"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Zum ersten Mai 2018

ID 88741
 
AnhörenDownload
Wie schon verschiedentlich erwähnt, hat das Proletariat seine historische Mission erfüllt, aber statt anschließend abzusterben, hat es sich ausgedehnt.
Audio
10:47 min, 25 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 30.04.2018 / 10:45

Dateizugriffe: 1339

Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich:
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 30.04.2018
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Nicht nur sind zahlreiche akademische Berufe proletarisiert worden, sondern die Lohnarbeit ist heute der allgemeine Standard beim Broterwerb, bis hinein in die Führungsetagen der großen Unternehmen, wo die Chefs selbstverständlich mit sich selber etwas großzügiger sind als mit dem Rest der Belegschaft. Daneben sind sicher nicht alle bezahlten Tätigkeiten im klassischen Sinne produktiv, auch außerhalb erwähnten Füh­rungs­etagen, aber die Beschäftigtenzahlen stehen auf Rekordwerten, gerade jetzt, wo die Wirtschaftskrise nach der Finanzkrise als überwunden gilt. In diesem Sinne ist der Tag der Arbeit tatsächlich ein sehr aktueller Feiertag, wobei man sich überlegen könnte, ob man vielleicht auch mal einen Tag des Kapitals und der Kapitalrendite, auf gut bürgerlich: des Kapitalertrags einführen könnte, damit auch dieser etwas stärker ins allgemeine Bewusstsein gerückt wird; Arbeit ohne Kapital genießt keinen hohen Stellenwert in der Wirt­schaft, und Kapital ohne Arbeit kann man sich schon gar nicht vor­stel­len. Solange es aber keinen solchen Feiertag gibt, marschiert das Kapital sozusagen inkognito mit an den 1.-Mai-Umzügen, und gerne wird es auch in den Reden angesprochen oder auf Flug­blät­tern und Transparenten thematisiert. In Thüringen ist mit Sicherheit der Angriff der französischen PSA als der neuen Besitzerin der Opel-Werke auf die Belegschaft und auf die Produktion im Werk Eisenach ein Hauptthema, also ein klassischer Arbeitskonflikt unter den Bedingungen multi­natio­naler Rentabilitätsrechnungen. Die Thüringerinnen und Thüringer wissen sehr genau, dass solche Rechnungen immer Schlagseite haben und von Seiten der Besitzer das belegen, was diese schon beschlossen hatten, als noch nicht mal die Zahlen vorlagen. Dass es sich hier um eine konkrete Erscheinung der deutsch-französischen Freundschaft handelt, macht die Sache erst recht pikant.

Ich brauche mich zu diesem Fall weiter nicht zu äußern, denn ihr habt ja vorsorglich schon vor fast vier Jahren den Gewerkschafter Bodo Ramelow zum Ministerpräsidenten gewählt, und ich denke, der wird ungefähr eine Ahnung haben, welche Strippen man ziehen muss, um in Eisenach weiterhin zwei Produktionslinien am Laufen zu behalten. Davon abgesehen verweist der Fall der Opel-Werke erneut auf die Wichtigkeit der Strukturpolitik; es hängt ziemlich viel davon ab, welche Branchen man in der eigenen Region ansiedeln will, und dafür muss man auch die notwendigen Vor­aus­set­zungen schaffen. Mit anderen Worten: Sollte man in Thüringen weiterhin auf die Automobil­pro­duk­tion setzen, dann müssten in absehbarer Zukunft Elektromobilität sowie die verschiedenen Anforderungen rund um selbstfahrende Automobile zum Schwerpunkt werden. Davon habe ich in der aktuellen Auseinandersetzung zwischen Belegschaft und Betriebs­eignern nichts gelesen, was durchaus nicht heißen muss, dass man nicht trotzdem darüber gesprochen hat. Ansonsten aber verweise ich darauf, dass die gegenwärtig weltweit größten Firmen nicht in der Automobilbranche zu finden sind, und das sollte man bei der Strukturpolitik ebenfalls beachten.

