Über Dublin nach Ljubljana

ID 9987
 
Eigentlich eine Formalie. Die Familie Avdija, Angehörige der Ashkali Minderheit im Kosovo, war wegen anhaltender Verfolgung seitens der albanischen Bevölkerungsmehrheit geflüchtet. In Slowenien wurde die Familie erstmals aufgegriffen und stellte, um nicht abgeschoben zu werden, einen Asylantrag. Weil sie im Asyllager in Ljubljana wiederum mit Kosovo Albanern, die dort ebenfalls um Asyl nachgesucht hatten, konfrontiert war, flüchtete die Familie weiter nach Deutschland. Hier wurde sie aufgegriffen. Der Asylantrag wurde nicht bearbeitet, weil die deutschen Behörden feststellten, dass die Familie über Slowenien eingereist war. Nach der EU weit gültigen Dublin II Verordnung war also Slowenien für das Asylverfahren zuständig. Die Familie wurde abgeschoben. Ein üblicher, im wesentlichen bürokratischer Vorgang. Hört man die Stellungnahmen des bayerischen Innenministeriums, ist die Abschiebung ohne Komplikationen verlaufen und erfolgreich abgeschlossen. Zu den Akten damit? Der Bayerische Flüchtlingsrat war schon im Vorfeld der eigentlichen Abschiebung auf die Familie aufmerksam geworden und recherchierte nach. Zwei Mitarbeiter suchten die Familie in Ljubljana auf und führten Interviews. Was darin über den Verlauf der Abschiebung berichtet wurde, zeigt die Entmenschlichung der bürokratischen Abschiebeprozeduren und des europäischen Verteilsystems Dublin II.
Audio
31:57 min, 29 MB, mp3
mp3, 128 kbit/s, Mono (44100 kHz)
Upload vom 08.08.2005 / 18:17

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Klassifizierung

Beitragsart: Gebauter Beitrag
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info
Entstehung

