"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Clemens Fuest

ID 86346
 
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Dem Münchner Institut für Wirtschaftsforschung steht seit 2016 der Herr Doktor Clemens Fuest vor, der unter anderem in Oxford eine Professur für Unternehmensbesteuerung inne hatte und heute, ebenfalls unter anderem und für mich eher exotisch, als wissenschaftliches Mitglied in der Mindest­lohnkommission des Bundes-Arbeits­ministeriums sitzt.
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11:47 min, 27 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 05.12.2017 / 15:42

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Arbeitswelt, Internationales, Wirtschaft/Soziales
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 05.12.2017
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Sein Vorgänger Hanswerner Sinn hatte sich noch einen Namen gemacht als Mit-Architekt der Agenda 2010 von Gerhard Schröder, welche in erster Linie die Senkung der Arbeitskosten in Deutschland zum Zwecke hatte. Clemens Fuest nun äußerte sich in einem Gespräch mit der Rheinischen Post zu den in den USA bevorstehenden Steuer­senkungen, namentlich die spektakuläre Reduktion der Unter­neh­mens­ge­winn­steuern von 35% auf 20%. Nach seiner Einschätzung wird dies die Investitionen und den Konsum in den USA erhöhen. Davon soll aber auch Europa profitieren, indem die Exporte in die USA zunehmen wer­den. Mir will scheinen, dieses Argumenten-Sternbild hätte ich schon früher gesehen, und ich habe auch in Erinnerung, dass ich die Konstruktion schon früher in Frage gestellt habe. Investitionen kom­men nicht aus Steuersenkungen, no Sir, niemals. Investitionen erfolgen aufgrund einer Wirt­schaft­lichkeitsrechnung als Ersatzinvestitionen, Investitionen in neue Anlagen zwecks Reduktion von Stückkosten oder als Investitionen in neue Technologien und Geschäfts­felder. Mit Steuer­sen­kungen hat dieser gesamte Karsumpel überhaupt nichts zu tun. Allenfalls wäre denkbar, dass Steuer­senkungen die Kaufkraft im Land erhöhen oder auch nur die Kauflust antreiben. Aber dann stehen nicht die Unternehmenssteuern im Vordergrund, sondern die Einkommenssteuern für mitt­lere Klassen, und selbstverständlich wirkt sich jede Geldpumpe in die ärmeren Schichten unmittel­bar auf deren Konsumverhalten aus. Aber sonst?

Wenn man unterstellt, dass die Hälfte der Bevölkerung in den Vereinigten Staaten unterdessen auch Einkommen aus Kapitalrenditen erzielt, wäre ein indirekter Effekt der Senkung von Unternehmens­steuern denkbar. Aber in den Vereinigten Staaten ist die Verteilung der Vermögen, gemessen am Gini-Index, extrem ungleich. Die USA rangieren in dieser Beziehung hinter Russland und Indien auf Platz drei mit einem Gini-Index von 87.6%, also gehe ich davon aus, dass die Mehrheit der Be­völ­kerung von Steuervergünstigungen für Unternehmensgewinne nichts abkriegt. 63% haben laut dem Credit Suisse Global Wealth Databook 2016 ein privates Vermögen bis maximal 100'000 US-Dollar. Also haben die meisten auch keine Aussicht auf eine indirekte Beteiligung an den Steuer­geschenken der Republikaner.

Gewisse Investitionen unterliegen anderen Gesetzen, nämlich die staatlichen Investitionen. Hier gibt es zwei Hauptpfeiler, nämlich die Infrastrukturen und den Krieg. Die Investitionen in die so­ziale Sicherung sind im wirtschaftlichen Sinne keine, sondern Ausgaben zur Stützung des Kon­sums. Der Staat hat mit anderen Worten tatsächlich die Möglichkeit, einen Beitrag zur Wirtschaft zu leisten, und er sollte es sogar tun, wenn die Infrastruktur marode ist, wie dies nicht nur in den Vereinigten Staaten da und dort der Fall ist. In solchen Fällen dürfte die Rechnung über­schlags­mäßig aufgehen, dass eine zusätzliche Verschuldung des Staates zu zusätzlichen Einnahmen führt, indem nämlich die Sozialausgaben sinken wegen steigender Beschäftigung, und daneben steigt der Steuerertrag generell. In welchen Proportionen dies der Fall ist, kann ich hier nicht angeben, aber im Grundsatz kann man hier eine solche Wirtschaftlichkeitsrechnung anstellen. Das ist aber das exakte Gegenteil dessen, was die Republikaner wieder einmal zu beschließen im Begriff sind – sofern sie sich tatsächlich auf einen Kompromiss einigen können zwischen den Modellen des Senats und des Abgeordnetenhauses. Soviel ich weiß, bestehen hier noch wichtige Differenzen, die zum Teil genau auf die vorher erwähnten Überlegungen zurückgehen und deshalb durchaus das Zeugs haben, sich zu Grundsatzkonflikten auszuwachsen.

