100 milliarden für den klimaschutz!

ID 115740
 
AnhörenDownload
interview mit bruno kern von http://oekosozialismus.net/
anmod.:
bundeskanzler scholz hat eine 100 milliarden extra sofort hilfe für die bundeswehr angekündigt. zum vergleich: der jahres"verteidigungs"haushalt deutschlands liegt zur zeit bei 52 milliarden, der von rußland bei 62.
ist dieses geld nötig für die friedenssicherung? oder ist die klimakrise ein noch drängenderes problem?
Audio
14:29 min, 20 MB, mp3
mp3, 193 kbit/s, Stereo (44100 kHz)
Upload vom 24.05.2022 / 11:58

Dateizugriffe: 889

Klassifizierung

Beitragsart: Interview
Sprache: deutsch
Redaktionsbereich: Politik/Info
Entstehung

AutorInnen: aktuell
Radio: RadioBlau, Leipzig im www
Produktionsdatum: 24.05.2022
CC BY-NC-SA
Creative Commons BY-NC-SA
Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen erwünscht
Skript
Klimaschutz heißt Pazifismus heißt Klimaschutz
Bruno Kern
Das Militär – der größte Klimasünder?
Krieg und Militär seien, so kann man es immer wieder vor allem von friedenspolitischen
Organisationen hören, die größten Verursacher von Treibhausgasen und Umweltzerstörung. Insinuiert
wird mit solchen populistischen Slogans natürlich, dass allein Abrüstung und Entmilitarisierung
zugleich auch das größte derzeitige Menschheitsrisiko, die Klimakatastrophe, beseitigen könnten.
Indirekt wird damit kleingeredet, vor welch tiefgreifender gesellschaftlicher Transformation wir
stehen und wie sehr alle unsere Lebensbereiche davon betroffen sein werden. Wie so oft, sind auch
hier die Zusammenhänge nicht so schlicht, wie man es gern hätte.
Welchen direkten Einfluss haben Rüstung, Militär und Krieg tatsächlich auf das Klima? Das genau zu
beziffern ist kaum möglich: Die internationalen Klimakonventionen klammern diesen Bereich völlig
aus, sehen weder Emissionsziele noch Berichtspflichten hierfür vor. Dasselbe gilt für nationale
Klimaschutzberichte. Die energieintensive Produktion der Rüstungsfirmen unterliegt keiner
umfassenden Rechenschaftspflicht. Dennoch lassen sich aus den vorliegenden Teilstudien seriöse
Schätzungen ableiten. Der derzeitige UN-Generalsekretär António Guterres hat immer wieder
öffentlich geäußert, dass Rüstung und Militär für etwa 5 bis 6 % der Treibhausgase weltweit
verantwortlich seien. Legt man das zugrunde, worüber uns Einzeluntersuchungen Aufschluss geben,
dann dürfte er mit dieser Einschätzung einigermaßen richtig liegen.
Neta Crawford von der Boston University errechnet, dass allein die Einsätze des US-Militärs im Jahr
2017 59 Mio. t CO 2 verursachten. Rechnet man die Emissionen der Rüstungsindustrie dazu, so kommt
man für den Zeitraum 2011 bis 2017 auf einen Durchschnittswert von 153 Mio. t im Jahr. (Zum
Vergleich: Deutschland emittiert im Jahr etwa 800 Mio. t CO 2 ). 1 Stuart Parkinson von der US-
amerikanischen Organisation Scientists for Global Responsibility (SGR) hingegen beziffert die CO 2 -
Emissionen des US-Militärs aufgrund akribischer Recherchen auf 250 Mio t (hier sind die etwa 800
Militärbasen, die die USA weltweit unterhalten, einbezogen), die Großbritanniens auf immerhin noch
11 Mio. t. 2
Ist dies in Bezug auf die Klimakatastrophe nun eine eher zu vernachlässigende Größenordnung?
