SOKO Chemnitz - Versuch einer Zusammenfassung

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"SOKO Chemnitz" ist eine künstlerische Aktion des Zentrums für Politische Schönheit. Zunächst ging am Morgen des 3.12.18 die Webseite https://soko-chemnitz.de online.

Der "Katalog der Gesinnungskranken" [sic!] zeigt über 7.000 Porträtfotos von Menschen, die auf den von Rechtsextremen initiierten Demonstrationen in Chemnitz Ende August/Anfang September zugegen waren.

SOKO Chemnitz verwendet die Headline: "Gesucht: Wo arbeiten diese Idioten?" und ruft die Bevölkerung auf: "Denunzieren Sie noch heute Ihren Arbeitskollegen, Nachbarn oder Bekannten und kassieren Sie Sofort-Bargeld."

Welche Resonanz rief die "SOKO Chemnitz" bisher hervor? Radio T wagt den Versuch einer Zusammenfassung zu SOKO Chemnitz.
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13:10 min, 18 MB, mp3
mp3, 192 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 04.12.2018 / 17:46

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Klassifizierung

Beitragsart: Nachricht
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Kultur, Politik/Info
Entstehung

AutorInnen: Katrin K.
Radio: Radio T, Chemnitz im www
Produktionsdatum: 04.12.2018
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Wer und was ist das Zentrum für Politische Schönheit?

Das Zentrum für politische Schönheit (ZPS) wurde im Jahr 2009 in Berlin ins Leben gerufen vom Philosophen und Aktionskünstler Dr. Philipp Ruch. Etwa 70 KünstlerInnen sind bisher in die Aktionen involviert.

Es versteht sich laut eigenen Angaben als „eine Sturmtruppe zur Errichtung moralischer Schönheit, politischer Poesie und menschlicher Großgesinntheit.“ und praktiziert einen „aggressiven Humanismus“ an der Schnittstelle zwischen Aktionskunst und Menschenrechten. Das Themenspektrum umfasst vor allem Genozide, Waffenlobbyismus, Rechtsextremismus, Flucht/Vertreibung und politische Apathie.

Bisherige Aktionen des ZPS umfassen beispielsweise (Auszug):

• Thesenanschlag „Gute und schöne Politik“ am Bundestag in Kombination mit geplanter ebay-Versteigerung Angela Merkels und Frank-Walter Steinmeiers
• Überführung und Beisetzung in Berlin von an europäischen Außengrenzen gestorbenen Flüchtlingen („Die Toten kommen“) mit anschließender Demonstration am Bundestag, zu der symbolisch 100 Gräber ausgehoben wurden
• Nachbau einer Miniatur des Berliner Holocaust-Denkmales direkt am Haus des AfD-Politikers Björn Höcke


Was ist „SOKO Chemnitz“?

„SOKO Chemnitz“ ist eine künstlerische Aktion des Zentrums für Politische Schönheit. Zunächst ging am Morgen des 3.12.18 die Webseite https://soko-chemnitz.de online.

Der „Katalog der Gesinnungskranken“ [sic!] zeigt über 7.000 Porträtfotos von Menschen, die auf den von Rechtsextremen initiierten Demonstrationen in Chemnitz Ende August/Anfang September zugegen waren.

SOKO Chemnitz verwendet die Headline: „Gesucht: Wo arbeiten diese Idioten?“ und ruft die Bevölkerung auf: „Denunzieren Sie noch heute Ihren Arbeitskollegen, Nachbarn oder Bekannten und kassieren Sie Sofort-Bargeld.“
Auch die Wirtschaft ist angesprochen. Das ZPS bietet beispielsweise Vordrucke für Kündigungsschreiben an denunzierte Mitarbeiter.

Die Webseite der Aktion bedient sich verschiedener plakativer und provokativer Ausdrucksweisen.


Was passierte am 3.12.2018 in Chemnitz?

