Focus Europa Nr. 168 vom Mittwoch, den 20.9.2006

ID 13925
 
Beitrag zur Sechs-Städte-Tournee wichtiger ukrainischer AutorInnen organisiert vom Freiburger Literaturbüro,

Nachrichten: FAZ und junge Welt zu Ausschreitungen in Ungarn, Bundestag schickt dt. Soldaten in den Libanon, Einschätzungen der Hintergründe der NPD-Wahl in MacPom
Audio
16:30 min, 15 MB, mp3
mp3, 128 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 20.09.2006 / 12:35

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Klassifizierung

Beitragsart: Magazin
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info, Kultur
Serie: Focus Europa
Entstehung

AutorInnen: hanne, viktioria
Radio: RDL, Freiburg im www
Produktionsdatum: 20.09.2006
keine Linzenz
Skript
In der ungarischen Hauptstadt Budapest ist es die letzten Nächte zu Ausschreitungen gekommen. Am gestrigen Abend hatten zunächst über zehntausend Menschen friedlich den Rücktritt des sozialistischen Ministerpräsident Gyurcsany gefordert. Später warfen kleine Gruppen von Demonstranten Steine und andere Gegenstände auf Polizisten, die Tränengas und Wasserwerfer einsetzten. In der Nacht zum Dienstag waren bei Krawallen bereits über 150 Menschen verletzt worden. Auslöser der Proteste war die Veröffentlichung eines Tonbandprotokolls, in dem der ungarische Regierungschef der sogenannten Sozialisten erklärte, er habe vor seiner Wiederwahl die Bevölkerung über den Zustand der Wirtschaft belogen. Die zum teil gewalttätigen Demonstranten kommen aus dem recghtsradikalen Milieu Ungarns.
Ironie der Geschichte: Vor 50 Jahren im Jahre 1956 erhob sich gegen die realsozialistische Nomenklatura eine Protestbewegung, die die einen als antikommunistischen Aufstand feiern, der mit den jetzigen Krawallen gegen die sog. Reformen und eingestandenen Lügen nichts zu tun haben. Andere sehen Ähnlichkeiten zwischen den beiden Revolten. Hören Sie zwei Kommentare, zum einen aus der FAZ, zum anderen aus der jungen welt.- "Weder die Lage im Lande noch die Ziele der Randalierer taugen als Anknüpfung an die heldenhaften Tage vor fünfzig Jahren. Jetzt geht es nicht um den Kampf gegen eine Diktatur und deren ausländische Schutz- und Besatzungsmacht. Jetzt geht es um ein Reformprogramm, das die Demonstranten in seinen Einzelheiten gar nicht kennen. Die Regierung Gyurcsány ist in eine Krise geraten, die sie aber ohne weiteres bestehen kann. Die Veröffentlichung einer vertraulichen Schweiß- und Tränenrede bringt den sozialistischen Regierungschef wohl auch gegenüber Brüssel in Erklärungs-, aber nicht in Existenznöte", meint die F.A.Z.
"Was Ferenc Gyurcsany hinter verschlossenen Türen zum Besten gab, war nicht als Selbstanklage gemeint. Seine Rede war eher im Ton eines Herrenwitzes über die Dummheit des Stimmviehs gehalten", so Werner Pirker von der tageszeitung junge Welt. Er schreibt weiter:
"Daß die ordinären Auslassungen des ungarischen Premiers überhaupt publik wurden und dann eine solche Massenwut auslösten, liegt vor allem in der Aggressivität der Opposition begründet. Die populistische FIDESZ ist keine Partei, die Wahlniederlagen gelassen hinnimmt und geduldig auf die nächste Chance wartet. Sie ist eine hyperaktive Bewegung, die das Land mit »Bürgerkomitees« als potentielle Aufstandsorgane überzogen hat und eine fast »jakobinische« Radikalität an den Tag legt. Die nährt sich allerdings aus einem tradierten Antikommunismus, der sich nun gegen die Postkommunisten richtet. Und da zieht ein Premier, der es vom kommunistischen Jugendfunktionär zum Milliardär gebracht hat, naturgemäß allen Unwillen auf sich. Zumal dessen Regierung dem Land einen rücksichtslosen »Sparkurs« verordnete, das heißt eine noch stärkere Abwälzung der Lasten nach unten – zum Zweck der Gewinnsteigerung. Unter welchen ideologischen Vorzeichen die Massenproteste auch verlaufen mögen: Sie sind Ausdruck einer tiefen sozialen Unzufriedenheit. Die Schändungen sowjetischer Soldatengräber erinnern an den konterrevolutionären Aufstand von 1956. Doch auch der trug Elemente legitimen sozialen Protestes gegen die Funktionärsherrschaft in sich."




