Der Sturm auf der Veddel (Ein Hörstück)

ID 101590
 
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"Ihr lehrtet Sprache mir, und mein Gewinn ist, daß ich weiß zu fluchen." Spricht Caliban in Shakespeare`s Sturm. Zum Fluchen ist auch der Erzählerin zu Mute. Der Unglaube über die Situation auf der Hamburger Veddel und ihrer angrenzenden Wohnbebauung löst ein spekulatives Schauspiel über architektonische Überwachung, Raumfallen und Big-Data Studien aus. Kunsthochschule, Polizeiapparat und Berufsnarzissten schaffen sich in Mitten von Schimmel, Ausschluss und Ausweglosigkeit ihr eigenes Vokabular: Anti-Calibane sozusagen, deren Erfindungsreichtum eine semiometrische (zeichenvermessende) Invisibilisierung (Unsichtbarmachung) der starken Prekarisierung (verfickten Verarmung) perpetuiert (tatkräftig in die Welt bringt.)
Audio
19:27 min, 27 MB, mp3
mp3, 192 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 14.04.2020 / 15:36

Dateizugriffe: 328

Klassifizierung

Beitragsart: Hörspiel
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich:
Entstehung

AutorInnen: xende@riseup.net
Radio: FSK, Hamburg im www
Produktionsdatum: 14.04.2018
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Es stellte sich heraus, dass die Gegend fortlaufend überwacht wurde. 626 Wohneinheiten der Grundstücksgesellschaft Nordelbe waren einer regelmäßigen Überprüfung unterzogen worden. Es erinnert an den stilsicheren Stasi-Spielfilm "Das Leben der Anderen." Auf den Dachböden aller Wohnungen in der Harburger Chaussee wurden Überwachunseinheiten installiert. Über die Klingelanlage, sowie angeschlossene Richtmikrofone wurden Tonprofile aller Wohnungen erstellt, die anschließend zu Hausprofilen zusammengefasst wurden. Ein namhafter Hamburger Künstler, der bereits mit "Big Data basierter Kunst" weltweit Erfolg hat, wurde als "Advisor in Residence" in einem der Dachböden an der Harburger Chaussee einquartiert. Dort arbeitete er an einer Soundinstallation, die die Überwachungsergebnisse trickreich zusammenführen sollte.

In Kooperation mit der technischen Universität Kassel, sowie dem Studiengang "Militärsoziologie" der Universitär Potsdam führt die Hamburger Kunsthochschule zusätzlich an Hand des Datenmaterials eine von der Gesellschaft für Forschung und Entwicklung, sowie von der Bundesforschungsgesellschaft großzügig unterstützte Studie zur zivilen Konfliktforschung durch. Themen der Studie sollen zudem sein: Synchronizität sozialer Gleichschaltung, Apathie und Großzügigkeit in abgeschirmten Environments, Transitzonen als Ausgangspunkte moderner Urbanität/Nomadologie und pathische Projektion in Street Art und Verfallsästhetik. Für den letzten Schwerpunkt der Studie kooperiert das Forschungsnetzwerk mit den Masterstudiengängen "Semiometrie & Kommunikation", sowie "Öffentliche Anglegenheiten & Führung" der Quadriga Universität Berlin.

Eine Art architektonisches "Stockholm Syndrom" diagnostiziert die Forschergruppe für die Bewohner der Veddeler Halbinsel, sowie ihrer angrenzenden Wohnbebauung. "Für die meisten taucht dieser Ort erst gar nicht auf," führt Studienleiter Weinolf Hehringgrad aus. "Kennen Sie das? Sie haben die Augen geöffnet aber sehen nichts. Eine prä-differenzierte Sicht. Da ist alles unterschiedslos. Die Räume werden Seh-Strategien untergeordnet, werden nur als ein Teil dieser Strategien sichtbar, sowie wir das aus den Methoden formaler, militärischer Raumbegreifung kennen. Historische Grundkategorie könnte dabei das das Wort "Raumfalle" sein. "Raumfalle" hei0t, dass als Umkehrschluss einer Komplexitätsverkürzung die Materialität des "Raumes" erzwungen wird. Die doppelte Absplatung der "Raumfalle" erzeugt so erst eine topografische Funktion, die wir als Fiktion verwerten können." Herhringgrad juckt das Kinn. "In der Rückschau wird so die Architektur, zum fröhlichen Hindernis. Für die einen markiert der Verfall eine Möglichkeit sich selbst als im Aufbruch befindlich zu inszenieren, während die anderen ihn als zugewiesenem Raum zum Teil ihrer Identität machen." "Der Raum fängt uns rückwärtig ein und macht uns zu Bewohnern einer unsichtbaren Funktionslandschaft, die wir mit unseren Projektionen bewohnbar machen. Das ist alles recht banal, aber, dass erneut festzustellen, war Anspruch, Anlass und Förderbedingung des Netzwerkprojekts."

