"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - USP für SPD

ID 96132
 
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Mit der Sommerhitze naht endlich auch das Ende des Einprügelns auf die Sozialdemokratie, an welchem ich hin und wieder selber teilgenommen habe oder weiterhin teilnehme; dabei will ich trotzdem nicht vergessen, dass viele Parteimitglieder und auch zahlreiche Exponentinnen und Exponenten dieser Partei nach wie vor Menschen mit tiefen Überzeugungen sind, mit denen man ein Bier trinken und ein Gespräch führen kann, ohne dass man sich am nächsten Tag dafür schämen muss, ganz im Gegenteil.
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10:46 min, 19 MB, mp3
mp3, 248 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 02.07.2019 / 11:44

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Kultur, Arbeitswelt, Internationales, Wirtschaft/Soziales, Andere
Serie: Aus Neutraler Sicht
Entstehung

AutorInnen: Albert Jörimann
Radio: Radio F.R.E.I., Erfurt im www
Produktionsdatum: 02.07.2019
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Das Festhalten an Rechten für Arbeitnehmende, an Vertragssicherheit und an angemessenen Löhnen in stabilen Arbeitsverhältnissen zum Beispiel ist durchaus nicht ehrenrührig, auch wenn man sich immer wieder Gedanken machen muss über die wirtschaftlichen Kräfte, welche die Grundlagen dieser Arbeitsverhältnisse immer mal auf den Kopf stellen. Dies haben wir nicht nur bei der Kohleindustrie gesehen, sondern es ereignet sich vor unser aller Augen täglich und zunehmend auch im Dienstleistungssektor, den man bis vor wenigen Jahren mehr oder weniger geschützt wähnte vor der Automatisierung, nicht zuletzt deshalb, weil man ihn lange gar nicht so richtig ernst nahm als wirtschaftlichen Faktor; tatsächlich haben Menschen mit sozialdemokratischer, aber auch sozialistischer und kommunistischer Denktradition einen Hang, sich an die alten produktivistischen Theorien von Marx zu klammern, die im Grunde genommen gar nicht besonders marxistisch, sondern ziemlich identisch mit den bürgerlichen Wirtschaftstheorien waren, um dies auch wieder mal zu sagen. Marx unterschied sich von den bürgerlichen hauptsächlich in den politischen Folgen, die er aus der Wirtschaftstheorie zog. Aber egal. Es reicht jetzt auf jeden Fall mit den billigen Witzen auf Kosten der Sozialdemokratie, und wir wollen annehmen, dass es der Partei gelingt, ihre Grundsätze anzupassen und anzureichern mit den Vorgaben einer umweltverträglichen Wirtschaft und, wichtiger noch, mit der Betonung der aufgeklärten, humanistischen Grundlagen ihres Weltbildes, konkret: Mit lauten Parolen, dass alle Menschen gleich sind und gleiche Rechte haben, auch die Damen und Herren in anderen Teilen der Welt, welche in Europa vermehrt als Flüchtlinge und MigrantInnen auftreten – auch sie haben Rechte, Bedürfnisse sowieso und das, was in den Vereinigten Staaten so lange so hoch gehalten wurden, den Drang, nach Glück zu streben. Vielleicht gelingt es den Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sogar, hier eine Unique Selling Proposition zu erarbeiten, indem sie einen Vorschlag machen, wie das Streben nach Glück vereinbar ist mit den Anforderungen und Bedürfnissen jener Gesellschaft, in welche die Migrantinnen eintreten, also mit der europäischen und deutschen Gesellschaft, welche sich bekanntlich ihrerseits im Wandel befindet. Besonders schwierig erscheint mir dies übrigens nicht.

Ich habe schon immer gesagt, dass es undenkbar sei, die Grenzen bedingungslos zu öffnen, und für diese Einsicht hätte es der Reaktion der deutschen, österreichischen, ungarischen und italienischen Gesellschaft bei Weitem nicht bedurft. Ich habe keine Zahlen genannt, aber auch das kann man machen: Man kann sagen, dass in Europa pro Jahr, was weiß ich, 5 Millionen Zuwandererinnen aus Afrika zu integrieren sind, das wäre ungefähr ein Prozent der Bevölkerung, das ist nicht besonders viel, es ist aber auch nicht nichts; falls sich der Integrationsprozess besonders gut anlässt, kann man den Anteil erhöhen, wenn nicht, kann man ihn reduzieren, aber das ist mal eine Zielvorgabe. Für Urban Orban kann man sich ausrechnen, dass damit die bestehende europäische Urbevölkerung, die hier direkt von seiner Heiligkeit dem Lieben Gott eingesetzt wurde, innerhalb von 100 Jahren ausgetauscht würde, denn 100 Mal ein Prozent ergibt bekanntlich 100 Prozent. Beweis geführt.