Das ZPS eröffnete am 3.12.2018 in der Chemnitzer Innenstadt das "Recherchebüro Ost" für seine künstlerische Aktion „SOKO Chemnitz“. In den Ladenfenstern hingen Plakate in Form von Fahndungsaufrufen mit Aussicht auf „Sofort-Bargeld“ für nützliche Hinweise.
Laut Pressemitteilung des ZPS ereignete sich noch am selben Tag Folgendes in Chemnitz:

[Zitat]:

„Nachdem am Montag ein vermummter Mob vor unserem Recherchebüro Ost stand, informierten wir um 13.39h die Polizei in Chemnitz, um Büro, Kunst und Eigentum vor der zu befürchtenden Selbstjustiz fanatisierter „Bürger“ zu schützen. Die Polizei traf 10 Minuten später vor Ort ein und drängte die Bedrohung zunächst zurück. Um 14h meldete sich ein Polizeibeamter bei uns („Herr Nötzold“), dass „die Tür jetzt geöffnet und alle ausgestellten Poster sichergestellt werden“. Auf Nachfragen konnte Herr Nötzold uns keine Rechtsgrundlage für dieses Vorgehen nennen. Er sagte wörtlich: dass „vielleicht irgendjemand eine Anzeige“ erstattet haben könnte, „deshalb sind wir handlungsbefugt“. Weiteres sollen wir mit der Staatsanwaltschaft klären (bis heute nicht für uns zu sprechen). Die Polizei Sachsen entschied also innerhalb von 10 Minuten, dass dem wütenden Mob, dessen bloße Anwesenheit schon ein Verstoß gegen das Versammlungsgesetz darstellt, Folge zu leisten. Die Wut der „Bürger“ wog schwerer als unsere Eigentumsrechte, ein gültiger Mietvertrag und das Recht auf Kunstfreiheit. Die Polizei ließ die Schlösser des von uns angemieteten Objektes austauschen und verweigert bislang die Herausgabe der Schlüssel.
Seither twittert und verschickt die Polizei Sachsen aber Pressemitteilungen, denen folgende Vorwürfe zu entnehmen sind:
• „Da es (…) in sozialen Netzwerken Aufrufe dazu gab, u.a. Sachbeschädigungen an den Büroräumen im Rosenhof zu verüben, wurde am frühen Nachmittag seitens der Polizei entschieden, die Plakate im Sinne der Gefahrenabwehr zu entfernen und sicherzustellen.“
• „Die Nennung der Telefonnummer der Polizeidirektion Chemnitz auf der Website ist nicht autorisiert.“
• „Es gibt (…) keinen inhaltlichen Bezug von ‚www.soko-chemnitz.de‘ sowie der Plakatierung zu den laufenden Ermittlungen der Gemeinsamen Ermittlungsgruppe ‚Centrum‘ (LKA Sachsen/PD Chemnitz)“
Wir stellen klar:
• Wenn ein wütender Mob Sachbeschädigung am rechtmäßigen Eigentum Dritter verüben möchte, ist es Aufgabe der Polizei, dieses Eigentum zu schützen und Straftaten auf Seiten der Verbrecher zu verhindern. Die Polizei Sachsen zerstört das bedrohte Eigentum hingegen einfach selbst und kuscht damit – einmal mehr – vor dem rechten Mob, der auch Ende August durch die Stadt marodierte.
• Entgegen der eigenartigen Ansicht der Polizei Sachsen ist es nicht notwendig, sich die Verbreitung der Telefonnummern ihrer Reviere vorab autorisieren zu lassen.
• Entgegen anderer Behauptungen wurden die Büroräume rechtmäßig als „Ausstellungsfläche“ und „Popup-Galerie“ angemietet und die Miete und Kaution in voller Höhe beglichen.
• Es gibt sehr wohl einen inhaltlichen Bezug von „www.soko-chemnitz.de“ wie der Plakatierung zu den laufenden Ermittlungen der gemeinsamen Ermittlungsgruppe „Zentrum“ (ZPS)“
[/Zitat] Quelle: https://soko-chemnitz.de, Abruf am 04.12.2018


Welche rechtlichen Schritte wurden bisher gegen „SOKO Chemnitz“ eingeleitet?

