"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Privilegien der Jugend

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Eigentlich ist es das Privileg der Jugend, vielmehr: es ist die Pflicht der Jugend, den herrschenden Geschmack in allen Dingen über den Haufen zu werfen und im Idealfall sogar Gegenmodelle auf die Bühne zu stellen.
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11:22 min, 26 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 31.10.2017 / 12:53

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Kultur, Jugend, Religion, Arbeitswelt, Internationales, Wirtschaft/Soziales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 31.10.2017
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Von meinem neutralen Beobachtungsposten aus sehe ich allerdings im Moment keine Anzeichen, dass die aktuelle Ausgabe der Jugend tatsächlich Lust hat am Aufmucken, wenn man mal die völkisch-rechtsextreme Variante des Protestes gegen das System Merkel beiseite lässt. Ansonsten aber bewegt sich der Nachwuchs in seiner bis ins dreißigste Lebensjahr verlängerten Pubertät auf geordneten Bahnen und lässt die Massenphänome von Schlagermusik und Helene Fischer einfach über sich ergehen, manchmal einfach abperlen, manchmal auch einsickern, bis das eigene Musikempfinden durch und durch verzuckert und versiruppt ist. Da fragt man sich doch, ob es vielleicht an der Zeit sei, wenn denn schon die heutige Jugend keine Lust auf Rebellion zeigt, dass sich vielleicht ausnahmsweise mal die Rentnerinnen und Rentner zusammen rotten und ihren Kunstgeschmack hörbar formulieren könnten. Ich stelle mir das so vor: Bei einem Helene-Fischer-Konzert, sagen wir in der mit 50'000 Menschen gefüllten Rhein-Main-Halle in Frankfurt, stürmen um die 50 Altrocker zu Fuß, an Krücken oder im Rollstuhl die Bühne, besetzen die Technik, nehmen Helene Fischer und ihre Playback-Anlage fest und lassen über die Verstärker ein paar besonders dissonante Free-Jazz-Stücke laufen. Im Publikum kommt es zu massenweisen Zucker- und Sirup-Explosionen, und den Ausgang der daran anschließenden Saalschlacht brauche ich hier nicht vorweg zu nehmen, wichtig ist nur, dass sich für einmal Altrocker und Alt-Freejazzerinnen versöhnen.

Ansonsten beobachte ich in der heutigen Jugend keinerlei Gefühl einer Verpflichtung zur Revolte. Dieses Privileg wird vermutlich nur dann erteilt, wenn eine solche Revolte auch tatsächlich fällig ist, und diese Voraussetzung ist offensichtlich nicht gegeben. Junge Menschen haben heute ein anderes Privileg, nämlich dass sie über die sozialen Medien so ziemlich sämtliche Facetten des modernen Lebens nicht nur mitbekommen, wenn sie dies wollen, sondern vollziehen lassen können, von Helene Fischer über Katzenfilmchen bis zu Debatten über die Sozialversicherungen. Der eigene Beitrag besteht im Daumen-hoch- oder Like-Button. Mit den sozialen Medien einher geht mit anderen Worten das bestimmte Wissen davon, dass man selber nicht einzugreifen braucht, ja gar nicht eingreifen kann, allenfalls noch in der Gestalt von Influencern, welche wie Neuauflagen irgendwelcher Waldgeister wirken. Aber eine gesellschaftliche Relevanz misst sich so ein durch­schnittlicher moderner Pubertierender nicht mehr im Traume zu. Twittern und Posten, das kann man satt, aber um die Nutzlosigkeit dieser Tätigkeit wissen wohl sämtliche Twitterer und Pos­te­rin­nen. Das braucht sie auch nicht zu kümmern, denn ihre Lebensgrundlagen sehen durchaus gefestigt aus, in der Regel im Rahmen einer mehr oder weniger anständigen Anstellung, es gibt aber auch andere Varianten, also, was soll's. Die traditionellen Forderungen der Menschheit, nämlich nach einem Dach über dem Kopf, anständig zu essen, guter Kleidung, anständigen Drogen und das eine oder andere Automobil, sind in der Breite erfüllt. Die Frage, ob dies nun das richtige oder das falsche Leben sei, stellt sich nicht einmal mehr im Schlaf.

