"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Nemtsow und Nawalny

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Letzte Woche wurden die Mörder von Boris Nemtzow in Moskau verurteilt. Dass alle Fragen nach den Auftrag­gebern offen bleiben, versteht sich von selber.
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11:47 min, 27 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 04.07.2017 / 08:58

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Andere, Wirtschaft/Soziales, Internationales, Religion, Kultur, Politik/Info
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 04.07.2017
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Umso mehr kann ich nur immer und immer wieder betonen, wie großzügig, ja geradezu freundschaftlich die russische Regierung sich gegenüber Alexej Nawalny verhält. «Vor diesem Mann hat Putin Angst», schrieb die «Zeit» vor ein paar Wochen. Was für ein Blödsinn. Wenn dies der Fall wäre, hätte Herr Nawalny schon vor fünf Jahren im Leichenschauhaus gelegen. Ende April verübten ein paar übereifrige Putin-Aktivisten zwar einen Säureanschlag auf ihn, worauf er sich zur Behandlung nach Spanien begeben musste, aber das war eindeutig ein Ausrutscher. Hier wird ein Nachwuchsmann präpariert, wobei mir nicht klar ist, wie er die Nachfolge des aktuellen Spitzenduos antreten soll, irgendwie fehlt noch der zu ihm passende Ministerpräsident. Ich würde Putin und Medwedjew zu einer Frau raten, das zieht immer, vor allem im westlichen Ausland, wenn die Sanktionen dann irgendwann mal vom Tisch sein werden. Mir ist sowieso nach wie vor unklar, mit welchem Eifer die Europäische Union daran arbeitet, das ostpolitische Testament der Brühwurst Barroso zu vollstrecken und dem korrupten Gespann Bulgarien und Rumänien mit der Ukraine noch einen dritten Zwilling beizugeben. Ander­seits muss ich zugeben, dass die politische Mathematik manchmal in anderen Dimensionen rechnet als ich, der ich bloß mit Kräftevektoren mehr oder weniger entlang der Zeitachse jongliere. Viel­leicht sieht sich irgendein innerer Zirkel in der EU als Kern einer zukünftigen Supermacht, welche sich ihre Aufrüstung im Rahmen der Nato eigentlich nur zum Schein vom überirdischen, ent­schul­digen: vom überseeischen Clown aufdrängen lässt, um dann beim Erreichen der kritischen mili­tärischen Masse auch de facto als vierter militärischer Player aufzutreten, nachdem die wirt­schaft­liche Potenz längstens etabliert ist. Vielleicht sind die Widerstände gegen die europäische Union in erster Linie Spiegelfechterei, um die Bedenken der globalen Mitbewerber zu zerstreuen, in erster Linie der USA und in zweiter Linie Chinas, während Russland darauf setzt, sich an die europäische Dynamik anzuhängen. Wer weiß denn schon sowas.

Dann müsste man den Austritt Großbritanniens aus der EU lesen als vorweggenommenes trans­atlan­tisches Bekenntnis, mit welchem die britische Elite gegenüber den Vereinigten Staaten den gleichen Kurs einschlägt wie Russland gegenüber Europa. Und eben, die antieuropäischen Tendenzen innerhalb der EU selber wären dann Teil eines größeren Schauspiels, bevor der E-Urknall dann erst richtig erfolgt. Und von diesem E-Urknall geht ja ein schöner Teil der Bevölkerung nach wie vor aus, unter anderem ich selber, und zwar nicht wegen irgendwelcher hegemonialer Interessen, sondern weil mir scheint, dass es an der Zeit wäre, die Lebensbedingungen der Menschen auf dem ganzen Kontinent einander endlich anzugleichen, und das heißt dann eben auch die Auflösung der nationalen Souveränität im übergeordneten Gesamtstaat Europa, wo die früheren Länder nach wie vor erhebliche föderale Kompetenzen haben. Dafür braucht man nicht mal alles neu zu erfinden, man kann da einiges den Vereinigten Staaten von Amerika abschauen und anderes auch nicht, aber möglich ist so etwas von einem Tag auf den anderen, und wie gesagt: Es wäre höchst zeitgemäß.