Wie auch immer: Stoff für eine anständige 1.-Mai-Feier liegt dieses Jahr genügend vor, nicht nur im ideologischen Bereich, über den ich vor einer Woche referiert habe. Aber offenbar hat es sich eine ansehnliche Gruppe von Neofaschisten in den Kopf gesetzt, den internationalen Feiertag der Arbei­ter­klasse in eine nationalsozialistische Veranstaltung umzudeuten. Das ist zunächst mal einfach nur frech, und bei Frechheiten empfiehlt das Handbuch für antiautoritäre Erziehung den Einsatz nicht von Verständnis, sondern von alten Hausmitteln wie Backpfeifen und Stubenarrest. Daneben stellt sich immer wieder die Frage, was diese Typen mit der eingeschlagenen Intelligenz ausgerechnet zu solchen Anlässen immer wieder auf die Straße treibt. Wenn es auch eine historische Tatsache ist, dass sich der Nationalsozialismus bei der sozialistischen Arbeiterbewegung bedient beziehungs­wei­se diese, wie der Name sagt, nationalisiert hat, so ist diese Tatsache genau dies: historisch. In der Gegenwart haben solche Bewegungen nichts zu suchen. Ich gehe davon aus, dass all die Möchte­gern-Hitler zwar für Randale sorgen können; daneben will aber nicht mal die Allianz für Deutschland mit solchen Hilfswissenschaftlern etwas zu tun haben, auch wenn bei dieser AfD genügend Leute mit irgendeiner Trisomie geschlagen sind, namentlich diese neuerdings nicht mehr in der Mitte, sondern links gescheitelte Trulla von Storch. Aber die wiederum will als Vertreterin des aussterbenden Niedrig-Adels mit den arbeitenden Klassen sowieso nichts zu tun haben, die ist einfach für sich und vor sich hin blöd.

Bei den anderen, also den echten Nationalsozialisten und Reichsbürgern und ähnlichen Geist­men­schen, fragt man sich einfach, wie man es auf dieses Niveau von Nichtdenken und von Verwei­ge­rung elementarer Einsichten schafft. Man fragt es sich allerdings nur deshalb, weil man dann viel­leicht ein Medikament dagegen entwickeln könnte, was übrigens ebenfalls Potenzial als Bestandteil einer Strukturpolitik hätte. Ansonsten sind diese Jungs und Mädels exakt gleich vernagelt wie die Islamisten, welche sich zum höheren Gaudium Allahs in die Luft sprengen, wenn sie damit nur der westlichen Lügenpresse eins auswischen können. Die Islamisten interpretieren dabei wenigstens noch den Koran als Auflösung für eine Weltverschwörung, während die Neofaschisten grad gar keine Konzepte mehr vorlegen können. Ihre Frustration ist zu hundert Prozent sprachlos, und das müsste sie eigentlich bei Gelegenheit doch wieder entschärfen.

Ansonsten verweise ich auf die erwähnten Hausmittelchen und gehe davon aus, dass sie offiziell in angemessenen Dosen verabfolgt werden. Man darf davon ausgehen, dass die staatlichen Ordnungs­kräfte unterdessen fähig sind, die absolut ahnungslosen Vertreter einer unmenschlichen und mör­derischen Ideologie rechtzeitig in ihre Schranken zu weisen. Die gesetzlichen Grundlagen bestehen meines Wissens bei euch, und zwar unmissverständlich. Das ist wichtig, weil man sich sonst tat­sächlich selber die Ausbildung eigener Immunzellen und Abwehrkräfte überlegen müsste. Das wäre eine Entwicklung, vor welcher ich aus neutraler Sicht warnen möchte, obwohl es mich immer im Schlagring juckt, wenn ich die Faschisten-Verschnitte sehe.

A propos Verbohrtheit: Soeben habe ich den Roman «Sarab» von Raja Alem überflogen. Es handelt sich um ein Drama, das sich während und nach der Erstürmung der Großen Moschee in Mekka im Jahr 1979 abspielt, als islamistische Extremisten sich gegen die Verwestlichung der saudiarabischen Eliten auflehnten. Der Plot der Geschichte geht so, dass unter den Besetzern und Geiselnehmern eine als junger Mann verkleidete Frau ist, der es gelingt, einen französischen Fallschirmjäger in ihre Gewalt zu bringen, während diese die Moschee von den Extremisten zurückerobern. Für diesen Einsatz mussten diese Elitetruppen zum Islam konvertieren, soweit sie nicht schon vorher Moslem gewesen waren, weil sie sonst von den Behörden keine Erlaubnis zum Betreten der Moschee erhalten hätten. So kommt es denn zu einigen Dialogen zwischen der Frau und dem Soldaten. Dabei gibt die Frau exakt jene Botschaften von sich, welche ihr vom großen Vorsitzenden eingetrichtert worden sind, gleich wie den anderen Besetzern, eben, der Westen ist schlecht, die Lügenpresse, die Nacktheit der modernen Frau als Werkzeug des Satans und so weiter und so fort. Wer die Beklem­mung auf sich nehmen möchte, die aus solch fanatischen Monologen entsteht, dem kann ich dieses Buch empfehlen. Von der Geschichte her dagegen würde ich nicht dazu raten, dazu sind mir die platonisch-romantischen Züge bis hin zum Tod der Geliebten dann doch zu krass Aischa-haft.