Stattdessen stellt sich bei Gelegenheit dann die Frage, was man mit diesem richtigen Leben zu tun gedenkt. An diesem Punkt wird es spannend, und mich nimmt wunder, welche Überlegungen die Jugend von morgen zu diesem Thema anstellen wird.

In der Zwischenzeit gurke ich auf meinem objektiven und neutralen Hochsitz etwas herum und lasse mir Nachrichten zutragen wie jene, dass verschiedene Revolutionsromantiker sich von der Unab­hängigkeitsbewegung in Katalonien tatsächlich einen sozial fortschrittlichen, wo nicht sogar sozia­listischen Freistaat erhoffen, was allerdings ein doppelter Quatsch ist, indem erstens die Un­ab­hängigkeitler in der Mehrheit nichts anderes sind als völkische Rechtsnationalisten, denen die Lin­ken und Marxisten vielleicht ein paar Tage lang als Steigbügelhalter dienen, aber ansonsten kei­nerlei Einfluss hatten, haben und haben werden. Die Kandidatur der Volkseinheit sollte ihren eige­nen Namen mal lesen, und dabei bin ich bereits beim zweiten Aspekt: Es gibt in Katalanien keine Volkseinheit und keine Volksfront, wie man schon vor der Unabhängigkeit wusste, wie man es jetzt weiß und wie man es immer wissen wird. Eine solche Unabhängigkeitserklärung sollte sich unter modernen Umständen, also nicht unter den Umständen der Februar- und Oktoberrevolution 1917 in Russland, sondern unter den Umständen eines modernen Kataloniens im modernen Spanien im Jahr 2017, auch auf moderne Maßstäbe stützen, eben auf die Volkseinheit in ihrer demokratisch-bür­ger­li­chen Gestalt, nämlich mindestens auf eine Zweidrittels-Mehrheit, aber lieber noch auf acht oder neun von zehn Beteiligten, und diese Voraussetzung ist nun mal in Katalonien nicht gegeben, war es nicht und wird es nicht sein, weil Katalonien nämlich als autonome Region ein Bestandteil einer hundskommunen modernen bürgerlichen Demokratie war, ist und sein wird. Punkt, Punktum; das einzige Argument, das tatsächlich noch für die Unabhängigkeit spricht, sind die hohen Zah­lun­gen der Region an den Gesamthaushalt des Landes, und hierzu brauche ich nicht einmal den Begriff der Solidarität zu strapazieren, um das Argument zu entkräften: Es ist eines, aber wenn im hypo­the­ti­schen Fall einer Unabhängigkeit die Hälfte der Arbeitsplätze aus der Region abziehen und der FC Barcelona nicht mehr in der Primera Division Fussball spielen wird, dann könnt ihr euch eure Zahlungsüberschüsse sowieso ins Jacketttäschchen stecken.

Ein weiteres Unabhängigkeitsprojekt ist soeben auch zum ixten Mal den Bach runter, nämlich einer der unzähligen Versuche zur Ausrufung eines unabhängigen kurdischen Staates, und das Gute daran ist, dass diese Frage für die nächsten Monate und vielleicht Jahre geklärt ist, sodass wir uns auf die Wiederherstellung einer staatlichen Ordnung in den beiden Staaten Irak und Syrien konzentrieren können, was mindestens im Fall Syriens noch etwas dauern wird, denn solange die USA nicht ak­zep­tieren, dass Syrien ein Protektorat Russlands ist, kehrt hier kein Frieden ein. Sollten umge­kehrt die USA sich aus diesem Prozess heraus halten, dann ist unter Beizug der Türkei durchaus eine schnelle und einigermaßen friedliche Lösung denkbar, sogar mit einem Plan zur Ersetzung von Baschir Al Asad durch einen unbescholtenen Präsidenten, welcher allerdings das Machtnetzwerk von Asad übernehmen müsste; denn der komplette Neuaufbau der Macht von Grund auf erscheint mir in der aktuellen Situation eine praktisch unlösbare Aufgabe.