Keineswegs! Vor dem Hintergrund der verzweifelten Lage, in der wir uns inzwischen befinden,
können wir uns dieses Ausmaß an Energie- und Ressourcenverschwendung nicht mehr leisten. Die
letzten IPCC-Berichte machen uns darauf aufmerksam: Die Einhaltung der 1,5-Grad-Grenze
bezüglich der durchschnittlichen Erderwärmung wäre nur möglich, wenn wir bereits in diesem
Jahrzehnt und dann auch in den darauf folgenden Dekaden den CO 2 -Ausstoß weltweit halbieren und
zusätzlich Kohlendioxid mittels bislang kaum erprobter Techniken aus der Atmosphäre holen.
Reduktionen in diesem Ausmaß würden nur durch einen konsequenten, drastischen industriellen
Rückbau in den reichen Ländern gelingen. Damit stehen eben nicht zuletzt Rüstung und militärische
Infrastruktur zur Disposition.
Dazu kommt: Die immensen Rüstungsausgaben stehen natürlich in Konkurrenz zu den finanziellen
Anstrengungen für den Aufbau der Infrastruktur einer dekarbonisierten Wirtschaft, für die soziale
Abfederung der Transformation und für die Abmilderung von Folgen der Klimakatastrophe. Das
renommierte Stockholmer Institut SIPRI hat die weltweiten Rüstungsausgaben im Jahr 2019 auf
1
2
1
Andres, Jaqueline, Krieg und Klima. IMI-Analyse 2020/34: www.imi-online.de/2020/07/21/krieg-und-klima/
https://umwelt-militaer.org/militaer-kli... (aufgerufen am 7. 4. 2022).knapp 2 Billionen US-Dollar beziffert. 3 Die Tatsache, dass man in Deutschland im Gegenzug zu den
absurden Aufrüstungsplänen, die zudem im Grundgesetz verankert werden sollen, den
Entwicklungshilfeetat deutlich gekürzt hat, spricht wohl für sich.
Sicherheitsrisiko Klimakatastrophe
Ausgerechnet hochrangige Militärstrategen scheinen ein besonders geschärftes Bewusstsein dafür zu
haben, welch hohes Sicherheitsrisiko die Klimakatastrophe darstellt. So bezeichnete der ehemalige
US-Verteidigungsminister Chuck Hagel bereits im Jahr 2014 die Klimakatastrophe als
„‚Bedrohungsmultiplikator‘ [...], weil er das Potenzial hat, viele der Herausforderungen, mit denen wir
bereits heute konfrontiert sind – von Infektionskrankheiten bis hin zu bewaffneten Aufständen – zu
verschärfen ...“ 4 Inzwischen kann diese Aussage jeder einigermaßen aufmerksame Zeitungleser
nachvollziehen. Der Konflikt im Südsudan galt vielen als der „erste Klimakrieg“, und der grausame
Bürgerkrieg in Syrien begann bekanntermaßen im Jahr 2011 mit zunächst friedlichen Protesten
angesichts einer klimabedingten Dürre. Michael T. Klare, der weltweit renommierteste Analytiker des
US-Militärs, verweist auf das erhebliche Risiko bevorstehender Kriege um die Ressource Wasser
(etwa zwischen den Anrainern des Flusses Brahmaputra, unter anderem Indien und China), auf die
Klimakatastrophe als Fluchtursache und auf die Gefahr, dass im Zuge von massiven
Umweltkatastrophen vermehrt „ungoverned spaces“, Regionen außerhalb jeder Regierungskontrolle,
entstehen könnten, die ebenfalls ein erhebliches Sicherheitsrisiko darstellen. Ebenso macht er aber
darauf aufmerksam, dass im Pentagon hochrangige Militärs die Aufgabe der Landesverteidigung
angesichts der zu erwartenden Katastrophenszenarien für zunehmend unmöglich erachten. 5
Für einiges Aufsehen sorgte der bereits im Jahr 2004 veröffentlichte Yoda-Report, der die damalige
Bush-Regierung (die den Klimawandel in Abrede stellte) in Verlegenheit brachte. Diese von Andrew
Marshall (Spitzname „Yoda“ aufgrund seiner Beteiligung am Star-Wars-Programm) und Peter
Schwarz für den Pentagon erstellte Studie bezeichnet die Klimakrise als größte Bedrohung der
Sicherheit und entwirft ein apokalyptisch anmutendes Szenario, das aus heutiger Sicht als nur allzu
realistisch erscheint. Unter dem Druck zusammenbrechender Nahrungsketten könnten, so die Studie,
Länder mit labilen Regierungen wie Pakistan oder Russland versucht sein, im Kampf um Nahrung und
Rohstoffe ihre Nuklearwaffen einzusetzen. Die Welt könnte innerhalb weniger Dekaden in Anarchie
versinken. 6
Eine konsequente, radikale Klimapolitik ist angesichts solcher Szenarien die beste Friedenpolitik.