Die GGG, Tochterunternehmen der Stadt Chemnitz, ist Vermieterin des „SOKO Chemnitz“-Büros am Rosenhof. Sie initiierte die polizeiliche Räumung des Büros am 3.12.18.

Von der Sächsischen Landesregierung gab es eine Abmahnung gegen Verwendung des „So geht Sächsisch“-Logos im Footer der Webseite https://soko-chemnitz.de. Eine Unterlassung der Verwendung durch das ZPS ist bisher (Stand: 04.12.18) nicht erfolgt.

Das Jüdische Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus e.V. twitterte am 3.12.18: „Klarstellung: Für #SokoChemnitz nutzt das @politicalbeauty auch unsere Fotos. Eine Kooperationsanfrage zu dieser Aktion lehnten wir im Vorfeld ausdrücklich ab. Wir leiten rechtliche Schritte wegen der Verwendung unseres Materials ein.“

Medienrechtsanwalt Peter Hense gegenüber dem MDR am 3.12.18:
„[…] die Kunstfreiheit deckt eine solchen Prangerwirkung nicht ab."
"Fahndungsaufrufe sind Sache der staatlichen Behörden."
„Aus juristischer Sicht haben wir hier einen Konflikt zwischen Kunsturhebergesetz und Datenschutzrecht“

Das ZPS hält mit Rechtsmitteln dagegen und hat angekündigt, die Einhaltung des Mietvertrages für das „SOKO Chemnitz“-Büro gerichtlich durchsetzen zu wollen.


Wie wird die Aktion „SOKO Chemnitz“ bewertet?

Die Aktion „SOKO Chemnitz“ produzierte bisher ein heterogenes Echo in Politik, Medien und Gesellschaft.

Sachsens Innenminister Roland Wöller (CDU) wirft der Künstlergruppe vor, mit der Aktion den Zusammenhalt der Gesellschaft zu gefährden, woraufhin das ZPS auf seiner Facebookseite verwundert feststellte, dass nicht etwa „die Atmosphäre der Einschüchterung und Dominanz der Rechtsextremen Ende August [...] den Zusammenhalt in Sachsen“ gefährde, „sondern die Aktion "Soko Chemnitz"“.

Diverse Medien heißen die Aktion gut:

„Richtig ist das aus mindestens drei Gründen: Zuallererst ist der Widerstand gegen Faschismus moralisch geboten. Zweitens trägt das Wissen um potenzielle Nazischläger zum Schutz für jene bei, die sich womöglich unwissentlich im ihrem Umfeld bewegen, als Arbeitskollegen, Nachbarn oder Mitspieler im Fußballclub. Drittens funktioniert der Pranger als öffentliche Ächtung und erfüllt damit einen Beitrag, rechte Ideologie und Umtriebe einzudämmen.“
[Quelle: „Wanted: Nazis!“, taz am 3.12.18]

„Mit der Chemnitz-Aktion reagiert das Zentrum für politische Schönheit einmal mehr auf die ausbleibende Empörung dort, wo sie geboten wäre. AfD-Politiker rufen Schüler dazu auf, ihre Lehrer im Internet zu denunzieren, falls die sich abfällig über die Partei äußern.“
[Quelle: „Darf man das?“, Der Tagesspiegel am 3.12.18]


Andere Medien zeichnen ein kritischeres Bild:

„Über die künstlerische Qualität, den politischen Sinn oder die rechtliche Bewertung einer solchen gezielten Eskalation der gesellschaftlichen Polarisierung lässt sich lange streiten. Ebenso wie über die Frage, welche Legitimation das ZPS eigentlich hat, sich als "Geheimdienst des Humanismus" zu gerieren. […] Woran allerdings die Frage sich anschlösse, wo eigentlich die legitimen Behörden sind, wenn man sie mal braucht.“
[Quelle: „Gezielte Eskalation“, Spiegel Online am 3.12.18]