Die Menschen kommunizieren mit demnach mit Aufklebern. An jeder Laterne, an jedem Pfosten, an den Fenstern und Türen bricht sich eine neue Sprache den Bann. Sie flucht und schreit und ruft nach der Andersheit und Andersrum. Der Kontaktbeamte Petra Weinz kennt sich im Quartier aus und besucht eine der Überwachungsstationen in der HC83, die mittlerweile einem neuen Zweck zugeführt ist. "Sie steht jetzt in Lybien" sagt er und lächelt, irgendwie fragwürdig. Er trägt auch einen fragwürdigen Hut. Er ist irgendwie unappetitlich. Als wären seine Augen hohl, weil er schon lange wohnt, beziehungsweise sich hermrumtreibt. Er zupft an seinem Hut. Er riecht. Seit 20 Jahren geht er hier rein und aus. Er wünscht sich ein anderes Leben, ein Haus, eine Bleibe, doch müsse er sich herumtreiben. Geschichten und Ausgrenzung. Er berichtet, wie er einst auf gutem Fuße gestanden habe, mit dem prosperienden Teil der städtischen Infrastruktur, aber nun, nachdem er sich, wie er sagt, "daneben benommen habe", müsse er draußen bleiben. Natürlich nur sprichwörtlich. Denn: Gelernt ist gelernt. Petra Weinz zeigt auf die Spuren am Boden, wo einst die Kabel verliefen. "Wir haben diese Station hier 12null 4-2013 abgebaut."

"Während der Wind über die Insel streift, sitzen sie hier und verschreiben Bücher". So beginnt ein Gedicht: "Der Sturm über der Veddel" des Wahlberliners. "Ich habe mich für den Namen entschieden, weil er politische Dimension und inhaltlichen Furor auf die Größe einer Briefmarke bündelt." Der Text fährt fort: "Dort wo die Kabel sich um die Hälse schließen und nur Moder pressen aus den scharfen Hälsen. Wie der Draht sich selbst frisst. Wo Erstickung froh lockte, findet sich Vereinigung. Die mangelnde Luft, die flüchtende Lust, der kalte Draht der unsere Hälse teilt: alles dasselbe." Ich will hier nicht mehr wohnen. Das Spiel gefällt mir nicht. Diese gesammelten Überwachungsergebnisse wurden schlecht arrangiert. Das ist alles auch eine Frage guten Sounddesigns. Er erchauffiert sich, legt sich auf einen Karren und wird geschoben. Hier, kurz vorm Wasser, geht es bergab und die Geflüchteten klettern aus den Booten und haben besseres zu tun, als sich erzählen zu lassen, wie angenehm Barfuß laufen wäre. Auch für sie ist es ein strategischer Raum. "Wenn ich eine Drohne wär", singt er, der Wahlberliner, und hebt die Axt zum Gruß. Auf dem Touristenschiff feiern sie den erfolgreichen Penny-Einkauf. Champignons 80 cent, Cherrytomaten 25 Cent, Merlot 4.99€.

"Sie haben mir diese Sprache gegeben und jetzt bin ich bereit mich für den Cent zu verkaufen." Die Schlagermusik bollert, über die HC, wie die heiteren Mietnomaden ihre Harburger Chaussee nennen. Die Hinterhöfe sind so schäbig, unlängst ist hier ein Wind verfault. Der trübe Duft der alten Keller und was in ihnen haust. Petra Wantz lächelt. "Wir haben damals ja von den Dachböden aus überwacht. Dann haben wir Schilder in die Flure gehangen: Falls ihnen hier was auffällt, rufen sie die Polizei. Das waren Marker. Dann wussten die Kollegen: In diesem Haus wird bereits mitgeschnitten. Wir haben dann auch die Keller verschlossen oder gleichzeitig, ich weiß es nicht mehr. Wir haben das BKA mit Mieterservice Karren versorgt und die mussten dann Graffitis putzen, die die Kollegen von der TU gemalt hatten: Mieten runter, leben rauf oder sowas. Ich komm ja ursprünglich nicht von hier. Ich bin auch ein Geflüchtete."

