Freiheit stirbt im Seuchenregime

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Staatlicher Autoritarismus – linkes Schweigen – rechtes Rebellieren

Wir erleben 2020 die weitreichendsten Einschränkungen fundamentaler BürgerInnenrechte seit Bestehen der Bundesrepublik.
Kontaktverbote, Reiseverbote, eingesperrte HeimbewohnerInnen, geschlossene Infrastruktur und nahezu auf Null gedrehter Freizeit- und Kulturbetrieb – was bislang eher als Plot in einem dystopischen Roman vermutet werden konnte, ist seit Monaten Realität in unserer Republik.
Eine Gegenbewegung der antiautoriären Linken war bislang praktisch nicht wahrnehmbar. Protest kommt von bürgerlichen JuraprofessorInnen, links-liberalen AkademikerInnen und vor allem von Rechts.
Wieso gelingt ein selbstbestimmter, emanzipatorischer, antiautoritärer und solidarischer Umgang mit der Krise nicht?
Audio
11:36 min, 10 MB, mp3
mp3, 124 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 15.11.2020 / 10:51

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Klassifizierung

Beitragsart:
Sprache:
Redaktionsbereich: Politik/Info
Entstehung

AutorInnen: Mel
Radio: RDL, Freiburg im www
Produktionsdatum: 15.11.2020
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Freiheit stirbt im Seuchenregime

Staatlicher Autoritarismus – linkes Schweigen – rechtes Rebellieren

(Skript ohne die Interviewausschnitte)

Wir erleben 2020 die weitreichendsten Einschränkungen fundamentaler BürgerInnenrechte seit Bestehen der Bundesrepublik.
Kontaktverbote, Reiseverbote, eingesperrte HeimbewohnerInnen, geschlossene Infrastruktur und nahezu auf Null gedrehter Freizeit- und Kulturbetrieb – was bislang eher als Plot in einem dystopischen Roman vermutet werden konnte, ist seit Monaten Realität in unserer Republik.
In bewährter merkelischer Tradition sind die verordneten Beschränkungen der persönlichen und kollektiven Freiheit alternativlos, wenn die deutsche Bevölkerung nicht elendiglich am Virus zugrunde gehen will. Nonchalant wird im medialen Dauerfeuer der rund um die Uhr auf die Zuseher einprasselnden Talkshows, Sondersendungen, Reports und Nachrichtenmagazinen dabei die Tatsache umschifft, dass es für viele der angeordneten Freiheitsbeschränkungen kaum empirische Evidenz gibt.
Eine Rechtsgrundlage übrigens ebenfalls nicht – aber das hat die Herrschenden ja noch nie abgehalten, die wird dann eben geschaffen. Da in den letzten Monate einzelne Gerichte sich erdreisteten, die Eingriffe in grundlegende BürgerInnenrechte als das zu bewerten, was sie sind, nämlich ungesetzliche und verfassungswidrige Maßnahmen, haben CDU und SPD Anfang November darauf geeinigt, das Bundesseuchengesetz so zu erweitern, dass die getroffenen Maßnahmen dann legal sind. Das Gesetz soll nächste Woche dann durch den Bundestag gepeitscht werden.
Auch Bundesseuchenminister Spahn agiert seit Monaten außerhalb seines rechtlichen Kompetenzrahmens. Gleichzeitig schießen innerhalb der föderalen Struktur der Republik einzelne Bundesländer quer – das kann und darf nicht sein. Damit das Durchregieren in Zukunft nicht mehr durch lästige föderale Hürden gestört wird, die die Mütter und Väter des Grundgesetzes in ihrer damaligen Verblendung in die Verfassung geschrieben haben, wird das bereits erwähnte Bundesseuchengesetz entsprechend umformuliert. Herr Spahn kann in Zukunft beispielsweise ohne Zustimmung des Bundesrats Reisebeschränkungen für die ganze Republik erlassen.
Das Parlament war zu den einschneidendsten Eingriffen in die Freiheit der BürgerInnen seit Bestehen der Republik nicht gefragt – die Exekutive exerziert ihr Notstandsregime per Verordnung mit Vorliebe ohne parlamentarische Kontrolle. Das mit der Gewaltenteilung war schon immer hinderlich, wenn man wirklich regieren wollte. Daher kann das Prinzip nur dann zur Anwendung kommen, wenn es nicht darauf ankommt – keinesfalls wenn es darum geht, eine ganze Gesellschaft in den Lockdown zu schicken. Wer es übrigens noch nicht weiß: Lockdown ist ein Begriff aus dem amerikanischen Knastregime und bezeichnet eine Strafe für den Gefangenen, der für eine bestimmte Zeit ohne Ausgang in seine Zelle eingesperrt wird, damit er sich danach wieder knastkonform verhält.
Im Akkordtempo werden die Checks und Balances einer bürgerlichen Demokratie passend zum angestrebten Seuchenregime zurechtgestutzt: Juristische Einsprüche werden über Gesetzesänderungen verunmöglicht, föderale Prinzipien wo sie stören, ausgehebelt und das Parlament wird erst dann befragt wird, wenn alles Wichtige schon beschlossen ist. Die neue Ordnung der alternativlosen Seuchenpolitik soll sich ungestört entfalten können.
Nun sind der deutsche Michel und die deutsche Micheline in der Regel ziemlich duldsam und folgen ihrer Regierung auch auf abwegige Pfade ohne großen Widerspruch. Was ihnen allerdings aktuell zugemutet wird, bringt selbst in einer so obrigkeitshörigen Gesellschaft wie unserer, Widerspruch und Protest hervor.
Soweit, so verständlich. Erstaunlich ist allerdings, dass jene, die sonst keine Gelegenheit auslassen, gegen staatliche Übergriffe und überzogene Ordnungspolitik zu protestieren und aus gutem Grund gegen Verschärfung von Polizeigesetzen, vermehrte Überwachung und sonstigen Einschränkungen der bürgerlichen Freiheiten Sturm laufen, in der aktuellen Situation offenbar gar nichts zu sagen haben. Generationen von Linken haben gegen die Notstandsgesetzgebung der BRD aus den sechziger Jahren protestiert – das heutige, weit eingreifender Notstandsregime löst keinen sichtbaren linken Widerstand aus. Brav werden zur Krisenbewältigung online Yoga-Kurse organisiert und linke Protestanliegen werden wie gewünscht ins Nirvana der virtuellen Räume verlegt. Sollten Menschen die Ungerechtigkeiten und Zumutungen dieser Gesellschaft diskutieren wollen, dann machen wir ein jitsy-meet oder eine Bluebutton Session.
Freiheit stirbt mit Sicherheit! Unter diesem Slogan wurde jahrelang gegen die permanenten Verschärfungen der Sicherheits-, Überwachungs- und Polizeigesetze demonstriert. Deren Einschränkungen wirken gegenüber dem aktuellen Geschehen geradezu harmlos und dennoch regt sich auch aus links-libertärer und autonomer Richtung praktisch kein Protest.
Das Statement des Capulcu-Kollektivs war eine der verschwindend wenigen linken Stimmen, die sich kritisch mit dem aktuellen Krisenregime auseinandergesetzt haben und zu Widerstand und Subversion aufgerufen haben.