Umgekehrt gilt aber auch: Die große Gefahr, dass Klimaveränderungen zu bewaffneten Konflikten bis
hin zur nuklearen Eskalation führen können, macht präventive Abrüstung zum Gebot der Stunde.
Der Kampf um schwindende Ressourcen
3
Vgl. dazu Anm. 1.
Anm. 2.
5
How the Pentagon Thinks About the Climate Crisis. Professor and author Michael T. Klare explores how the
U.S. Military is preparing for climate change in his new book „All Hell Breaking Loose“, in: Rolling Stone,
September
2019:
www.rollingstone.com/politics/politics-features/how-the-pentagon-thinks-about-the-
climate-crisis-887832/ (aufgerufen am 7. 4. 2022).
6
Spiegel online, 22. Februar 2004: www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,287518,00.html
4
2Wir befinden uns in einer Zangengriffkrise: Zur abnehmenden Tragfähigkeit unserer Ökosysteme und
zur kaum mehr aufzuhaltenden Erderwärmung gesellt sich der rapide Schwund nicht erneuerbarer
Ressourcen, allen voran fossiler Energien. Diese Ressourcenklemme behindert gleichzeitig den
Ausbau einer Infrastruktur erneuerbarer Energien, der ja seinerseits zunächst auf einen erheblichen
Energie-Input angewiesen ist. Wiederum sind es Militärs, die das große Sicherheitsrisiko erkannt
haben, wenn wir, anstatt den industriellen Rückbau gezielt einzuleiten und solidarisch zu gestalten,
den wahrscheinlichen Zusammenbruch der Ökonomie in Kauf nehmen. So heißt es etwa in einer
sicherheitspolitischen Studie der Bundeswehr aus dem Jahr 2010:
„Der Peak Oil kann dramatische Konsequenzen für die Weltwirtschaft haben. Das Ausmaß dieser
Konsequenzen wird sich – nicht nur, aber eben auch – durch einen Rückgang des Wachstums der
Weltwirtschaft messen lassen. [...] Ein ökonomischer Tipping Point besteht dort, wo – zum Beispiel
infolge des Peaks – die Weltwirtschaft auf unbestimmte Zeit schrumpft. In diesem Fall wäre eine
Kettenreaktion die Folge, die das Wirtschaftssystem destabilisiert. [...] Mittelfristig bricht das globale
Wirtschaftssystem und jede marktwirtschaftlich organisierte Volkswirtschaft zusammen [...] Eine auf
unbestimmte Zeit schrumpfende Wirtschaftsleistung stellt einen höchst instabilen Zustand dar, der
unumgänglich in einem Systemkollaps endet. Die Sicherheitsrisiken einer solchen Entwicklung sind
nicht abzuschätzen ... 7
Die Konkurrenz um die schwindenden fossilen Ressourcen ist spätestens seit Beginn unseres
Jahrhunderts eine treibende Kraft der Geopolitik. Der nach dem damaligen US-Vizepräsidenten so
genannte Cheney-Report vom Mai 2001 8 dokumentiert, dass der Zugang zu den weltweiten Ölquellen
ein integraler Bestandteil der US-Militärstrategie und Außenpolitik ist. Dabei wird das Streben nach
Versorgungssicherheit immer konfliktträchtiger. Die Interessen der Großverbraucher (EU, China,
Indien, Japan, USA) treffen vor allem in Zentralasien und am kaspischen Meer zusammen. Für die EU
und insbesondere Deutschland sind überdies die russischen Gasreserven von Bedeutung, die allerdings
ihr Fördermaximum bereits überschritten haben dürften.
