manchmal fordern die Täter auch ganz einfache Dinge wie zum Beispiel «Flüchtlinge raus» wie in Vittorio Veneto, einem Dorf in der Provinz Treviso oberhalb von Venedig, wo eines Nachts vier Molotow-Cocktails gegen die Fassade der Gemeindeverwaltung geschleudert wurden, und etwas später erhielt der Gemeindepräsident einen Brief mit zwei Kugeln, in dem eben die Forderung nach der Entfernung der Flüchtlinge gestellt wurde. «Sonst machen wir dich kalt!» – Aber in der Regel geht es schon ums Geschäft, und zwar sogar um klassische Mafia-Geschäfte: In Livorno in der Toskana bezogen sich die Drohungen an den Bürgermeister auf die Bewilligung einer Müllverbrennungsanlage.

Was dient einem Land weiter im Süden, nämlich dem Kongo? Hier ist wenigstens der Begriff Steuerzahler kein Begriff, aber für das Land wäre es vielleicht besser, er wäre einer, denn so beherrscht der blutige Kampf um die Naturschätze den Alltag. Seit dem letzten September gab es im Landesinnern heftige Kämpfe zwischen Armee, Milizen und der Polizei nach dem Tod eines Stammesfürsten, der sich gegen den regierenden Präsidenten Kabila gestellt hatte. Dieser sollte seit mehr als einem Jahr von seinem Amt zurückgetreten sein, hält aber die internationale Gemeinschaft und natürlich vor allem den Kongo selber hin mit Dialogaufrufen und Ankündigungen. Laut einer Ende letzten Jahres getroffenen Vereinbarung sollten im Dezember Wahlen für seine Nachfolge stattfinden, aber bisher hat man davon noch nichts bemerkt.

Noch weiter im Süden spülen die Gupta-Leaks immer weitere Meldungen über die Verbindungen des südafrikanischen Gupta-Konzerns mit der Familie des Staatschefs Zuma an den Tag. In diesem Umfang hätte noch niemals eine einzelne Firma in die Staatsgeschäfte eingegriffen, heißt es, aber der korrupte Kretin hält sich weitgehend unbeeindruckt an der Macht. Gleichzeitig ist das Land bei weißen Urlaubern so beliebt wie nie zuvor. Besteht hier etwa ein Kausalzusammenhang?

Und zum Schluss: Was muss ich den Medien entnehmen? Der sozialdemokratische Kanzlerkandidat Schulz hat sich ganz böse und angriffig gegenüber der verehrten Kanzlerfrau Merkel gezeigt? Oha! Da kommen tatsächlich Gefühle auf wie bei einem Jahrmarkt. Nicht nur haben wir eine Idealkonkurrenz zweier ideal identischer Volksparteien, sondern dazu kommt noch die FDP als ihr eigener Widergänger, die als Untote irgendeine ideologische Nische besetzt, über welche die Realität eigentlich längstens grünes Moos hat wachsen lassen. Immerhin wird so dafür gesorgt, dass das alle vier Jahre stattfindende Demokratie-Theater nicht immer im selben Dekor aufgeführt wird. Auch wenn es das selbe Stück ist. Ein Stück, maßgeschneidert für Steuerzahlerinnen und Steuerzahler.