So etwas sollte man aber nicht im Rahmen von Asylverfahren organisieren, sondern entweder mit einem System wie den US-amerikanischen Green Cards, das ich im Übrigen nicht im Detail kenne, aber das wären Einwanderungsgutscheine, die unter den Interessierten in den Herkunftsländern ausgelost werden. Es kann auch ein anderes System sein, aber irgend etwas in dieser Richtung müsste man ausarbeiten.

Das Asylrecht sollte nicht mehr das Schwungrad sein für all jene, die eben ihr Glück suchen, sondern für Notfälle reserviert werden. Auch hier gilt: Weder Europa noch Deutschland können die Ungerechtigkeiten in den Entwicklungsländern mit dem Mittel des Asylrechts ausgleichen. Das ist hart, aber wahr. Für Krisen- und Kriegsgebiete gibt es zwei Handlungsstränge: Hilfeleistungen an die Nachbarländer zum einen, welche in der Regel die große Mehrheit der Betroffenen verpflegen und aufnehmen, und zum anderen die Ursachenbekämpfung.

Allerdings ist Ursachenbekämpfung kein Ding des kleinen diplomatischen Einmaleins. Wie will man den Nahen Osten stabilisieren, wo im Grunde genommen der Iran und Saudiarabien einen Religionskrieg mit dem Mittel der Wirtschaft oder einen Wirtschaftskrieg mit dem Mittel der Religion austragen? Als wichtigster Akteur neben diesen beiden spielen die USA mit ihrem Vorposten Israel eine gewaltige Rolle und haben objektiv gesehen kein besonderes Interesse daran, den Konflikt ganz beizulegen – einmal abgesehen davon, dass er in den nächsten Jahren sowieso nicht als beilegbar erscheint –, sondern daran, die Erdölreserven in der Region offen zu halten für sich und für ihre anderen Alliierten, also zum Beispiel die Europäerinnen und Europäer.

Wer mir hier einen verständlichen Plan für die Ursachenbekämpfung, also zum Beispiel für einen interreligiösen Dialog zwischen Schia und Sunna beibringt, der kriegt von mir in einer öffentlichen Zeremonie im Schauspielhaus 50 Euro bar auf die Hand.

Die Ursachenbekämpfung, mit anderen Worten, ist eine schwierige und langwierige Angelegenheit, aber die andere Seite, nämlich die Einwanderungspolitik, die kann man mit wenig Aufwand durchaus anständig regeln in einer Art und Weise, dass es niemandem die Schamröte ins Gesicht treibt.

Eine Frage, die dabei noch eine Rolle spielt, ist jene nach dem Abfischen der Migrantenboote aus dem Mittelmeer. Eine Einwanderungspolitik im vorher beschriebenen Sinne würde vermutlich dem Streben nach Glück in Europa zunächst keinen Abbruch tun, das heißt, solange die libysche Mittelmeerküste offen bleibt, weil es in diesem Land keine staatliche Macht gibt, solange drängen weiterhin die entschlossenen Auswandererinnen auf diesem Weg übers Meer. Ich sehe hier verschiedene Möglichkeiten, aber keinerlei Lösung, welche auch nur entfernt moralisch zu begründen wäre. So habe ich zum Beispiel ein gewisses Verständnis für die Sperrung der italienischen Häfen für Flüchtlingstransporte, auch wenn ich selbstverständlich gegen die Maßnahme bin. Aber es ist eine Tatsache, dass sich über längere Zeit hinweg die MigrantInnen darauf verlassen haben, dass sie entweder aus eigener Kraft den Mittelmeertümpel überwinden können oder aber von den Flüchtlings-Notretterschiffen aufgenommen werden, dass also das Sterberisiko auf dieser Überfahrt, sagen wir mal nicht 80 Prozent, sondern 20 Prozent sei. Das hat die Migration ohne Zweifel mit alimentiert.