Auch die NATO hat spätestens mit ihrer neuen Doktrin anlässlich ihres fünfzigjährigen Bestehens ihr
Verständnis von „Verteidigung“ im konventionellen Sinn hintangestellt und sich zu einem Instrument
der militärischen Durchsetzung ökonomischer Interessen, näherhin der Sicherung von Handelswegen
und des Zugangs zu Rohstoffen, entwickelt. Insbesondere die USA drängten auf die strategische
Orientierung auf mögliche Krisen in der Golfregion und in der Straße von Taiwan. Mit der
Selbstmandatierung der NATO für Einsätze außerhalb ihres Bündnisgebietes hat sich das Bündnis von
völkerrechtlichen Vorgaben verabschiedet. 9 Die Orientierung hin auf die militärische Absicherung
ökonomischer, Handels- und Rohstoffinteressen wurde seither regelmäßig in den „Strategischen
Konzepten“ bis hin zum jüngsten aus dem Jahr 2010 bestätigt: Darin heißt es etwa: „Alle Länder
sind zunehmend auf die lebenswichtigen Kommunikations-, Transport- und Transitwege angewiesen,
auf die sich der Welthandel, die Energiesicherheit und der Wohlstand stützen. [...] Einige NATO-
Staaten werden, was ihren Energiebedarf angeht, immer stärker von ausländischen Energieversorgern
und in einigen Fällen von ausländischen Energieversorgungs- und Verteilernetzen abhängig. Da ein
7
Zentrum für Transformation der Bundeswehr, Peak Oil – Sicherheitspolitische Implikationen knapper
Ressourcen, Hamburg 210, 47–50.
8
Vgl. dazu vor allem Zumach, Andreas, Die kommenden Kriege. Ressourcen, Menschenrechte, Machtgewinn –
2
Präventivkrieg als Dauerzustand?, Köln 2005, 100–113.
9
Andreas Buro, Die NATO – ein Instrument zur Absicherung wirtschaftlicher Expansion:
https://www.friedenskooperative.de/fried...
absicherung?fbclid=IwAR02USvV8qiBnG7nF7avuPrCsOgYYHn1zWaOvnxkshUbhft2Lw_vAmTv3cQ#block-
nodeblock-16956 (aufgerufen am 7. 4. 2022).
.
3immer größerer Teil des weltweiten Verbrauchs rund um den Globus transportiert wird, ist die
Energieversorgung immer störungsanfälliger.“ Deshalb, so die Konsequenz, müsse die NATO „die
Fähigkeit entwickeln, zur Energiesicherheit beizutragen, auch durch den Schutz kritischer
Energieinfrastruktur und von Transitgebieten und -routen“. 10 Es sei daran erinnert, dass sich seinerzeit
Bundespräsident Horst Köhler aufgrund heftiger öffentlicher Kritik zum Rücktritt veranlasst sah: Er
hatte schlicht das ausgesprochen und als „selbstverständlich“ affirmiert, was jeder nachlesen konnte:
dass sich die NATO als militärisches Bündnis der Sicherung der Grundlagen unseres „Wohlstands“
versteht.
Auch die EU bereitet sich seit Langem schon auf Kriege um Ressourcen vor. Bereits im Jahr 2004
hat das ISS (Institute for Security Studies) im Auftrag des EU-Rates ein Strategiepapier, das European
Defense Paper, vorgelegt, das konkrete militärische Planspiele zur Rohstoffsicherung enthält. Der
„Stabilitätsexport zum Schutz der Handelswege und des freien Flusses von Rohstoffen“ wird darin als
ein „vitales Interesse“ der EU und als eines der wichtigsten Ziele von Militärinterventionen definiert.