Wie erwähnt, diese Position war sehr einsam im linke Kanon. Menschen, die gegen oft wenig fundierte Einschränkungen ihrer Grundrechte protestierten, fanden keine Unterstützung bei einer antiautoritären Linken, die mehrheitlich zum Schluss gekommen war, gegen staatlichen Autoritarismus im vorliegenden Falle nichts einzuwenden zu haben. Die vielfältigen Chancen, dem staatlichen Verbotsregime ein libertäres, kreatives und selbstbestimmtes, von unten getragenes Krisenmanagement gegenüberzustellen und die in Deutschland so selten anzutreffende grundsätzliche Obrigkeitskritik konstruktiv für emanzipatorische und progressive Entwicklungen aufzugreifen, wurden grandios verpasst.
In das entstandene Vakuum sprangen nur allzu bereitwillig rechte Gruppierungen, denen es erschreckend schnell und kompetent gelang, den Protest zu vereinnahmen. Der Widerspruch, dass extrem autoritäre Gruppen gegen das überzogene Autoritätsgebaren eines bürgerlichen Staates aufbegehrten, wurde von den Beteiligten offenbar übersehen.
Mit den rasch eindeutig rechts vereinamten Coronaprotesten hatten dann auch viele Linke wieder ihr Aktionsfeld gefunden: Protest gegen die sogenannten Corvidioten und ihre rechten Organisatoren.
Ob es ein Zeichen politisch-strategischer Klugheit ist, Menschen mit überwiegend bürgerlichem Hintergrund, welche ausnahmsweise über die Zumutungen eines autoritären Krisenregimes in Widerspruch zum Staat geraten, als Corvidioten, Hippies, Esos und VerschwörungtheoretikerInnen zu verunglimpfen und damit in die Arme des politischen Gegners zu treiben, darf gerne diskutiert werden. Auch der völlig unreflektierte linke Reflex, für ein autoritäres staatliches Seuchenregime einzutreten, wenn die Rechten nun schon dagegen sind, spricht nicht für ernstzunehmende Analyse und Positionierung.
Keine Frage: mit Nazis zusammen demonstriert mensch nicht – das kann nicht oft und deutlich genug gesagt werden. Nur braucht es dann auch linken, emanzipatorischen Protest als Alternative, die für andere anschlussfähig ist.
Insgesamt stellt sich die Frage, warum die linke Szene noch immer von einer sozialen Revolution träumt, wenn schon kleine Regelverstöße gegen staatliche Übergriffe kaum gedacht werden können.


Die emanzipatorische und antiautoritäre Linke ist in dieser Gesellschaft im Moment eine schwache Strömung am Rande der Marginalität. Krisenmomente in einer Gesellschaft sind Chancen, die eigenen Ideale und Visionen sowie die eigenen Lösungsansätze im Wettbewerb mit der Konkurrenz zu bewähren und zu verbreiten. Wenn es eine autonome Linke vorzieht, sich ohne sichtbaren Widerspruch einer autoritären Staatsräson zu beugen, statt eigenständige, kreative und emanzipatorische Lösungen zu erarbeiten und zu praktizieren, dann darf sie weiter in den virtuellen Debattierzirkeln dem eigenen Untergang entgegenstreben – sie hat für die Menschen und die Gesellschaft keine sinnvolle Bedeutung oder Funktion mehr.

Kommentare
18.11.2020 / 21:44 Attac-Magazin, radio flora, Hannover
Danke!
Gut, dass ihr das klar und deutlich gesagt habt! Gesendet am 17.11.