Anderseits ist gut möglich, dass dieses geheime Szenario derart supergeheim ist, dass nicht mal die Akteure davon wissen, und nur die Zeit, und zwar nicht die Zeitung Zeit, wird zeigen, wie sich diese Organisation entwickelt. In der Zwischenzeit haben wir immerhin reichlich Gelegenheit, unseren Affekthaushalt mit der EU zu regulieren, und zwar auf beide Seiten, einerseits in Bezug auf die nationalistischen EU-Kritiker, welche eine Rückkehr zum früheren Nationalstaat fordern und dort am liebsten wieder eine eigene Industrie wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufbauen würden. Anderseits haben wir völlig freie Hand, uns weiterhin über die ineffiziente EU-Bürokratie zu är­gern. Eigenartigerweise produziert gerade das EU-Parlament manchmal durchaus ansehnliche Unterlagen, am Rande bemerkt: oft aufgrund von Interventionen von Mitgliedern der grünen Partei, welche es einfach nicht schafft, die bemerkenswert hellen Köpfe in ihren Reihen unter anderem der deutschen Öffentlichkeit als solche zu verkaufen mit ihren persönlichen Meriten und zweitens ganz grundsätzlich mit dem Verdienst eines wachen Geistes. Stattdessen scheint es den Grünen Erfolg versprechender, in den Wahlkampf zu ziehen mit Kasperfiguren wie dem steifen Herrn Özdemir, der weder intellektuell etwas zu bieten hat noch als Wahlkampf-Leitfigur. Jedenfalls pro­du­ziert die EU beziehungsweise das EU-Parlament durchaus interessante Papiere zu durchaus interessanten Themen, welche im Anschluss daran aber weder den Weg in die Öffentlichkeit finden, und zwar in irgend eine Öffentlichkeit, also national, international, regional oder vermutlich auch nur innerhalb der entsprechenden Partei, noch irgendwie zu irgendwelchen Beschlüssen des europäischen Parla­mentes führen, welche dann irgendeine Auswirkung in irgendeiner Praxis haben. Das kann man traurig finden oder es lassen.

Im Übrigen ist in Brüssel rund um die EU-Institutionen zweifellos eine Sphäre entstanden, wo ein relevanter Informationsaustausch stattfindet, der sich dann trotz allem auch in relevanten Direktiven nieder­schlägt, das will ich dann auch wieder nicht bestreiten, auch wenn es mir zu anstrengend ist, mich aus der Distanz in diese okkulte Sphäre hinein zu denken. Aber ganz ohne Wirkung und Be­deu­tung ist diese Bürokratie natürlich nicht, bewahre. Ich glaube nicht, dass sie tatsächlich irgend­einen Krieg in Europa abgewendet hat, wie das manchmal anhand einer Jubel- oder Begräbnisfeier wie jüngst in Straßburg und Speyer pathetisch behauptet wird. Aber irgendeine Form der Kom­munikation und der Entscheidungsfindung hat sich da auf jeden Fall herausgebildet. Mit Demo­kratie hat das nichts zu tun, aber die wichtigsten Interessengruppen sind auf dieser Plattform immer sehr präsent, und ich will jetzt nicht so weit gehen und sagen: mit Ausschluss der Bevölkerung, denn die Interessen der Bevölkerung hängen ja oft eng oder mindestens weniger eng mit solchen Interessengruppen zusammen. Es ist einfach keine Demokratie, in welcher alle Bewohnerinnen und Bewohner über die wesentlichen Entwicklungen halbwegs anständig informiert sind. Das könnte man diesen Bewohnerinnen und Bewohnern offenbar gar nicht zumuten, sonst würden sie erst recht wieder nationalistische Reflexe entwickeln, so lautet wohl der Brüsseler Konsens in dieser Sache, und genau den muss man möglichst schnell aufbrechen.

Ich räume ein, dass die volle Information aller 500 Millionen Europäerinnen und Europäer viel­leicht erst dann durchgeführt werden kann, wenn sich die Unterschiede zwischen Pukarest und Purtugal noch viel mehr verringert haben als heute. Schließlich haben wir gesehen, dass sich der Umgang mit Information ungefähr im Gleichschritt mit dem Wohlstand der Nationen entwickelt, will sagen, eine wohl genährte Gesellschaft erträgt viel mehr davon als eine hungrige. Das jüngste Beispiel, das mir in dieser Beziehung untergekommen ist, betrifft die thailändische Zensur, welche die pathetische Schlussrede aus Charlie Chaplins Anti-Hitler-Film «Der Diktator» vom Netz genommen hat, weil der falsche Hynkel darin die Demokratie lobt. Könnte ja als Aufruf an die thailändische Bevölkerung interpretiert werden, das Militär oder den Bhumipol-Sohn zu stürzen. Möglicherweise ist man in Bulgarien und Rumänien in der Beziehung ebenfalls noch übersensibel. Zudem spielen in diesen Prozess die externen Kräfte hinein, namentlich der Druck aus Afrika, den man nur abfedern kann, wenn man mindestens in Nordafrika massive Investitionen in Wirtschaft und Bevölkerung tätigt. Dies kann beim ersten Hinschauen nur auf Kosten der Landwirtschafts­regionen in Spanien und Portugal sowie verschiedener Industriesektoren in der gesamten EU erfolgen. Der zweite Blick zeigt dann, dass die entsprechenden Maßnahmen wiederum für eine eigene Dynamik sorgen, von welcher alle zusammen zu profitieren pflegen, aber bring das mal den Betroffenen bei. Dafür ist eine gewaltige Kommunikationsanstrengung vonnöten, hinter welcher auch gewisse Garantien und Perspektiven stehen müssen, und wie so etwas konkret einzurichten ist, ohne dass in Pukarest und Purtugal ein Aufstand ausbricht, ist mir insofern nicht klar, als ich dazu keine Kompetenzen habe.