Die EU, so die Verfasser des Papiers, müsse „Regionalkriege zur Verteidigung europäischer
Interessen“ führen. „Humanitäre Interventionen“ seien auf bis zu 5000 km um die Hauptstadt Brüssel
zu beschränken. Allerdings: Innerhalb dieses Radius befinden sich sämtliche Ölstaaten des Nahen und
Mittleren Ostens sowie die Öl- und Gasfelder am Kaspischen Meer. 11
Bestätigt wurde dieser Kurs in jüngerer Zeit auf einer Konferenz des ISS zusammen mit dem
Europäischen Auswärtigen Dienst (EAD) im Dezember 2021. Der Klimawandel wurde hier unter
anderem unter dem Gesichtspunkt des Zugangs zu Ressourcen debattiert. Bereits 2019 erörterten die
EU-Verteidigungsminister den „geostrategischen Wettbewerb um Ressourcen und Seewege“ in einer
künftig vom Eis befreiten Arktis. 12
Ein neuer (Öko-)Imperialismus?
Der schwierige Transformationsprozess hin zu einer Ökonomie auf der Basis erneuerbarer Energien
verschärft allerdings die Kriegsgefahr aufgrund der Konkurrenz um Rohstoffe erheblich. Die
Umstellung auf CO 2 -freie Verfahren und der Ausbau erneuerbarer Energien ist nicht zuletzt mit einem
Bedarf an knappen Rohstoffen verbunden: Neodym (für die Generatoren von Windrädern), Grafit,
Kobalt und Lithium für Batterien ... Bereits jetzt spielt das Militär in vielen Regionen der Welt eine
wichtige Rolle zur Absicherung von Bergbau- und anderen Infrastrukturprojekten, wenn diese auf den
Widerstand der lokalen Bevölkerung stoßen. Gerade der Rohstoffbedarf für eine dekarbonisierte
Ökonomie könnte diese Tendenz noch verstärken, wenn etwa die Lithium-Gewinnung lokal zu
akutem Wassermangel führt. Es eröffnet sich damit aber auch ein neues Feld der Konkurrenz der
Großverbraucher. Dass China sich einen großen Teil der Lizenzen für den sehr knappen, aber künftig
essenziellen Rohstoff Lithium gesichert hat, ist inzwischen bekannt.
„Grüner Wasserstoff“ könnte in naher Zukunft ein zentrales internationales Konfliktfeld eröffnen.
Will man die Ökonomie der reichen Industrieländer auf gegebenem Niveau dekarbonisieren, so sind
dafür riesige Mengen von grünem, also mittels Elektrolyse aus Wasser erzeugtem Wasserstoff und
hierfür wiederum entsprechende Mengen an Strom aus erneuerbaren Quellen erforderlich. Die
Umstellung etwa der deutschen Stahlproduktion, das heißt die Ersetzung des Reduktionsmittels Koks
durch Wasserstoff, würde einen Mehrbedarf von 130 TWh bedingen, die Umstellung der
10
www.ag-friedensforschung.de/themen/NATO/strat/strat-konzept-2010.html (aufgerufen am 7. 7. 2022).
Zumach, Die kommenden Kriege, aaO., 132–138.
12
www.german-foreign-policy.com/news/detail/8818/ (aufgerufen am 7. 4. 2022).