Will man die Boote nun aber abfischen, dann muss man mit dem Menschengut auch irgendwo hin, und das will zuvor überlegt sein. Wenn man sagt, dass Europa die Zuwanderung aus Afrika über Green Cards regelt, dann muss die ungeregelte Zuwanderung eine andere Regelung finden, was vom Rücktransport in die Herkunftsländer bis zur Einrichtung von synthetischen Einwande­rungsorten für solche Menschen gehen kann und vermutlich noch darüber hinaus. Mit synthetischen Einwanderungsorten meine ich Retortenstädte, wie man sie früher hin und wieder gebaut hat, zum Beispiel die brasilianische Hauptstadt Brasilia; ob man solche Orte in verlassenen Gegenden in Europa errichtet, von denen es durchaus welche gibt, oder ob man sie in anderen Weltgegenden einrichtet, ist eine Frage, die ich nicht hier am Reißbrett entscheiden muss – ganz im Gegensatz zum Beispiel zur Sozialdemokratischen Partei, welche, wie gesagt, mit der Skizze eines solchen Einwanderungsmodells auf der Grundlage eines aufgeklärten Menschenbildes eine einmalige Chance hätte, in Zukunft politisch Punkte zu machen. Das wäre auch ein schönes Zeichen im Race to the bottom, also im Rennen nach rechts, dass man da endlich wieder mal eine laute Stimme aus der Tradition der Aufklärung und der Republikanerinnen, um nicht zu sagen der Jakobinerinnen zu hören erhielte.

Die effizienteste Hilfe in der Migrationsfrage leistet jedoch ohne Zweifel die Verbesserung der Strukturen in der Herkunftsländer, und da ist nicht alle Hoffnung verloren. Die Bank für Inter­na­tionalen Zusammenarbeit, also die Zentralbank aller Notenbanken, stellt zum Beispiel in ihrem Jahresbericht den Schwellenländern für die letzten zwanzig Jahre relativ gute Zensuren aus für die Bekämpfung der Inflation in ihren Ländern und für die Integration in den Welthandel, welche ich hier der Einfachheit halber mal als natürliche Tendenz zur Verbesserung der Lebensbedingungen für die Menschen in der Dritten Welt unterstelle. Dass es daneben auch andere Modelle gibt, namentlich der lokalen und regionalen und umweltschonenden Produktion und so weiter, ist mir völlig klar, sie sind bisher bloß noch nicht in relevantem Maße in Erscheinung getreten – sollte sich dies in absehbarer Zeit oder gar schnell ändern, umso besser.

Laut der BIZ haben vor allem die Schwellenländer ihre Devisenreserven erheblich erhöht, ander­seits waren sie bei der Inflationsbekämpfung erfolgreich und weisen also eine finanzpolitische Stabilität aus trotz den zum Teil erheblichen Verwerfungen auf den internationalen Geld- und Kapitalmärkten, vor allem rund um die Finanzkrise vor zehn Jahren. Selbstverständlich gibt es zum Teil erhebliche Unterschiede innerhalb dieser Gruppe, und selbstverständlich haben die niedrigen Zinsen auch dort zu einer raschen Ausdehnung der Verschuldung geführt, was die BIZ wie alle anderen Ökonominnen und Ökonomen für riskant hält. Aber insgesamt gute Zensuren, vor allem dank der Priorität bei der Inflationsbekämpfung. Dazu trug auch bei, dass die Schwellenländer von der Finanzkrise weniger stark betroffen waren, dass sie anderseits zunehmend ins internationale Finanzsystem integriert sind. Was die Wirtschaft und namentlich die Exportwirtschaft angeht, so steht die Inflationsbekämpfung nicht so im Vordergrund, weil die entsprechenden Verträge in der Regel auf US-Dollar lauten und also nicht von der Inlandwährung abhängen.

Und in diesem Zusammenhang abschließend eine interessante Bemerkung im BIZ-Bericht: Die Bedeutung der Handelsfinanzierung habe zugenommen, da die weltweiten Wertschöpfungsketten sich verlängert hätten, was wiederum höhere Ressourcen zu ihrer Finanzierung voraussetzt. Und all dies findet offenbar nach wie vor praktisch ausschließlich in US-Dollar statt.