Es mag als frivol erscheinen, wenn ich solche Gedankenspiele in diesem freien Radio abwickle, aber umgekehrt ist dieser Sender eben so frei, dass es gerade hier möglich ist, mit ein paar Spekulationen einen Blick hinter das zu werfen, was ich seit langem als Kulissen eines Theaters definiere. Ob mir der Blick dann gelingt, ist eine andere Sache, und nochmals eine andere Sache wäre es, hinter den Kulissen eine Verschwörung zu vermuten, egal gegen was, ob gegen das teutsche Wesen oder gegen die französische Résistance oder gegen Mutter Erde oder gegen die Göttinnen von Bäumen und Tieren – das halte ich für eine sehr falsche Investition von Hirnschmalz.
Ein anderer Mangel an Hirnschmalz neigt sich dem Ende zu beziehungsweise ist dazu gezwungen, seine Form zu ändern, nämlich der Hurra-Islamismus, welcher die französischen Kleinkriminellen in einfache oder mehrfache Mörder verwandelt hat und seine Wurzeln in den von saudiarabischen Mitteln finanzierten radikalen Moscheen hat. Der Islamische Staat existiert nicht mehr; offenbar ist auch der Anführer von einer Drohne beseitigt worden, und damit dürfte das Herz der Kommando­strukturen beseitigt sein. Der Islamische Staat oder Al Kaida oder wie sie alle geheißen haben und noch heißen mögen sind damit natürlich nicht einfach verschwunden, sie werden sich weiterhin hier und dort in die Luft sprengen und feurige Blicke auf die ungläubigen Hunde werfen, bevor sie das Feuer eröffnen oder die Messer zücken. Aber die richtige und wahre Propagandawelle verebbt mit dem Zerfall eines greifbaren Kerns. Und es ist doch individual- und auch massenpsychologisch nicht so schön, sich einfach so, mehr oder weniger unordentlich zur Explosion zu bringen, und es ist kein richtiger Dschihad zu sehen, weit und breit.

Auf der anderen Seite muss sich der internationale Journalismus ein neues Ziel suchen. Nachdem in Aleppo die freie syrische Armee und die Nusra-Front und überhaupt alles, was sich gegen den syrischen Präsidenten auflehnte, egal, ob islamistisch oder bloß von der Türkei und von den USA finanziert, nachdem sich also all diese Rebellen als Wohltäter entpuppten, welche den Krieg nur durch das Werfen von in Desinfektionsmittel getauchten Wattebäuschchen führten, während der brutale und erst noch demokratisch gewählte und deshalb umso brutalere und despotische Macht­haber in Aleppo nur darauf dachte, Neugeborenen den Bauch aufzuschlitzen und die unschuldige Zivilbevölkerung mit Brandbomben und sonstigen Höllenmitteln zu kujonieren und zu mas­sa­krie­ren, war es in Mosul allein der IS, welcher Zivilisten als Schutzschilde benutzte, während die internationale Koalition in ihrem gerechten Krieg sorgfältig einen Bogen machte um jegliche Schäden an der Zivilbevölkerung und den Infrastrukturen. Ja, da stellt sich dem internationalen Journalismus tatsächlich wieder eine Herkulesaufgabe, so einen schön gerechten Krieg zu finden, mit welchem man die Gemüter der im tiefen Frieden daheim Gebliebenen etwas in Erregung versetzen kann.

Wie zum Beispiel mich. Kaum etwas hat mich in letzter Zeit so auf die Palme getrieben wie diese eingebettete Propaganda von Menschen und Medien, die man dann auch noch mit Preisen ehrte für ihre hirn- und ehrenwidrigen Schuldzuschreibungen. Sie müssten doch wissen, dass die Grundregel lautet: Ein Krieg ist ein Krieg. Da geht man entweder nicht hin, oder aber man missbraucht wenigstens nicht das Grauen für billige Stimmungsmache gegen welche der Kriegsparteien auch immer. Gerade beim Islamischen Staat ist sowas sowieso nicht nötig, denn der trägt den Krieg in Kleinstportionen ja sowieso in unsere Länder; und den Assad sollte man mal gescheiter als Teil einer möglichen Lösung akzeptieren, statt in das ressentimentgeladene Geheul einzustimmen, das in erster Linie von den US-Geheimdiensten angestimmt wird.