Allgemein wird geschätzt, dass die Ausfälle aus dem Steuersenkungspaket 1 Billion, also tausend Milliarden US-Dollar betragen werden – über 10 Jahre hinweg. Das ist nun aber ziemlich lächer­lich. Wir erinnern uns noch an die Weigerung der Republikaner im Jahr 2011, die Schulden­ober­grenze zu erhöhen, um dem damaligen Präsidenten Obama eins auszuwischen. Diese Obergrenze lag im Februar 2011 bei 14 Billionen Dollar. Heute steht sie bei 20 Billionen. Die Verschuldung hat also ganz ohne Steuersenkungen um die Hälfte zugenommen. Steuerausfälle von 1 Billion über 10 Jahre hinaus sind schlicht nicht der Rede wert. Offenbar handelt es sich bei diesem famosen Angriff auf die Mittelklasse und auf die Armen sowie auf die Ärmsten der Armen zugunsten der Reichsten paar Promille wieder einmal um eine ziemliche Attrappe. In Tat und Wahrheit verändert sich wieder mal nichts. Das hat selbstverständlich in erster Linie damit zu tun, dass der steuerbare Gewinn der Unternehmen eine überaus flexible Masse ist. Banken zum Beispiel dürften ihre Verluste während der Finanzkrise 2008/2009 noch heute von ihren Gewinnen abziehen, und Unternehmen in nennens­werter Größe sind auf der ganzen Welt mittlerweile so verschachtelt, dass sie sowieso alle Ge­winne in Amsterdam versteuern.

Auch der Steuerwettbewerb wird nicht schärfer, als er ohnehin schon ist, aus dem einfachen Grund, weil die Sieger schon lange feststehen, nämlich, neben Luxemburg und Amsterdam, die Steuer­para­diese auf den Kanalinseln, in der Karibik sowie im US-amerikanischen Bundesstaat Delaware. Ab­ge­sehen von den Niederlanden, Luxemburg und Delaware handelt es sich übrigens generell um britische Inseln oder mindestens Mitglieder des Commonwealth. Da könnte die Europäische Union möglicherweise mal ansetzen, sobald die Engelländer dann mal Leine gezogen haben. Aber das ist wieder ein anderes Kapitel.

Der Anstieg der US-Staatsschulden werde den Zinsanstieg beschleunigen, meint Fuest weiter und befindet sich damit auf der sicheren Seite, denn die Zinsen können gar nicht anders als steigen nach der Nullzinsphase bis im Jahr 2015, nach welcher jeder Anstieg eine Beschleunigung war; bloß hat das nichts mit der steigenden Staatsverschuldung zu tun, wie eben die erwähnte Zunahme der US-Schulden um 6 Billionen Dollar beziehungsweise um 50% in den letzten sieben Jahren zeigt. Und ob schließlich die Europäer tatsächlich von der US-Konjunktur profitieren werden, wie Fuest ab­schließend meint, wird sich noch zeigen. Zunächst sieht man gar keine Notwendigkeit dafür, denn Europa brummt wieder zur vollen Zufriedenheit aller bürgerlichen Ökonomen, da muss man durch­aus nicht unbedingt noch einen US-Multiplikator draufsetzen. Für das Wachstum von deutlich höherer Bedeutung wird die Entwicklung der Energiepreise sein. Der Rohölpreis als Rohmaßstab für diese Entwicklung hat gegenwärtig leicht zunehmende Tendenz, ein Fass der Brent-Qualität kostet über 60 Dollar, nachdem er Anfang 2016 unter 30 Dollar getaucht war.