AutorInnen: Stephan Dünnwald
Kontakt: andraschn(at)web.de
Radio: LoraMuc, München im www
Produktionsdatum: 08.08.2005
keine Linzenz
Skript
Moderationen AVDIJA
Die Flüchtlingszahlen in Deutschland fallen rapide. Das hat nichts damit zu tun, dass es weniger Flüchtlinge gäbe. Knapp 20 Millionen sind es nach Schätzungen des Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen weltweit. Doch die Hürden um Europa und Deutschland werden immer höher, immer weniger Flüchtlingen gelingt es, ins Land zu kommen und einen Asylantrag zu stellen.
Angesichts dieser Situation sollte man meinen, dass nun mit denjenigen, die hier sind, wenn nicht generös, so doch einigermaßen fair umgegangen wird. Weit gefehlt. Nie waren die Anerkennungszahlen für Flüchtlinge niedriger als heute. Selten waren Innenministerien und Ausländerbehörden so darauf erpicht, Flüchtlinge auf die eine oder andere Art aus dem Land zu schaffen. Eines der Verfahren, das immer mehr Gewicht bekommt, ist das EU-interne Verteilverfahren nach der Dublin II Verordnung. Diese Europäische Verordnung besagt, dass das Land für einen Flüchtling und die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist, über welches der Flüchtling in die EU eingereist ist. Deutschland, inzwischen von lauter EU-Staaten umgeben, hat es da leicht. Wenn nachgewiesen werden kann, wie ein Flüchtling nach Deutschland eingereist ist, dann kann das entsprechende Nachbarland ersucht werden, den Flüchtling zurückzunehmen. Rund ein Fünftel aller Asylantragsteller sind inzwischen sogenannte Dublin-Fälle. Hier wird die Aufnahme eines Asylverfahrens abgelehnt, der Flüchtling wird umgehend nach Polen, Tschechien oder Italien abgeschoben. Geprüft wird nicht, aus welchem Grund jemand geflüchtet ist, oder, ob es Gründe gibt, von einer Abschiebung abzusehen. Wenn das Transitland identifiziert ist und der Rücknahme zustimmt, wird die Person abgeschoben, komme was da wolle.
Mit welcher Härte dieses Verfahren im Einzelfall durchgeführt wird, zeigt die Geschichte der Familie Avdija, Angehörige der Ashkali-Minderheit aus dem Kosovo. Die Familie, Vater, Mutter, vier Kinder im Alter von 10 bis 16 Jahren und der 19-jährige Bruder des Vaters, war wegen anhaltender Verfolgung durch die albanische Mehrheitsbevölkerung im Kosovo geflüchtet und über Slowenien nach Deutschland gekommen. Sie wollten weiter nach Skandinawien, wo Verwandte der Familie wohnen. In Stuttgart wurden sie im Winter aufgegriffen und nach Zirndorf in die Zentrale Erstaufnahmeeinrichtung gebracht.
Nachdem das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge festgestellt hatte, dass die Familie schon in Slowenien einen Asylantrag gestellt hatte, wurde das Asylverfahren eingestellt und die Abschiebung angekündigt. Sofort wurden der Vater und sein jüngerer Bruder in Haft genommen, angeblich, um ein Untertauchen der Familie zu verhindern. Der Bruder wurde kurze Zeit später nach Slowenien abgeschoben, ein Versuch, den Familienvater alleine abzuschieben, wurde vom Petitionsausschuss des Landtags in letzter Minute gestoppt. Die Verhaftung des Vaters ließ die Traumatisierung der Ehefrau wieder aufbrechen, sie unternahm im Abstand weniger Wochen zwei Suizidversuche und wurde ins Bezirkskrankenhaus Erlangen eingeliefert. Frau Avdija leidet obendrein an Ohnmachtsanfällen sowie unter Erregungsschüben, in denen sie die Kontrolle über sich verliert. Von den behandelnden Ärzten wird dies auf die Traumatisierungen zurückgeführt, die sie durch die Verfolgung ihrer Familie im Kosovo erlitten hat. Eine Begutachtung und längerfristige Behandlung wurde vom Bezirkskrankenhaus Erlangen angeraten. Die Kinder, ohne Vater und Mutter, wurden in einer Einrichtung der Jugendhilfe untergebracht.
Erwin Bartsch, Gemeindepädagoge von Sankt Rochus in Zirndorf, war einer der wenigen, die Anteil am Schicksal der Familie nahmen. Er und einige Freunde aus dem Asylkreis Zirndorf besuchten die Kinder, fuhren mit ihnen ins Gefängnis, um den Vater, und in die Psychiatrie, um die Mutter zu besuchen. Nachdem die Abschiebung des Vaters gescheitert war und er wieder freigelassen werden musste, konnten die Kinder wieder mit dem Vater im Lager in Zirndorf leben. Der Versuch, den Vater allein abzuschieben, zeigte schon, dass die mit dem Fall befasste Zentrale Rückführungsstelle in Zirndorf keine Skrupel hatte, die Abschiebung um jeden Preis durchzusetzen.
Wie hoch dieser Preis war, konnte erst ermessen werden, nachdem die Abschiebung der Familie nach Slowenien am 1. Juli tatsächlich stattfand. Zunächst war der Kontakt abgebrochen, doch Erwin Bartsch konnte über Hilfsorganisationen in Slowenien die Familie ausfindig machen. Am 20. und 21. Juli unternahm der Bayerischen Flüchtlingsrat dann eine Recherchereise zur Familie, um Unterstützungsmöglichkeiten zu klären und auch den Verlauf der Abschiebung zu rekonstruieren.
Am 26. Juli stellte der Bayerische Flüchtlingsrat gemeinsam mit Erwin Bartsch die vorläufigen Ergebnisse der Recherche der Presse vor. Im Mittelpunkt des präsentierten Materials stehen der Bericht von Erwin Bartsch über die Zeit vor der Abschiebung sowie zwei Interviews, die in Ljubljana mit der Familie geführt worden sind, und in denen die Familie detailliert den Ablauf der Abschiebung beschreibt.
1 Erwin