11
4Chemieindustrie würde 685 TWh zusätzlichen Strom erfordern, also deutlich mehr als die gesamte
heutige Stromproduktion ... 13 Sowohl die EU-Wasserstoffstrategie als auch die entsprechende
deutsche sehen deshalb Importe in großen Mengen vor. Neben Saudiarabien, Russland, der Ukraine,
Chile, Island und Australien spielen hierfür vor allem Marokko sowie ganz Westafrika aufgrund
seiner großen Potenziale von Sonne- und Windenergie eine große Rolle. Das inzwischen gescheiterte
Desertec-Projekt in der Sahara, ein Parabolrinnenkraftwerk, das mit einem kaum vorstellbaren
Materialinput lediglich 15 % des Strombedarfs der EU decken sollte, lässt erahnen, dass die
entsprechenden Potenziale wahrscheinlich deutlich überschätzt werden. Dazu kommt, dass der
Effizienzgrad je nach Nutzung sehr niedrig ist. Von der ursprünglich eingesetzten Energie bleiben
nach Verflüssigung, Transport und den Umwandlungsprozessen in Elektrizität und zum Beispiel in
kinetische Energie weniger als 20 % des ursprünglichen Energieinputs übrig. 14 Vor allem aber braucht
man für die Erzeugung von grünem Wasserstoff nicht nur entsprechend viel Energie aus erneuerbaren
Quellen, sondern große Mengen an Süßwasser (die Entsalzung von Meerwasser würde ja die
Energiebilanz zusätzlich verschlechtern), das gerade in den afrikanischen Ländern, die über viel
Sonne und Wind verfügen, ein sehr knappes Gut ist! Marokko und die westafrikanischen Gebiete
südlich der Sahara leiden unter einer mehr als dreißig Jahre anhaltenden Trockenperiode. Wasser ist
vor allem in Form einer fossilen Ressource als Grundwasser verfügbar. Die entsprechende Nutzung
für die Wasserstofferzeugung steht in direkter Konkurrenz zum Wasserbedarf für Landwirtschaft und
Begrünung. Die Ressourcen, auf die die Verbraucher hier zugreifen wollen, um ihr Niveau an
Industrialisierung aufrechtzuerhalten, sind also so knapp, dass harte Konkurrenzkämpfe zu befürchten
sind, die in kriegerische Auseinandersetzungen münden könnten. Der starke Einfluss Chinas auf dem
afrikanischen Kontinent, aber auch die Verwurzelung Frankreichs in Westafrika aufgrund seiner
kolonialen Vergangenheit bergen ein erhebliches Konfliktpotenzial.
Soziale Verteidigung als Alternative
Das Völkerrecht anerkennt das Recht auf militärische Verteidigung bei einem Angriffskrieg. Jenseits
dieser juristischen Ebene aber ist die Frage nach Rationalität und ethischer Verantwortbarkeit einer
solchen militärischen Verteidigung zu stellen. Angesichts des heutigen Potenzials an Destruktivkraft
auch bereits unterhalb der Schwelle von Massenvernichtungswaffen und der zu erwartenden Opfer an
Menschenleben und angesichts der Gefahr einer atomaren Eskalation ist auch militärische
„Verteidigung“ keine sinnvolle und verantwortbare Option mehr. Die Alternative ist aber keineswegs
Wehrlosigkeit. Die Friedensforschung hat bereits in den Fünfzigerjahren das Konzept der Sozialen
Verteidigung entwickelt. Es geht davon aus, dass ein Aggressor nicht einfach ein Territorium besetzen
will, sondern danach vor allem die Bevölkerung eines Landes kontrollieren muss. Genau hier eröffnen
sich zahlreiche Möglichkeiten der Nichtkooperation mit dem Aggressor, der Verweigerung, des
zivilen Ungehorsams, von Generalstreiks, etc., die letztlich die gewaltsame Besetzung eines Landes
für den Aggressor unattraktiv machen. Es gibt zahlreiche historische Beispiele für den Erfolg dieser
gewaltfreien Strategie. Natürlich ist sie mit keiner Erfolgsgarantie verbunden, aber das ist die hoch
riskante militärische „Verteidigung“ schließlich auch nicht. Angesichts des hohen Blutzolls und
angesichts der Gefahr einer atomaren Vernichtung erweist sich jede militärische Antwort als „ultima
irratio“. Wer sich in die militärische Logik hineinbegibt, kommt letztlich in ihr um. Wer auf dem
13
Roadmap Chemie 2050. Auf dem Weg zu einer treibhausgasneutralen chemischen Industrie in Deutschland.