Was ich weiter noch erblicke aus neutraler Sicht sind die Koalitionsverhandlungen in Berlin, Verhandlungen zwischen Parteien, welche sich eine Koalition gar nicht leisten können, weil sie nämlich unter Bedingungen der Koalition ihre Prinzipien über den Haufen rühren müssen. Von den Grünen kann man sowas allenfalls noch erwarten, die haben da schon eine gewisse Tradition, aber für die mit dem Programm Christian Lindner wieder in den Bundestag gewählte FDP liegt das ganz und gar nicht drin, sonst purzeln die umgehend wieder aus allen gemachten Betten in allen Bundes­ländern hinaus. Selbstverständlich lasse ich mich gerne überraschen, vielleicht findet Frau Merkel wieder einen Kreis im Quadrat, aber die Restlogik, welche über den Parteien und ihren Programmen waltet, lässt nur auf Neuwahlen schließen, irgendwann im Februar des nächsten Jahres.

In Afrika nichts Neues, mal ein Bombenanschlag hier, mal einer dort beziehungsweise im Moment gerade eine Konzentration in Somalia; das Wahltheater in Kenia bin ich versucht abzutun als der übliche Nonsense, wie er halt entsteht in Staaten ohne Verkettung der demokratischen Mecha­nis­men mit den verschiedenen Interessengruppen im Lande. Daneben möchte ich die Gelegenheit benutzen und den Namen des neuen Chefs der Weltgesundheitsorganisation in Erinnerung rufen: Er heißt Tedros Adhanom Ghebre Jesus und hat vor zehn Tagen den obersten Blutsauger und Korrumpinator Zimbabwes, Robert Mugabe, zum Ehrenbotschafter der WHO ernannt, bevor er ihn ein paar Tage später angesichts massiven internationalen Aufjaulens wieder absetzen musste; mich täte interessieren, ob er ihm die 500'000 Dollar zurückzahlen musste, welche er für die Ernennung erhielt. Das weiß ich nicht, aber es ist auch nicht so wichtig. Tedros Adhanom Ghebre Jesus, ich nehme an, auf Lebzeiten zum Chef der WHO gewählt.

Die Börsen und damit wohl auch die Finanzkapitalmärkte befinden sich auf Rekordfahrt. Im Oktober 2007 stand der Dow Jones bei 14'000 Punkten. Dann ging es abwärts auf 9200 Punkte im Februar 2009. Es dauerte bis im Januar 2013, bis die 14'000 Punkte wieder erreicht waren, aber dann ging es weiter stetig nach oben, 16'500 im Dezember 2013, 18'100 im Februar 2015, dann trat man bis im Herbst 2016 vor Ort, bis der Wahlsieg von Trump jene Rallye auslöste, die bis heute auf
23'400 Punkte geführt hat, das ist ein Anstieg um rund einen Drittel innerhalb eines Jahres. Der Dax hielt sich im zweiten Halbjahr 2007 bei gut 8000 Punkten auf, halbierte seinen Wert bis im Februar 2009 auf 3900 Punkte und machte sich dann ebenfalls wieder auf den Weg nach oben. Die 8000-er Marke wurde im Mai 2013 wieder geknackt, und im März 2015 jubelte der Dax von 12'000 Punkten aus, bevor er wieder unter 10'000 Punkte fiel, um dann ab November 2016 wieder zu dax-kraxeln auf aktuell 13'200 Punkte.

Erneut fragen sich alle Laien und Expertinnen, ob dieser Anstieg denn diesmal endlich nachhaltig sei beziehungsweise wann denn endlich der nächste Crash käme, damit man endlich wieder so richtig bedenkenlos investieren könne. Ich habe wirklich keine Ahnung. Für mich gilt nach wie vor, dass Börsen und Finanzmärkte reine Glaubenssache sind. Je mehr Menschen daran glauben, desto stabiler sind sie. Mit Vernunft oder ökonomischer Logik hat das nichts zu tun, einmal abgesehen von den bekannten und anerkannten zugrunde liegenden Werten, über welche man aber an den Börsen kaum mehr Auskunft erhält. Spekulieren kann man allenfalls noch über die Bereitschaft der Zentralbanken, weiterhin Geld in die Kapitalmärkte zu blasen, was letztlich nicht viel mehr ist als die Bestätigung der zugrunde liegenden Glaubenssysteme; jedenfalls hüten sich die obersten Gremien ganz offensichtlich davor, allenfalls falsche Signale auszusenden, aber die Stabilität der Märkte liegt unterdessen eher in den Händen der sozialen Netzwerke. In diesem konkreten Fall selbstverständlich nicht von Facebook und Instagram, sondern jenes Geflechts, das den Finanzmarkt unterdessen durchsetzt hat wie ein riesiger globaler Pilz.