Der Bericht der Familie dokumentiert ein Verhalten der vollziehenden Behörden, das grundlegendste menschliche, ethisch und medizinisch gebotene Regeln verletzt. Über 16 Stunden, von morgens um vier Uhr bis zur Ankunft am Flughafen Ljubljana um 20 Uhr, war die Familie in der Gewalt der Abschiebebeamten.
1 Matt 1’45
Der erste Abschiebeversuch mit einer Linienmaschine der Adria Airways scheiterte, weil der Pilot sich weigerte, die kollabierende Frau zu transportieren. Anschließend wurde die Familie zunächst nach Feucht gebracht und dort festgehalten. Erwin Bartsch wartete in Zirndorf vergebens auf die Rückkehr der Familie.
2 Erwin 1’50
Von Feucht wurde die Familie nach Ingolstadt gefahren, wo sie wiederum getrennt untergebracht wurde. Die Mutter wies hier nochmals die Beamten darauf hin, dass sie Flugangst habe und dass sie deshalb nicht fliegen wolle. Ihr wurde mitgeteilt, dass es so angeordnet sei und nicht zu ändern. In Ingolstadt hatten die Behörden eine private Chartermaschine gemietet.
Nach wiederum mehrstündiger Wartezeit, während der die Kinder von den Eltern getrennt eingesperrt waren, wurde die Familie in getrennten Fahrzeugen zum Flughafen Ingolstadt gefahren. Die Transporter fuhren direkt aufs Rollfeld. Die Mutter wurde aus ihrem Fahrzeug geholt und von fünf Beamten zum wartenden Flugzeug transportiert. Sie hatte wiederum die Kontrolle über sich verloren, wurde jedoch von den Beamten gewaltsam ins Flugzeug gebracht. Dabei wurde ihr der Arm so auf den Rücken gedreht, dass sie Tage später, bei einer ärztlichen Untersuchung in Ljubljana, einen Gips bekam. Die Kinder saßen derweil im zweiten Transporter und mussten hilflos zusehen, wie ihre Mutter zum Flugzeug geschleift wurde. Im Flugzeug erlitt die Mutter wieder einen Ohnmachtsanfall. Die Kinder und der Ehemann wurden von den Begleitbeamten daran gehindert, ihr zu Hilfe zu kommen. Auch der begleitende Polizeiarzt kümmerte sich nicht um die ohnmächtige Frau. Erwin Bartsch sieht darin eine besondere Rücksichtslosigkeit.
3 Erwin 2’12’’
Weder auf die Krankheit der Mutter noch auf die Kinder wurde bei der Abschiebung Rücksicht genommen. Dementsprechend sind die Schlüsse, die Erwin Bartsch und Matthias Weinzierl aus den Vorgängen ziehen.
Konsequenzen 7’00’’
Erwin Bartsch und Matthias Weinzierl werden den Kontakt zur Familie halten, vielleicht auch ein weiteres Mal nach Slowenien fahren, um die Familie weiter zu unterstützen. Erfreulicherweise ist die Situation der Familie in Slowenien zwar kritisch, aber Slowene Philanthropy, eine engagierte Menschenrechts-Organisation, sowie die staatliche Flüchtlingsbetreuerin der Asylunterkunft setzen sich mit Unterstützung des UNHCR Slowenien für die Familie ein. Sie besorgen einen Anwalt für das Asylverfahren, kümmern sich um eine Behandlung und Therapie der nach wie vor schwer kranken Frau Avdija und versuchen die Unterbringung der Familie außerhalb der Unterkunft zu erreichen. Der Bayerische Flüchtlingsrat wird diese Bemühungen unterstützen und begleiten.

Hören Sie im Folgenden die Zusammenfassung des Interviews, das der Bayerische Flüchtlingsrat mit Zejnepe Avdija, der 16-jährigen Tochter, führte. Das Gespräch wurde übersetzt von der Sozialbetreuerin der Zentralen Aufnahmestelle für Flüchtlinge in Ljubljana, Slowenien.
Tochter Mixdown 7’50’’
In Postojna, einem Haftzentrum für Ausländer, wurde die Familie fünf Tage inhaftiert. Dann konnte sie einen neuen Asylantrag stellen und wurde ins Asylzentrum nach Ljubljana überstellt, wo auch die Interviews geführt wurden.

Aus dem Bericht der Familie Avdija zum Verlauf ihrer Abschiebung zieht der Bayerische Flüchtlingsrat mehrere Konsequenzen. Zunächst wird man das Bayerische Innenministerium und den Bundesgrenzschutz auffordern, eine unabhängige und umfassende Untersuchung der Durchführung der Abschiebung zu veranlassen. Die Ergebnisse der Recherche sollen außerdem dem Petitionsausschuss des Bayerischen Landtags zugeleitet werden, wo die Frage der Abschiebung trotz Behandlungsbedürftigkeit noch einmal thematisiert werden wird.
Weiter stellt sich die Frage, wie die behandelnden Ärzte des Bezirkskrankenhauses die Abschiebung Frau Avdijas gestatten konnten. Die im Bericht deutlich hervortretende Rolle des die Abschiebung begleitenden Arztes wirft grundsätzlich die Frage nach der ethischen Verantwortung von Medizinern im Zusammenhang mit Abschiebungen auf. Auch dem bayerischen Innenminister Günther Beckstein sollen die Ergebnisse der Recherche zugestellt werden mit dem Appell, dass Maßnahmen ergriffen werden, die nachhaltig absichern, dass Exzesse der Rücksichtslosigkeit bei Abschiebungen künftig nicht stattfinden.
Die Antwort des Innenministeriums kam umgehend. Nach der Pressekonferenz des Bayerischen Flüchtlingsrats gab Innenstaatssekretär Georg Schmid eine Pressemitteilung heraus. Lapidar werden die Berichte des Bayerischen Flüchtlingsrats als unhaltbar zurückgewiesen. Der Flüchtlingsrat habe – Zitat - „offensichtlich völlig ungeprüft Schilderungen der Familie übernommen, die mit der Realität nichts zu tun haben und bereits bei oberflächlicher Prüfung als falsch hätten entlarvt werden können.“
Die Gewaltanwendung gegenüber Frau Avdija beim Transport ins Flugzeug ist nach Aussage des Innenstaatssekretärs Schmid „in angemessener Weise situationsangepasst erfolgt“. Was das auch immer heißen mag.