Eine Studie von DECHEMA und FutureCamp für den VCI, September 2019.
14
Vgl. dazu Bruno Kern, Das Märchen vom grünen Wachstum. Plädoyer für eine solidarische und nachhaltige
Gesellschaft, Zürich 2 2020, 75. 81.
5Recht auf militärische Vereidigung beharrt, wird konsequenterweise auch weitere Aufrüstung
akzeptieren müssen. Die einzig legitime militärische Intervention ist heute die militärische Sicherung
von Fluchtkorridoren bei einem drohenden Genozid durch direkt der UNO unterstellte Truppen (also
nicht wie bisher durch nationale Kontingente). Auch wer für eine militärische Antwort auf einen
Aggressor plädiert, affirmiert damit letztlich das Recht des Stärkeren. Die Menschheit ist um ihres
Überlebens willen darauf angewiesen, diese Logik hinter sich zu lassen. 15
Unmittelbare politische Konsequenzen
►Voraussetzung für die Friedenssicherung ist eine konsequente Klimapolitik, die vor allem auf
Suffizienz setzt und die den unausweichlichen industriellen Rückbau solidarisch und geplant gestaltet,
anstatt einen Zusammenbruch der Ökonomie zu riskieren.
►Vor allem mit Ländern, die zu einem großen Teil vom Export fossiler Energien abhängig sind, sind
– bilateral oder im Rahmen internationaler Vereinbarungen – Energiepartnerschaften auszuhandeln,
die eine planvolle Reduktion und eine Umstellung auf erneuerbare Energien ermöglichen und damit
Instabilitäten vorbeugen.
►Die Bundesrepublik muss die NATO, deren Zweck es nach eigenem ausdrücklichen
Selbstverständnis ist, geopolitische Interessen militärisch durchzusetzen, verlassen und außenpolitisch
auf deren Auflösung und Ersetzung durch andere kollektive Sicherheitssysteme hinwirken.
►Die Rüstungsproduktion ist vollständig einzustellen. Es ist an Absurdität kaum zu überbieten, sich
mit einem erheblichen Ressourcenaufwand auf Kriege um knapper werdende Ressourcen
vorzubereiten. Der Gesetzgeber hat es in der Hand, durch ein ausnahmsloses Exportverbot und die
Einstellung der eigenen Beschaffung die Rüstungsproduktion zu beenden. Nach Möglichkeit sind
Konversionskonzepte zu erarbeiten.
►Anzustreben ist eine Bundesrepublik ohne Armee, da im Zeitalter von Massenvernichtungswaffen
militärische Verteidigung keine sinnvolle und verantwortbare Option mehr ist. Die frei werdenden
menschlichen, technischen, materiellen und finanziellen Ressourcen werden dringend benötigt, um die
ökologische Krise und deren Folgen zu bewältigen.
►Für die Erreichung dieser Ziele ist ein Zusammenschluss des pazifistischen Teils der
Friedensbewegung mit dem radikalisierten, nicht bloß auf technische Lösungen fixierten Teil der
Klimagerechtigkeitsbewegung nötig. Möglichst zu gewinnen sind progressive Teile der
Zivilgesellschaft, progressive Teile von Kirchen und ArbeitnehmerInnenorganisationen, etc.
Mainz, 7. April 2022,
Bruno Kern (Mitglied der Initiative Ökosozialismus: www. oekosozialismus.net)
ViSdPG: Bruno Kern, Mainz
15
Mit anderen Waffen. Die Pazifistin Christine Schweitzer ruft die Ukraine zu sozialer statt militärischer
Verteidigung auf. Warum dies weder naiv noch ignorant ist: www.nd-aktuell.de/artikel/1162475.gewaltfreier-
widerstand-im-ukraine-krieg-mit-anderen-
waffen.html?fbclid=IwAR3RdjpHjU6I3ApVERy564v2YSGP2tCsdBbrzAVWOmjdPXw41iFGPaAfeow (aufgerufen
am 7. 4. 2022).