„Während die Aktivisten den Online-Pranger als Kunst deklarieren, sehen Juristen die Aktion kritisch. Weil hier eine Art "Fahndungsaufruf" im Vordergrund steht, werde die Webseite dem Kunstbegriff nicht gerecht. Dazu verstoße man gegen Persönlichkeitsrechte, da auf der Seite Einzelpersonen identifizierbar dargestellt werden.“
[Quelle: Zentrum für politische Schönheit stellt rechte Demonstranten aus Chemnitz an den Pranger, MDR am 3.12.18)

Auch die ersten Arbeitgeber reagierten. Die Cabka Group schrieb am 4.12.18 einen offenen Brief an das ZPS, nachdem offenbar ein Mitarbeiter von Cabka im Rahmen der Aktion „gemeldet“ wurde. Darin heißt es:

„Ihre Aktion „SOKO-Chemnitz“ erweckt den Eindruck, dass einer unserer Mitarbeiter sich daran beteilige, Ausländer durch Chemnitz zu treiben, Presse und Polizeibeamte zu attackieren und, wie Sie schreiben: Hitler zu grüßen.

Wir stellen hier nicht die Frage: Was darf Kunst? Wir erwarten, diese Art der Hetze und Denunziation zu unterlassen.

Wenn sich bewahrheiten sollte, dass auch ein Cabka-Mitarbeiter an den fremdenfeindlichen Aufmärschen in Chemnitz beteiligt war, wären wir darüber schockiert und bestürzt. Ja, wir wären zutiefst bestürzt. Aber wären wir auch überrascht? Ehrlicherweise leider nicht. Und auch bei Ihnen und vielen anderen dürfte sich die Überraschung in Grenzen halten, wenn man bedenkt, in welcher politischen Situation wir heute leben. Unabhängig davon, ob man nach Amerika, in europäische Nachbarländer oder deutsche Bundesländer schaut, sehen wir einen beunruhigenden Rechtsruck. Es entsteht häufig das Bild, dass rechtsextreme und verfassungsfeindliche Ansichten verharmlost und geduldet werden. Und so verwundert es nicht, dass in einem ostthüringischen Landkreis in einem Unternehmen unserer Größe statistisch gesehen auch Mitarbeiter mit ebensolcher Gesinnung zu finden sein könnten.
Aber wollen und müssen wir das dulden? Sicher nicht! Denn bei Cabka stehen wir für Offenheit, Toleranz und Vielfalt.“

Was „darf“ Kunst?

„Darf“ kann man unterschiedlich auslegen. Dürfen im Sinne rechtlicher Vorgaben und dürfen im Sinne was von ihr erwartet werden kann, was sie gegebenenfalls soll.

Selbst wenn es Kunst ist: Das Büro in Chemnitz kommt in seiner Aufmachung ernst gemeint daher. Nicht allen vorbeilaufenden Passanten dürfte der Kunstanspruch sofort klar sein und gerade darin liegt auch eine Gefahr. Sind die Passanten an der Sache interessiert, sprechen sie vielleicht mit ihren Arbeitskolleginnen, Freunden oder in der Familie über diese Aktion. Sie können aber auch zum sofortigen Schluss kommen und denken sich vielleicht so etwas: Diese Linken bedienen sich eines furchtbaren Jargons und nutzen faschistische Mittel.

Was haben wir damit erreicht? Womöglich Fronten verhärtet. Womöglich Diskussionen darüber wiederentfacht, was Kunst darf und was nicht. Im besseren Falle gefragt, ob Humanismus aggressiv sein kann. Im besten Falle vielleicht, dem Faschismus wieder den Spiegel vorgehalten zu haben. Doch was nützt der zurückgeworfene Blick in eine Fratze, wenn die Erkenntnis ausbleibt?

Kommentare
05.12.2018 / 10:27 tobi und matze, Radio Dreyeckland, Freiburg
MorgenRadio RDL am Mittwoch 05.12.18
Vielen Dank für diesen guten Beitrag und die tolle Zusammenfassung!