Unterschichtsdebatte in Deutschland

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Gebauter kommentar zur aktuellen Unterschichtsdebatte
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Upload vom 23.10.2006 / 00:00

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Klassifizierung

Beitragsart: Kommentar
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Wirtschaft/Soziales, Arbeitswelt, Politik/Info
Serie: Focus Europa Einzelbeitrag
Entstehung

AutorInnen: Niels
Radio: RDL, Freiburg im www
Produktionsdatum: 23.10.2006
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Anmod
Von den Gewerkschaften aufgerufen, protestierten dieses Wochenende rund 80.000 Menschen in verschiedenen deutschen Städten gegen die Politik der großen Koalition. Ihr Protest galt einer Politik, die die Schere zwischen Reich und Arm immer weiter öffnet.
Gleichzeitig fand in der hohen Politik eine Debatte um die Schlagworte Prekariat, Unterschicht und „neue Armut“ statt – ausgelöst durch eine Studie der Friedrich Ebert Stiftung, in der 8 Prozent der Deutschen als „abgehängtes Prekariat“ bezeichnet werden.



Beitrag
In der Debatte um Prekariat, Unterschicht und sogenannte „neue Armut“ ist bisher nicht viel herausgekommen. Erwartungsgemäß und zurecht kritisiert die parlamentarische Linke Rot-Grün für die Agenda 20 10, während vom Rest der Parteienlandschaft v.a. das gewohnte Standort- und Wachstumsgefasel zu hören ist. Da sich aber angesichts der sozialen Realitäten damit kaum ein gutes Image verbindet, wird von vielen auf das Terrain der Begrifflichkeiten ausgewichen.
Dabei offenbart sich eine so deutliche Ablehnung des Begriffs Unterschicht, das man geneigt ist zu vermuten, das in diesem Begriff mehr steckt.
Das erstaunt erstmal. Spricht ja niemand von gefährlichen Klassen. Zurecht, denn gefährliche Klassen waren:
„"die beweglichsten, unruhigsten und .gewalttätigsten. Elemente der Plebs. Neben dem Bettler, der sich weigerte, die Gräben der Stadt zu säubern, waren das die kleinen Diebe und Räuber großen Stils, diejenigen die sich in bewaffneten Gruppen mit dem Fiskus oder allgemein mit den Staatsbeamten herumschlugen, und schließlich diejenigen, die an den Tagen des Aufstands die Waffen und das Feuer trugen“
Im Gegensatz zum Klassenbegriff steckt im Wörtchen Unterschicht wohl kaum revolutionäres Potential. Schon mal was vom Schichtenkampf gehört? Und Unterschicht klingt doch auch integrativ: wie Unterlage – Bodenständig und sozusagen der Sockel auf dem die Gesellschaft ruht. Dennoch allgemeine Ablehnung:

"Der Begriff Unterschicht ist ein Begriff von lebensfremden Soziologen", sagt Arbeitsminister Franz Müntefering von der SPD, und weiter: "Es gibt keine Ober- und Unterschichten hier, sondern es ist eine Gesellschaft“.
Ist das noch der Mann, der kürzlich Unternehmer als Heuschrecken, mithin Ungeziefer bezeichnet hat? Sind die nicht Teil der Gesellschaft? Ausländer gar?
Vom Heuschrecken- zum Volksgemeinschafts-Franze in 6 Monaten. Nicht schlecht, Münte – du bist Deutschland!
Wirtschaftsminister Michael Glos (CSU) findet Soziologen ebenfalls blöd. Der Begriff Unterschicht sei – Zitat - "Soziologen-Deutsch oder -Undeutsch".
Die sind ja auch ein Völkchen, diese Soziologen, reden von Schichten, Klassen oder Milieus, von neuer Armut, Ungleichheiten und prekären Lebensverhältnissen. Das ist zugegebenermaßen ganz schön undeutsch. Über sowas redet der Wirtschaftsminister aus naheliegenden Gründen lieber nicht.
Gänzlich neue Töne hört man hingegen von CDU-Fraktionschef Volker Kauder, der lieber von „Menschen mit sozialen und Integrationsproblemen“ spricht, weil er findet, der Begriff Unterschicht stigmatisiere. Und das von Volker Kauder – einem der Oberstigmatisanten in der Bundesrepublik.
Noch im Mai brachte er sich auf dem Rücken der sozial Schwachen in die Presse, monierte barsch, Hartz IV-EmpfängerInnen würden – Zitat – „sinnlos herumgammeln“, forderte fröhlich die Einführung von Null-Euro-Jobs für Arbeitslose, kündigte munter die totalitäre Überwachung der AlG II-EmpfängerInnen an und drohte lustig mit massiven Sanktionen für diejenigen, die sich dem kauderschen Arbeitsdienst entziehen wollen könnten.
Nun möchte er eben jene an sein Herz drücken, die er gestern noch in den Arsch treten wollte und diskursiv zu Drückebergern erklärt hatte. Angesichts der Erkenntnis, dass sich 44 % Prozent der Deutschen vom Staat allein gelassen fühlen, versucht sich Volker Kauder nun offensichtlich als Kuschelhase.
Aber keine Sorge – allzu kuschlig wird’s nicht werden - eine Aufstockung staatlicher Hilfen angesichts der neuen Armut schloss die Union bereits kategorisch aus.
Den alternativen Lösungsansatz zeigt die neoliberale Initiative neue soziale Marktwirtschaft.
Sie hat die Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zum Anlass für eine Kampagne genommen, mit dem etwas sperrigen Titel „Entweder Deutschland wächst oder die Unterschicht“. Gemeint ist wohl wieder nur die immer gleiche, langweilige neoliberale Lüge, dass es allen besser geht, wenn man nur das Wirtschaftswachstum auf Teufel komm raus hochjazzt. Aber der Klang!: „Entweder Deutschland wächst oder die Unterschicht“!. Das klingt nach Raubökonomie, Volksgemeinschaft und Lebensraum im Osten.
Sprachliche Feinheiten und historisches Fingerspitzengefühl sind nun naturgemäß nicht unbedingt Sache neoliberaler Institute, doch wer sich selbst als links bezeichnet, muss sich mit anderen Maßstäben messen lassen.
So z.B. Christa Müller, Mitglied der saarländischen Linken, besser bekannt jedoch als Gattin Oscar Lafontaines. Sie sprach davon, man müsse – Zitat - die „Reproduktion des asozialen Milieus“ eindämmen. Nochmal zum auf der Zunge zergehen lassen: Gegen die „Reproduktion des asozialen Milieus“. Besser hätte es auch Göbbels nicht formulieren können.
War natürlich alles nicht so gemeint, aber bei der Vorstellung was sich Christa „asoziales Milieu“ Müller und Ehemann Oscar „Fremdarbeiter“ Lafontaine privat so erzählen, läuft es mir kalt den Rücken runter.
Aber zurück zur Frage der grassierenden Armut - was ist zu tun?
FDP und marktradikale Konsorten schwafeln erwartungsgemäß von Leistungsanreizen, denn
so die Logik - wer arbeitet, ist nicht Unterschicht. So meint Gerhard Niebel, FDP-Generalsakretär:
NIEBEL-ZITAT
Die Bekannte Argumentation: Wachstum bringt Arbeitsplätze, Arbeitsplätze bringen Wohlstand. Doch keine dieser Prämissen stimmt. Rekordgewinne und Massenentlassungen gehen Hand in Hand und auch wer arbeitet, hat damit nicht zwingend eine Chance, der Armutsfalle zu entgehen. Knapp 2 Mio. Erwerbstätige leben in verdeckter Armut, mit Anspruch auf Aufstockung ihres kärglichen Verdienstes durch Hartz IV, jedoch ohne es in Anspruch zu nehmen – meist aus Angst vor der sozialen Ächtung. Die undeutschen SchlawinerInnen aus der Soziologie haben auch dafür einen Begriff: working poor.
Es ist also keineswegs so, dass Arbeit oder eine Lösung des Armutsproblems darstellt, wie so gerne sugeriert. Und die Forderung nach Niedriglohn-Zwangsdiensten dient wie üblich mehr der Diffamierung als Drückeberger und der Disziplinierung der gefährlichen Klassen. Ob ein gesetzlicher Mindestlohn, wie ihn die Gewerkschaften fordern hier wirklich hilfreich ist, bleibt fraglich. Warum muss in einer Gesellschaft, die offensichtlich nicht für alle Arbeit hat, die Existenz ums verecken an Arbeit geknüpft sein?
Davon rücken sie jedoch nicht ab, weder Gewerkschaften noch Parteien.
Es bleibt das Gefühl, der Begriff der Unterschicht wird nicht gemieden, weil er etwa ausgrenzte oder auch nur ungenau wäre. Im Gegenteil: Vielleicht trifft die Bezeichnung die Wirklichkeit zu genau, impliziert „Unterschicht“ doch eine stratifizierte, also geschichtete Gesellschaft, mit unterschiedlichen Interessen und sozialen Widersprüchen.
Solche Unterschiede jedoch bergen umso mehr sozialen Sprengstoff, je bewusster die Betroffenen sich ihrer sind. Solange die Prekären und Armen Fahnen schwenken und sich als Deutsche empfinden statt als Unterschicht, stellen sie ihre Position nicht in Frage. Ihr Unmut gilt dann dem Nicht-Deutschen statt eben jenen Schichten, die ihnen die Rolle der Unterschicht zuweisen.
Wenn die Unterschicht sich mal wirrklich als Unterschicht definiert, hat sie vielleicht tatsächlich das Zeug zur gefährlichen Klasse, deren Gefährlichkeit sich nicht in Ressentiments und NPD-Wählen erschöpft, sondern ein unmenschliches Wirtschaftssystem radikal in Frage stellt


Kommentare
24.10.2006 / 15:37 franz, Radio Dreyeckland, Freiburg
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gesendet am 24.10.