Der Bundestag in Berlin entscheidet heute über die deutsche Beteiligung an der UNO-Friedensmission im Libanon. Nach Probe-Abstimmungen in den Fraktionen gilt eine deutliche Mehrheit als gesichert. Das Mandat sieht die Entsendung von bis zu 2.400 Soldaten vor. Die Bundeswehr soll das Kommando über die internationalen Marineverbände übernehmen, die vor der libanesischen Küste den Waffenschmuggel für die Hisbollah-Miliz verhindern sollen. Der Vorsitzende des Bundeswehrverbandes, Gertz, sprach von einem vernünftigen deutschen Beitrag. Bis auf FDP und Linkspartei herrscht große Einigkeit, was den Bundeswehreinsatz anbelangt. Enwicklungshilfeministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD) argumentierte, gerade wer die Rolle der USA kritisiere, müsse ein Interesse daran haben, dass die Vereinten Nationen gestärkt werden. SPD-Kollege und Fraktionsvize Walter Kolbow sagte, der Einsatz sei keine »militarisierte Außenpolitik«, sondern »aktive Friedenspolitik«. Verteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU) sprach von einem »Mandat von historischer Bedeutung«. Er nutzte die Gelegenheit, um zusätzliche Rüstungsforderungen ins Gespräch zu bringen. Der Einsatz werde zusätzliche Kosten verursachen, die nicht Teil der bisherigen Kalkulation für die Bundeswehr seien.
Für den Antrag der Bundesregierung wird vermutlich die Masse der Koalitionsabgeordneten stimmen. Während die Grünen-Führung gleichfalls Zustimmung signalisierte, betonten gestern sechs Fraktionsmitglieder der Grünen, unter ihnen Hans-Christian Ströbele ihre Ablehnung. In einer persönlichen Erklärung heißt es: »für den Erfolg von UN-Friedensmissionen ist die strikte Neutralität der beteiligten Soldaten unbedingte Voraussetzung. Deutsche Soldaten können aber vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte und der besonderen Verantwortung für Israel nicht neutral sein. Deshalb eignen sich Bundeswehrsoldaten nicht für diese Mission.«
FDP und Linksfraktion bekräftigten gleichfalls ihr Nein zu der ersten bewaffneten Bundeswehrmission im Nahen Osten. Linksfraktionschef Gregor Gysi erklärte: »Bei einem Konflikt zwischen Israel und einem anderen Staat sind deutsche Soldaten die Letzten, die dazwischenstehen sollten.« Jede Seite würde bei jeder Schwierigkeit einen historischen Bezug herstellen. All dies überfordere Soldaten. FDP-Fraktionsvize Werner Hoyer meinte, man setze »politisches Vertrauenskapital aufs Spiel«, weil Deutschland einen unnötigen militärischen Beitrag leiste.




Nach den 7 Prozent, die die rechtsextremuistische NPD in Meklenburg Vorpommern erreichen konnten, versuchen sich Beobachter nun in Analysen. Daß die NPD in etlichen Kommunen der Republik bereits zur Normalität gehört, konstatierte Wilhelm Heitmeyer, Leiter des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld, in einem Interview mit dem Fernsehsender Phoenix. Er warnte davor, die NPD-Klientel nur als Protestwähler wahrzunehmen. Auch Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse betonte, man dürfe die Entscheidung von Bürgern für die NPD nicht als sozialen Protest »veredeln«. Untersuchungen zufolge seien in Deutschland mindestens zehn Prozent der Bürger antisemitisch, ausländer- sowie minderheitenfeindlich und autoritär eingestellt, so der SPD-Politiker.

Tatsächlich ist es der NPD in den letzten Jahren gelungen, durch soziale und kulturelle Angebote Menschen an sich zu binden, wie Markus Bernhard in der heutigen Jungen Welt berichtet. Während die etablierten Parteien – darunter auch die Linkspartei.PDS – mancherorts soziale Bedürfnisse der Bevölkerung sträflich vernachlässigten, boten die Neonazis unter anderem Hausaufgabenhilfe, Feriencamps und Sozialberatung für potentielle Sympathisanten an. NPD-Sprecher Baier kündigte passend dazu an, man werde in Mecklenburg-Vorpommern flächendeckend »Bürgerbüros« eröffnen, um »Gesicht zu zeigen«. Ein Schwerpunkt der Arbeit der neuen Fraktion werde die Sozial- und Wirtschaftspolitik – unter anderem die Ablehnung der Hartz-IV-Gesetze – sein. Zudem wolle man sich gegen die »Angriffskriege der Amerikaner und ihrer Helfershelfer« stellen, so Baier weiter.

Antifaschistische Organisationen warnten laut junge Welt unterdessen davor, die neofaschistische Gefahr zu verharmlosen. »Es muß sichergestellt sein, daß die Jugendclubs frei von rechten Schlägern, rechten Aufklebern und rechten Parolen sind«, forderte beispielsweise die Junge Linke aus dem Landkreis Wittenberg und schlug diesbezüglich eine antifaschistische Selbstverpflichtung der Träger der Jugendclubs als einen ersten Schritt vor.

Hören Sie im morgigen Focus Europa ein Interview mit Burkhard Schröder, Berliner rechtsextremismus-Experten, über den Wahlerfolg der NPD.