Wir malen uns an und spielen auf dem Hof "Schießmichtot". Wir bringen unsere Bänke selbst mit, wir grillen auf den Fußböden und trocknen unsere Wäsche im Müll. Die Männer stehen gelangweilt und starrren mega-aussichtslos. Da ist es wieder dieses leere Blick. Die Augen nie von der Mutter getrennt. Dort wo wir die Macht vermuten. Die Augen der Mutter, die hier nicht erwähnt wird. In ihr war alles vermatscht, vermengt, verklebt, verbunden. Aber sie könnte sich erinnern, an die Vermatschung, Vermengung, Verklebung, Verbindung. So bestand der Matsch doch aus Fasern, Filamenten, Feinstrukturen. Die Geschichte machte es entwirrbar, nicht besser, aber verständlicher. Nicht dass sie es verstanden hatte, aber das musste sie nicht. Mutter war eine Hexe. Mutter war auf dem Weg zu eurem Schlafgemach, um euch in Pappmache zu ersticken. Aus euren Büchern kochten wir des nachts eine Kleisterbrühe und stopften sie in alle eure Löcher. Die nahmen den Wind aus euren Zimmern, verklebten die Fugen, nahmen den Zug aus den Fenstern, den eisigen Wind aus den Böden, wir flickten die geborstenen Fliesen und setzten uns... Sie unterbrach ihre Rede und blickte plötzlich entrückt aus dem Fenster, vor dem eine rosa glitzerfolie alles veränderte. Diese Katze. Ich verwandele mich. Ich streife durch die Schrebergärten zum Wasser, zum Flohmarkt, wo die Fettfabrik die kapitalgeformte Aufwertung abhält. Ich bete zu dir Göttin der Fäulnis, auf dass du den Geruch der Armutsviertel in unsere Jacken bläst, sodass wir niemals von hier fortkommen. Auf dass sie an uns riechen, dass wir gestrandet sind. Kreative Müllkippe. Sie spuckt. Bah. Der Ekel... auch nur so ein altes Gefühl.

"Sind hier noch Nihilist*innen an Bord. Ticket raus." Wir schaffnern in Reihen und Ringen und nehmen dir deinen Ausweis weg. Altes Karussell und dann wirst du zwangsverheiratet mit deiner Ausstechform, als Keks wieder aufgebart und im Ofen gebrannt, mit Kaffee befeuchtet und, am Ende, weggeworfen, weil du Einweg bist. Du bist Einweg. Du bist nicht nachhaltig. Die Vorstellung, die du dir von dir machst, hält nur bis zum nächsten Check, das nächste Lob, die nächste Gegenwehr. Wer bist du, Süßer? Ist das der süße Geruch der Gefangenschaft? Wenn es soweit käme, würden wir das abreißen. Die Häuser entkernen. Die Etagen entnehmen. Auf den Fassaden klebt weiß. Frisches weiß. Alles weiß. Die roten Ziegel verschwinden. Die Laternen werden abgerissen. Es wird Nacht. Und dann kommt der Sturm auf und ein Haus fällt um. Nur fürs Foto. Auf dem Wasser ziehen wir an der Insel vorbei. Du wirst uns keine Sprache lehren, die dies beschreibbar macht. Die technische Universität ist abgebrannt. Die Überwachungsprotokolle sind zu Bewusstsein gekommen und kehren zurück als Hochzeitsgesellschaft im Datenmüll, tanzen sie einen Walzer, der auch nichts bewirkt, aber egal. Und was ist aus dem namhaften Big-Data Künstler geworden? Er ist auch Tänzer und hat auch geheiratet. Gleich hier vorne am Kerle-Shop. Jünglinge mit Gesichtern. Kinder mit Spielzeugmüll. Ich schmeiß mich auch weg. Auf der Laterne sitzt ein Strolch. Er erklärt mir die Gegend. Du bist Schuld an diesem Elend. Du hast mir deine Geschäftsidee als universalistischen Traum verkauft. Pfui.