So oder so blasen die PR-Institutionen auf allen Seiten in ihre bekannten Hörner, wobei zweifellos die Forderung des Bundes Deutscher Industrieller nach einer sofortigen Unternehmenssteuerreform, sprich Senkung der Unternehmenssteuern in Deutschland der Fachwelt ein freundliches Schmun­zeln entlockt. Die Rheinische Post selber, welcher ich wie erwähnt die Bemerkungen von Professor Fuest entnehme, zitiert die alte Legende, wonach die Demokraten in den Vereinigten Staaten das Steuergeld mit beiden Händen zum Fenster hinaus werfen würden, wogegen die Republikaner die Staats­ver­schul­dung scheuen würden wie der Teufel das Weihwasser. Das ist anerkannter Schwach­sinn. Die Staatsverschuldung in den USA hat sich in jüngerer Zeit vor allem während der Amtszeit der beiden Republikaner Reagan und Bush Senior erhöht, laut Wikipedia vervierfacht auf 5.4 Bil­lio­nen Dollar wegen ihrer massiven Steuersenkungen, und das Verhältnis von Staatsverschuldung zu Bruttoinlandprodukt stieg auf 64%. Unter Bill Clinton nahm die Verschuldung um 20% zu, aber im Verhältnis zum BIP ging sie zurück auf 56.4%. Der Republikaner Bush Junior stockte die Ver­schul­dung um zwei Drittel auf auf 10.7 Billionen, entsprechend 84% des Bruttoinlandprodukts. Und Barack Obama haute da nochmals 9 Billionen drauf, wobei in seiner Amtszeit der Großteil der Reparatur- und Ankurbe­lungs­maßnahmen nach der Finanz- und Wirtschaftskrise anfiel, einer Finanz- und Wirtschaftskrise, welche in der Regel auf das Wüten der vollständig deregulierten Finanzindustrie unter Jockel Bush zurückgeführt wird.

Und mit dieser Bemerkung, welche eigentlich den Rahmen sprengt, indem sie auf die ver­schie­de­nen Faktoren verweist, welche auf die Verschuldung auch noch einen Einfluss haben neben Dere­gulierung und Steuersenkungen, komme ich noch auf einen weiteren Aspekt dieser Frage, nämlich auf den propagandistischen Dauerbrenner der Steuererleichterungen für den Mittelstand, wobei ich hier einmal davon ausgehe, dass die Armen ohnehin keine Steuern bezahlen mit Ausnahme der 20% Mehrwertsteuer auf ihren Gebrauchsgütern. Ich frage mich nämlich, was der Mittelstand mit seinen gewonnenen, sagen wir mal 300 Euro pro Person wohl anstellen täte. Ich weiß schon, 300 Euro nimmt man mit ohne zu murren, aber für eine echte materielle Besserstellung reicht das wohl nicht, beziehungsweise: Eine echte materielle Besserstellung ist grundsätzlich kaum möglich. Für das dritte Auto in der Garage lohnt es sich nicht zu sterben, einmal abgesehen davon, dass es in dieser Garage gar keinen Platz mehr hat für ein drittes Auto. Ich möchte mal grundsätzlich wissen, was der Mittelstand denn grundsätzlich will. Wie gesagt, ein drittes Auto lasse ich nicht gelten. Zur Ver­besserung der Urlaubsqualität braucht es nicht dringend mehr Geld, nur dann, wenn man auf den absoluten Luxus schielt, den ich allerdings niemandem empfehlen möchte. Jeden Monat einmal zum Besäufnis nach Mallorca – das streiche ich sofort, vielmehr: Wer so etwas anstrebt, dem wird der Mittelstand als solcher gestrichen. Ja, was, geschätzte Hörerinnen und Hörer, was soll der Mittelstand mit unwesentlich mehr, aber auch mit wesentlich mehr oder sogar mit ungeheuer viel mehr Knete anfangen?

Ich verrate kein Staatsgeheimnis, wenn ich sage, dass Steuersenkungen für den Mittelstand nicht mal ökonomisch besonders viel bringen. Der Mittelstand kann dann vielleicht für Zahnpasta fünf Euro ausgeben anstelle von einem Euro zwanzig, aber davon einmal abgesehen wandert die gewonnene Knete grundsätzlich auf die Bank, sobald sie ein gewisses Maß erreicht hat, sie wird gespart, was heute selbstverständlich nicht mehr in der Form eines Sparbuches geschieht, sondern mit Dingen wie Exchange-Traded Funds. Das alles ist ganz schön, Vermögensbildung ist schön, vor allem für jene, denen sowas gelingt; aber dahinter steckt wieder die abstrakte Vorstellung eines aufgeschobenen Konsums, oder vielleicht die Realisierung eines Lebenstraums, und was wäre in diesem Fall der Lebenstraum?

Wenn ich einmal davon ausgehe, dass auch die ärmeren Klassen nichts weiter sind als verhinderte Mittelständler, dann gewinnt diese Frage eine gewaltige Bedeutung: Was wäre denn der Lebenstraum? – Denn darum, dass man diesen Traum leben kann, geht es doch auf dieser Welt. Nicht um Steuersenkungen, egal für wen.

Gut, diese Kurve war jetzt vielleicht etwas eng, aber manchmal muss auch dies sein.