Grießbrei und Brechreiz: Nazi-Überfall auf ein Ost-Punk-Konzert in der Dresdner Martin-Luther-Kirche vor 30 Jahren

ID 95166
 
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Anmod: Weit weg von FDJ und Pionierorganisation erwuchs in der Vorwendezeit in der DDR eine breite sub- und jugendkulturelle Bewegung. Vor genau 30 Jahren gab es in der Dresdner Martin-Luther-Kirche ein Punk-Konzert mit Gruppen wie Brechreiz, 0815 oder Grießbrei. Dresdner Neonazis versuchten damals, das Konzert anzugreifen. Die Punks in der Kirche wehrten sich. Jenz Steiner sprach mit Hagen Oppelt, der damals selbst aktiver Teil dieser bewegung war und jetzt ein Special über dieses Ereignis, das man heute als Vorboten der politischen Wende in der DDR betrachten kann.
Audio
05:25 min, 12 MB, mp3
mp3, 320 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 06.05.2019 / 20:02

Dateizugriffe: 2251

Klassifizierung

Beitragsart: Interview
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Religion, Musik, Jugend, Kultur, Politik/Info
Entstehung

AutorInnen: Jenz Steiner, Hagen Oppelt
Radio: coloradio, Dresden im www
Produktionsdatum: 06.05.2019
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Jenz Steiner: Heute habe ich nach langer Zeit mal wieder jemanden auf der Straße mit einem „Punks not Dead“ Aufnäher auf der Jacke gesehen. Heute ist der sechste Mai 2019. Wieder so ein Jahr voller runder Jahrestage. Drehen wir die Zeit einfach mal 30 Jahre zurück, da war Punk in der DDR, in Sachsen, im Bezirk Dresden gerade frisch geboren. Vor der Sendung sprach ich mit Hagen Oppelt. Er war damals Teil dieser frischen Jugendkultur. Mit den Ereignissen vor drei Jahrzehnten befasst er sich in seiner nächsten Radiosendung.

Hagen Oppelt:
Heute genau vor 30 Jahren war ein legendäres Punk-Konzert in der Martin-Luther-Kirche auf dem Martin-Luther-Platz, am 6. Mai 1989 unter dem Motto „Boots für Nicaragua“. Das war so besonders, weil zu DDR-Zeiten keine Punk-Konzerte offiziell stattfanden, außer die FDJ-Punk-Bands Feeling B, Die Skeptiker, Die Anderen, Die Art, die durften dann schon auf FDJ-Veranstaltungen spielen und haben das dann auch gemacht, aber so die Untergrund-Punkbands, die haben das dann auch gemacht. Aber so die Untergrund-Punkbands haben sich in Kirchen getroffen oder in Gemeindezentren.

Jenz Steiner: In der DDR der späten Achtziger Jahre entwickelten sich die Evangelischen Kirchen zu Freiräumen für junge Subkulturen. Bekanntestes Beispiel dafür war die Zionskirche in Berlin Prenzlauer Berg. Möglich wurde das einerseits durch den Burgfrieden zwischen Kirche und Staat, andererseits aber auch durch das Engagement vieler Pfarrer und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Diakonie.

Hagen Oppelt:
Und ich habe letztens mit dem Veranstalter gesprochen, von dem Konzert. Da wird es auch nächste Woche hier im coloRadio eine Sendung geben, ein Special. Und der hatte mir auch erzählt, die hatten viel Jugendarbeit gemacht. Die hatten im Süden von Dresden ihren Stützpunkt und hatten dort bis zu hundert Punk-Kids, die sich dort bei denen trafen. Gegen Ende der Achtziger, so kurz vor der Wende waren die Repressionen wirklich sehr hart gegen die Punks. Die wurden auf der Straße von Cops aufgegriffen. Es wurden ihnen die Leerjacken abgeknöpft, sie wurden in Gewahrsam genommen und im Gewahrsam wurde denen der Iro abgeschnitten. Also das ist nicht so Ponyhof gewesen wie in Brandenburg oder Berlin. Da hatten diese Mitarbeiter der Diakonie sich gedacht, wir müssen mal was für die Punks machen und haben dann dieses Punkkonzert in der Luther-Kirche veranstaltet.

Jenz Steiner; Das sagte mir vor der Sendung Hagen Oppelt. Er war damals Teenager . Interessant ist in dem Zusammenhang natürlich auch, wie diese junge Szene trotz aller Repressalien miteinander kommuniziert hat. Wie man denn als Punk-Fan erfahren hat von Konzerten von Gruppen wie Brechreiz, 0815, Atonal oder Grießbrei, die hier heute vor 30 Jahren in der Martin-Luther-Kirche aufgetreten sind.

Hagen Oppelt:
Ich wollte es einfach nicht unerwähnt lassen. Weil das ist für mich zu wichtig. Ich war da 18, bin hier nach Dresden gekommen aufgrund eines Telegramms vom Jauche. In diesen Telegrammen standen immer bloß Datum und Ort. Und wenn Adresse, Absender: Mario sowieso drauf stand, wussten wir, da lohnt es sich hinzufahren. Da gibt es eine Punk-Sause, Party, Konzert, Fete, Freibier, irgendwas. Das war natürlich überraschend, als wir da ankamen. Damit das nicht in Vergessenheit gerät, habe ich den Organisator von der Diakonie vor drei Wochen kontaktiert, habe mir die Tapes von ihm geben lassen, bin jetzt dabei, die Tapes zusammenzuschneiden und von jeder band einen vernünftigen Song rauszuhören und dann so ein bisschen Information. Und da kommt mir natürlich super zugute, dass ich heute, 20 Uhr ins Café Laika gehe, auf der Kamenzer Straße 20. Dort ist heute ein Treffen von mehreren Leuten, auch der bassist von einer band von damals ist da. Diese Veranstaltung heißt: „Kannst Du mal kurz meinen Bass halten?“ Und als ich das gehört oder gelesen habe, dass diese Veranstaltung ist und wie die heißt, hat es in meinem Kopf gegrübelt. Da fiel mir ein, dass bei dem Konzert damals wirklich, da war ja ein Nazi-Überfall, fünfzig bis hundert Nazis kamen aus allen möglichen Richtungen, aus der Böhmischen Straße, aus der Luther-Straße, von unten, von der Bautzener hoch. In der Kirche hatte dann die Band, die gerade spielte, gesagt: Hier draußen ist ein Nazi-Überfall, kommt mal alle mit raus. Und da hört man auf dem Tape, wie der Bassist sagt: „Ey, kann mal einer hier kurz meinen Bass halten“. Und dann gibt der seinen Bass ab, geht raus, kloppt sich, kommt dann irgendwie nach zehn Minuten wieder rein und dan spielt die Band weiter. Das ist total lustig. Da freue ich mich, also auch jetzt, weil da werde ich auch noch ordentlich Hintergrundinformationen für meine Sendung nächste Woche kriegen.

Jenz Steiner: Wen das Thema brennend interessiert, kann heute eine Veranstaltung dazu in der Bar Laika hier in Dresden in der Kamenzer Straße 20 besuchen. „Kannste mal kurz mein Bass halten“ heißt die.
Die Disharmonic Noise Conspiracy Sendung zum Boots für Nicaragua Konzert in der Martin-Luther-Kirche in Dresden läuft hier auf coloRadio am 13. Mai von 21 bis 23 Uhr, mit Original-Konzertmitschnitten der DDR-Punkbands und Interviews mit Protagonisten aus der Vorwendezeit.