Selbstverständlich hat ein normaler Moslem mit sowas nichts am Hut, sowenig wie eine normale Deutsche mit dem Fascho-Gesocks, aber beide, sowohl die Islamisten als auch die Neofaschisten, bilden im normalen Leben und natürlich im Medienkonzert einen permanenten Misston, den wir für ein modernes Leben eigentlich überhaupt nicht brauchen. Der Misston färbt auch ab, eben wenn zum Beispiel die Frau von Storch und Schnabel mal wieder zu einem ihrer Differenzierungs­versu­che ansetzt, oder wenn man tatsächlich wieder darüber reden muss, dass es heute nicht ratsam ist, sich in Deutschland als Jüdin oder Jude erkennen zu geben. Vermutlich ist es nicht gleich virulent wie in Frankreich, aber die Tendenz ist die gleiche, und es sind nicht einfach die islamistischen Fanatiker, welche unter den Moslems die antisemitischen Töne anschlagen, sondern es scheint eine verbreitete Praxis zu sein, ganz abgesehen von den wirklich klabautz-oberpfropfen-saudummen Neonazis und ihren Liedern. Drauf hauen, von Staates wegen, die Schuldigen in eine Reihe stehen lassen, und dann müssen sie zur Strafe tausendmal auf ein Blatt Papier schreiben: Jüdinnen und Juden sind genauso Menschen wie Moslems und Christinnen und Christen oder aber Gottlose, und sie haben alle dieselben Rechte, einschließlich das Recht, ihre Religion auszuüben, ohne dass ihnen jemand dazwischen funkt.

Dass all dies im Kern überhaupt nichts zu tun hat mit Israel und seiner Politik, möchte ich hier auch noch nachgetragen haben, obwohl die ganze Welt dies andauernd vermischt. Hier liegt, das weiß ich selber auch, ein Fall vor, wo der Kern keine Rolle mehr spielt. Die Anti-Israel-Bewegung ist zu schönen Teilen antisemitisch, und umgekehrt versucht die israelische Regierung, jede Kritik an ihrer Politik als antisemitisch darzustellen. Ich muss sagen, früher war es noch ein bisschen einfacher, da konnte man, wenn man von Israel sprach, wenigstens noch an Kibbuze denken und an eine halbwegs fortschrittliche und ganz sozialdemokratische Bevölkerung. Heute macht die israelische Politik einen ähnlichen Eindruck wie zum Beispiel die polnische. Angesichts der anhaltenden Korruptionsvorwürfe gegen Minister und Ministerpräsidenten ist man sogar versucht, die israelische Regierung derjenigen eines Drittweltstaates gleichzusetzen. Allerdings stehen die wenigsten Drittweltstaaten unter einem vergleichbaren Drohungsdruck von allen Nachbarn wie Israel. Und vor allem: Aus Israel hört man nach wie vor, neben den Stimmen liberaler und fortschrittlicher Geister, eine unabhängige Justiz.

Aber da sieht man's schon wieder: Kaum ärgert man sich über die Neonazis, schon ist man daran, Israel Zensuren zu erteilen. Das ist doof, ich entschuldige mich dafür. Und ich wünsche Euch, geschätzte Hörerinnen und Hörer, vor allem einen guten Feiertag. Einen Tag, an welchem einmal im Jahr die einfachen, normalen Menschen im Vordergrund stehen, die eigentlich nach wie vor den Anspruch haben, dass die Welt ihnen gehört. Ihnen, nicht dem Kapital, und auch nicht einzelnen Nationen.

Kommentare
12.05.2018 / 19:08 Attac Magazin, radio flora, Hannover
Danke!
gesendet am 08.05.